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Walther von der Vogelweide im „Codex Manesse“ (Uni Heidelberg gemeinfrei).
Auszug aus: Wolfram-Studien XXVI

Das hätte Walther so nie gesagt?

ESV-Redaktion Philologie
17.08.2020
Walther von der Vogelweide ist einer der bedeutendsten und berühmtesten Lyriker des deutschsprachigen Mittelalters. Schon zu Lebzeiten war er ein gefragter Mann, der vielfach an mittelalterlichen Höfen engagiert wurde und auftrat. Er schrieb Liebeslieder und politische Lyrik, seine Texte sind in zahlreichen Sammelhandschriften überliefert worden. Und dennoch ist die Frage nach dem „realen Autor” kaum zu beantworten, existieren doch nur verschiedene Bilder und Fiktionen über seine Person.
Lesen Sie hier einen Ausschnitt aus einem Vortrag von Jan-Dirk Müller über Walther von der Vogelweide, den er 2018 anlässlich des Düsseldorfer Kolloquiums zu Walther von Vogelweide gehalten hat:

Wenn überhaupt noch der Name eines Lyrikers  aus dem Mittelalter im kulturellen Gedächtnis der Gegenwart präsent  ist, dann ist es der Walthers von der Vogelweide. Sogar manche seiner Verse sind noch unmittelbar anrührend: Owê, war sint verswunden alliu mîniu jâr! / ist mîn leben mir getroumet, oder ist es wâr? (L 124,1), das ,Lindenlied‘ (Under der linden / an der heide, / dâ  unser zweier bette was, L 39,11), vielleicht Herzeliebez vrowelîn (L 49,25) oder  vor einigen Jahrzehnten das ,Preislied‘ Ir sult sprechen willekomen (L 56,14), das mit seiner Rühmung deutscher  Männer und Frauen als erstes Deutschlandlied vor Hoffmann von Fallersleben  bezeichnet wurde. Präsent ist das Bild des über die Zeitläufe nachsinnenden Dichters (Ich saz ûf einem steine, L 8,4), das mit anderen Bildern aus dem Codex Manesse noch vor wenigen Jahren zum Standard-Bildschmuck der deutschen Diele gehörte. Präsent ist das Tandaradei aus dem ,Lindenlied‘ (...).

Grund für Debatten

Dabei ist Walthers Œuvre alles andere als gesichert – das ist der Grund, warum sich immer wieder Fachleute versammeln, um darüber zu streiten. Es gibt für mittelalterliche Dichter keine Erstausgabe; es gibt keine autorisierte Ausgabe letzter Hand; die Lieder waren für den Vortrag bestimmt und konnten für jeden Vortrag variiert werden. Entsprechend vielfältig ist ihre Textgestalt. Greifbar ist sie nur in einer Jahrzehnte nach Walthers Tod einsetzenden handschriftlichen Überlieferung, die in Strophenbestand und Wortlaut teils erheblich divergent ist, wobei man nicht sagen kann, was auf Walther zurückgeht, was auf unterschiedliche Vortragssituationen durch Walther oder einen anderen, was Verderbtheit der Überlieferung ist. Manche Strophen, die in einer Handschrift unter Walthers Namen firmieren, stehen in einer anderen unter einem anderen Namen; einige Verse – z. B. die griffigen Formulierungen über wîp und frouwe – lösten sich ganz von ihrem Autor und gehen anonymisiert in die kollektive Spruchdichtung des Spätmittelalters ein.

Dabei war Walther schon bei Zeitgenossen ein berühmter Dichter. Seine Strophen wurden gesammelt. Thomasin von Zerklære, Verfasser einer didaktischen Dichtung ,Der Welsche Gast‘, schreibt seiner politischen Spruchdichtung große Wirkung zu. In Dichterkatalogen wie dem Gottfrieds von Straßburg wird er an der Spitze der Minnesänger genannt. Hugo von Trimberg reimte um 1300 in seinem ,Renner‘ in der Übersicht über die guten alten Dichter: 

Her Walther von der
Vogelweide: Swer des
vergêze der tête mir
leide: Alein er wêre niht
rîch des guotes,
Doch was er rîch sinniges muotes.
(Hugo von Trimbrg, Der Renner, V. 1187–1190),

und diesen Ruf behält Walther im späten Mittelalter. Er ist einer der zwölf alten Meister der Dichtkunst, auf die sich noch der Meistersang beruft.

Die Frage nach dem Autor

Es müssen schon früh, vor der Entstehung der großen Sammelhandschriften, Kanonisierungsprozesse eingesetzt haben, gezielte Sammlungen von Liedern und Sprüchen, anfangs möglicherweise mündlich, später vielleicht in Liederbüchern zusammengefasst. Aber erst die großen Handschriften, die Jahrzehnte nach Walthers Tod entstanden, zuerst die Kleine Heidelberger Liederhandschrift (A), dann die Weingartner (B), die Große Heidelberger (Manessische) Handschrift (C) und das Hausbuch des Michael de Leone (E), sind nach Autorencorpora geordnet. Was an Minnesang- und Sangspruch-Überlieferung vorher und lange noch gleichzeitig greifbar ist, ist an einzelnen Themen, nicht aber am Verfasser interessiert, obwohl man manchmal offenbar den Namen kannte. Die Frage nach dem Autor, die hinter dem Titel meines Vortrags steht, ist noch für die Zeit nach Walthers Tod keine vordringliche; es geht um eine kollektive literarische Praxis, den Minnesang, zu dem u. a. auch Walther beitrug; für diese Praxis war es ohne Belang, wenn sich ein Lied an einen falschen Namen heftete, manchmal vielleicht an den Namen eines Vortragenden, der ein Lied eines anderen in seinem Repertoire hatte.

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Gegen Ende des 13. Jahrhunderts ändert sich das. Aber auch dann geht es nicht um den individuellen Verfasser. Man will Namen und Werk der berühmtesten Träger des Minnesangs festhalten. Eine typische Erscheinungsform dieses rudimentär literaturgeschichtlichen Interesses ist der Dichterkatalog, der eine blühende literarische Praxis bezeugt, für die eine Reihe illustrer  Namen steht. Erst der Eintrag der Grabschrift Walthers ins Hausbuch des Michael de Leone spiegelt eindeutig ein Interesse an der empirischen Person.Die Kanonisierungsprozesse führten nicht zu deckungsgleichen Ergebnissen, weder was den Wortlaut einer Strophe betrifft, noch Strophenzahl und Strophenfolge noch Zuweisung an einen bestimmten Autor; hinzukommt Textverderbnis im Überlieferungsprozess. Anstelle des Autors und seines Œuvres liefern uns die Sammelhandschriften, wie die neuere Forschung sagt, Autorkonkretisationen, d. h. das, was der Verfasser einer Handschrift (oder einer seiner Vorgänger) als Bild eines Autors bei seiner Auswahl von Liedern und Sprüchen zugrunde  legte. Das unterscheidet sich z. T. erheblich in den einzelnen Handschriften. Diese Autorkonkretisationen sind weder eindeutig und scharf umrissen (indem z. B. beim Sammeln neues Material hinzukam), noch sind sie in der gesamten Überlieferung gleich. Der Autor Walther von der Vogelweide bildet sich gewissermaßen erst in der Rezeption aus.

Vom Autorenprofil zur New Philology

Man hat erst begonnen, solche Autorkonkretisationen anstelle des Autors zu untersuchen. Natürlich wird man fragen müssen, ob sich denn nicht ein Gemeinsames hinter verschiedenen Konkretisationen abzeichnet und worin es besteht. Schließlich müssen ja verschiedene Strophen unter Walthers Namen umgelaufen sein, die unterschiedliche Konkretisationen allererst erlaubten. Trotzdem ist dieses Gemeinsame unterschieden von jener Autorpersönlichkeit, als die man Walther seit dem 19. Jahrhundert zu erfassen suchte. Diese unterstellt ein neuzeitliches Konzept von Autorschaft. Man sah die einzelnen Handschriften als – vielleicht verderbte oder jedenfalls unvollkommene – Bruchstücke eines geschlossenen Œuvres an, das auf die Autorpersönlichkeit Walther zurückgeht und  diese spiegelt. So konnte man Abweichungen in den Handschriften beseitigen (,das klingt mehr, das klingt weniger nach Walther‘), Unstimmigkeiten ausgleichen (,Walther hätte nie so gesagt, sondern . . .‘), Unechtes ausscheiden (,das passt nicht zu Walther‘) und so ein Autorprofil erstellen, das sein Pendant in einem von angeblichen Verderbtheiten gereinigten Werk  hat. Der Konnex zwischen Autor und Werk wurde anfangs noch verstärkt, indem man bestimmte Teile dieses Werks bestimmten Lebensphasen des Verfassers zuordnete, das Werk also als Quelle der Biographie benutzte. Auch noch nachdem der Versuch einer biographischen Unterfütterung der Werkgeschichte als haltlose Spekulation aufgegeben wurde, rechnete man mit einem Autorprofil, das erlaubte, Echtes von Unechtem zu scheiden, die ,richtige‘ Strophenfolge festzulegen, den authentischen Wortlaut zu erstellen. Inzwischen ist man skeptisch gegenüber solchen Rekonstruktionsversuchen; man schaffe dadurch Texte, die so nirgendwo überliefert sind. Gefördert durch Überlegungen der sog. New Philology rücken die handschriftliche Überlieferung und ihre Varianz ins Zentrum der Aufmerksamkeit; sie erhalten Vorrang vor irgendwelchen textkritischen Wiederherstellungsversuchen.
Das bedeutet Abschied von hergebrachten Autorbildern, wie sie sich mit Walther verbinden.

Wenn Sie mehr zu Walther von der Vogelweide erfahren wollen, empfehlen wir Ihnen den Band „Wolfram-Studien XXVI“, der im August 2020 im ESV erscheint.

Wolfram-Studien XXVI
Herausgegeben von Prof. Dr. Ricarda Bauschke und Dr. Veronika Hassel in Verbindung mit Prof. Dr. Franz-Josef Holznagel und Prof. Dr. Susanne Köbele


Der Band versammelt die Beiträge des 26. Kolloquiums der Wolfram von Eschenbach-Gesellschaft. Mit dem vor 850 Jahren geborenen Walther von der Vogelweide steht der größte Zeitgenosse Wolframs und der bedeutendste Lyriker des Mittelalters im Fokus. Sein umfangreiches Werk zeigt einen ungewöhnlichen Facettenreichtum aus Minnesang, Sangspruchdichtung und religiösen Liedern.
Der Sammelband trägt den verschiedenen lyrischen Genres, die Walther aktualisiert, ebenso Rechnung wie den diversen methodischen Ansätzen der mittelalterbezogenen Lyrikforschung. In allen Fällen führen die neue Sicht auf alte Texte und die kritische Revision der Forschung zu überraschenden Perspektiven, die in der Summe einem neuen Walther-Bild zuarbeiten. Die Beiträge des Bandes zeigen in exemplarischen Einzelfällen, welche neuen Wege die Beschäftigung mit Walther zu gehen hat und worin der Erkenntnisweg einer solchen Neuausrichtung liegen wird. Das Herausragende von Walthers Schaffen liegt weniger in seiner vermeintlichen Originalität als vielmehr in seiner über den deutschen Sprachraum hinausreichenden Vernetzung, die in seinem lyrischen Werk ihren Niederschlag findet.

 

(Ln/MD)

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik