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Linn: „Arbeiten am digitalen Menschenmodell für alle“ (Foto: Fraunhofer)
Nachgefragt bei: Dr.-Ing. Joachim Linn (ITWM)

„Sichere und gesunde Arbeitsplätze müssen bei der Produktentwicklung konzipiert werden“

ESV-Redaktion Arbeitsschutz
23.05.2018
Produktionsunternehmen stehen heute vor der Herausforderung, alternde Belegschaften möglichst lange gesund zu erhalten. Die ESV-Redaktion sprach mit dem Forscher Dr.-Ing.  Joachim Linn des Fraunhofer-Instituts für Techno- und Wirtschaftsmathematik, wie man Arbeitsplätze in der Montage und Fertigung ergonomisch sinnvoll gestalten kann.
Sie forschen daran, körperlich belastende Tätigkeiten möglichst ergonomisch zu gestalten. Was genau ist das Projekt EMMA-CC?

Joachim Linn: Im MAVO-Projekt „Ergo-dynamic Moving Manikin with Cognitve Control“ (EMMA-CC) entwickeln sechs Fraunhofer-Institute innovative Ansätze zur digitalen Menschmodellierung. Insbesondere geht es um die Modellierung und Simulation von Bewegungsabläufen bei Arbeitstätigkeiten.

Die von uns entwickelten Methoden und Algorithmen dienen dazu, dynamische Bewegungen von Arbeitenden in der Produktion besser als bisher ergonomisch zu bewerten. Wir schauen uns speziell Montagetätigkeiten in der Automobilindustrie an. Hier wollen wir dazu beitragen, dass in Zukunft bereits in einer frühen Phase der Produktentwicklung und -planung gesunde und sichere Arbeitsplätze konzipiert werden können. Denn in diesem Zeitabschnitt ist es noch möglich, die Planungen stark zu beeinflussen und bestehende Konzepte zu verbessern, ohne dass es notwendigerweise teuer wird. Solche Kosten entstehen nämlich meist erst dann, wenn Werkzeuge und Arbeitsstationen bereits als Hardware-Prototypen vorliegen und Änderungen später vorgenommen werden müssen.

Ein wichtiger Teil des Projektes waren auch Messungen im Bewegungslabor. Hier haben wir bei Tätigkeiten wie dem Heben einer Kiste oder der Montage einer Türdichtung, Bewegungsabläufe von Probanden erfasst und dabei gleichzeitig deren Muskelaktivität gemessen oder Griffkräfte ermittelt. Diese Daten setzen wir ein, um die biomechanischen Modellkomponenten unserer Simulationssoftware zu validieren und damit die Praxistauglichkeit unseres digitalen Menschmodells sicherzustellen.

Mit den in EMMA-CC entwickelten Methoden leisten wir einen Beitrag dazu, ergonomische Richtlinien für dynamische Bewegungsvorgänge zukünftig neu und besser festzulegen. Damit können wir sowohl die Planung menschlicher Arbeitstätigkeit in der Montage verbessern, als auch die ergonomische Gestaltung von Arbeitsplätzen unterstützen.

Wie kann der Transfer der Forschungsergebnisse in die betriebliche Praxis gelingen?

Joachim Linn: Viele Ergebnisse des Projektes EMMA-CC sind bereits in unserem digitalen Menschmodell IPS IMMA integriert. Das ist eine Anwendersoftware, die Ingenieure bereits jetzt produktiv für ihre Arbeit nutzen. Wir haben uns viele Gedanken gemacht, wie wir die Software so benutzerfreundlich wie möglich gestalten. Schließlich soll sie kein hochspezialisiertes Expertentool sein, sondern für alle, die etwas mit Fabrik- bzw. Produktionsplanung, Arbeitsplatzgestaltung etc. zu tun haben.

Mit anderen Softwareentwicklungen, wie z.B. IPS Cable Simulation – das ist eine Software zur Montagesimulation für Kabel und Schläuche – ist uns das schon gut gelungen. Wir haben regelmäßig Schüler aus der Oberstufe als Praktikanten. Sie lernen mit der Software in ein paar Tagen umzugehen und setzten dann bereits erstaunliche Dinge um. Von der komplexen Strukturmechanik und den schwierigen Berechnungen, die hier unter der „Motorhaube“ der Software stattfinden, bekommt der Anwender gar nichts mit.

Unser Ziel ist es, dass wir das mit unserem digitalen Menschmodell IPS IMMA genauso gut hinbekommen. Im Forschungsprojekt EMMA-CC haben wir uns einiges ausgedacht, wie der User mit der Simulationssoftware natürlich und intuitiv interagiert. Wir sind optimistisch, dass wir damit ein „digitales Menschmodell für alle“ anbieten können. Im April haben wir auf der Hannover Messe unsere Entwicklungen erstmals einem breiten Publikum präsentiert. Die Resonanz war hervorragend.

Um menschliches Verhalten ganzheitlich zu simulieren, müssen neben biomechanischen und physiologischen Prozessen auch mentale Verhaltensweisen wie Wahrnehmung und Kognition integriert werden. Wie weit ist hier die Forschung? Wird der virtuelle Mensch Realität?

Joachim Linn: Da sprechen Sie ein komplexes Thema an. Wenn wir die menschlichen Bewegungen als eine Art biomechanische Maschine im Computer simulieren, profitieren wir davon, dass wir die Modelle und die physikalischen Gesetze, nach denen das funktioniert, genau kennen. Wir schreiben dazu mathematische Gleichungen aufs Papier und wissen, wie wir so Bewegungen als Lösung dieser Gleichungen ausrechnen.

Für die Modellierung mentaler Prozesse können wir leider auf keinem vergleichbar guten Kenntnisstand der Forschung aufbauen. Die Modellierungsansätze sind von ganz anderer Art, kommen eher aus dem Bereich der Kybernetik oder der künstlichen Intelligenz, also: mehr abstrakte Informatik, weniger konkrete Physik.

Auch mit solchen Fragen beschäftigen sich Fraunhofer-Kollegen. Aber hier sind wir im Vergleich zu unseren biomechanischen Simulationen nur einen kleinen Schritt vorangekommen. Immerhin haben wir einen Ansatz gefunden, wie wir an das Thema herangehen: Uns interessiert, wie man z.B. Arbeitstätigkeiten bei der Montage als mehr oder weniger anspruchsvoll, d.h. geistig mehr oder weniger anstrengend, bewertet. Hierzu überlegen wir uns mathematische Handlungsmodelle, aus deren Zustandsgrößen man solche Informationen quantitativ ableiten könnte. Aber wie gesagt: Wir stehen noch ganz am Anfang. Und am Ende steht sicher nicht der „virtuelle Mensch“, sondern ein mathematisches Modell, mit dem man in der Planungsphase eines Arbeitsprozesses auch die geistige Beanspruchung bewerten kann. Auch hier gilt, ganz wie bei körperlicher Beanspruchung: Zu wenig ist ungesund!

Zur Person
Dr.-Ing. Joachim Linn ist stv. Abteilungsleiter Mathematische Methoden in Dynamik und Festigkeit am Fraunhofer-Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik ITWM in Kaiserslautern.


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Programmbereich: Arbeitsschutz