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Prof. Dr. Ricarda Bauschke ist ausgewiesene Spezialistin für Walther von der Vogelweide (Foto: privat).
Nachgefragt bei Prof. Dr. Ricarda Bauschke

Bauschke: „Walther ist Traditionalist und Innovator in einem“

ESV-Redaktion Philologie
21.08.2020
Wer kennt diese Verse nicht: „Under der linden / An der heide, / Dâ unser zweier bette was / ... Tandaradei“? Sie stammen aus dem Werk des berühmtesten Lyrikers des deutschsprachigen Mittelalters, Walther von der Vogelweide.
Walther ist einer der ersten Berufsdichter überhaupt, er hat ein umfangreiches Werk hinterlassen, das schon zu seinen Lebzeiten von Zeitgenossen wertgeschätzt wurde. Seit den Anfängen der Germanistik wurde ihm anhand unzähliger literaturwissenschaftlicher Beiträge und sorgfältig edierter Werkausgaben viel Aufmerksamkeit zuteil. Nun ist mit den „Wolfram-Studien XXVI“ ein aktueller Sammelband zu Walther von der Vogelweide erschienen, der neue Perspektiven auf diesen vielschichten Dichter ermöglicht.
Lesen Sie hier ein Interview mit Frau Prof. Dr. Ricarda Bauschke, einer der Herausgeberinnen des Bandes:

Liebe Frau Bauschke, Walther von der Vogelweide ist einer der bekanntesten deutschsprachigen Lyriker des Mittelalters, über den bereits viel geforscht und geschrieben wurde. Daher die Frage: warum haben Sie sich dennoch entschieden, einen weiteren Band zu Walther herauszugeben?


Bauschke: Die Walther-Forschung ist sehr kanonisiert. Prominente Lieder und Sprüche werden immer wieder Gegenstand von Vorträgen und Publikationen, während andere Texte kaum Beachtung finden. Das liegt vor allem daran, dass Walther bis heute der Status eines großen Neuerers zugeschrieben wird, der mit alten Mustern aufgeräumt habe. Das trifft zwar zu, zeigt aber nur eine Facette. Denn auch Walthers Neuentwürfe lassen sich nur im Kontext lyrischer Traditionen beschreiben, und auch in seinem Œuvre gibt es Werke, die sehr traditionell ausgerichtet sind – lyrisches Alltagsgeschäft. Das passt dann nicht so ganz zum Bild von dichterischer Innovation. Der Band nimmt darum gerade auch bisher weniger Beachtetes in den Blick.

Das Buch ist in verschiedene „Sektionen“ gegliedert. Was sind die zentralen Themenbereiche?

Bauschke: Zwei Sektionen widmen sich den beiden großen Bereichen von Walthers Schaffen: Minnesang und Spruchdichtung. Die anderen Abteilungen nehmen übergeordnete Gesichtspunkte in den Blick, etwa immer wiederkehrende Reflexionsfiguren bei Walther als Schlüssel zu einer gattungsübergreifenden Poetik oder die Frage nach Autorbildern und wie diese sich in wissenschaftlichen Editionen niederschlagen. Auch die Klang- und Formkunst erhält ein eigenes Gewicht. Besonders froh bin ich über die Sektion zu sprachübergreifenden Interferenzen; dort wird Walther in den Kontext mittellateinischer, altfranzösischer und altprovenzalischer Lyrik gestellt. Mit den anderssprachigen Referenzsystemen bestand ein dynamischer Austausch, der Walthers gesamte Lyrik geprägt hat. Noch immer gibt es hier großen Forschungsbedarf, und der vorliegende Band kann neue Richtungen für künftige Interpretationen weisen.
 
Der Band will alte und neue Perspektiven auf Walther miteinander verbinden und vor allem bislang eher unbeachtet gebliebene Texte Walthers in den Vordergrund rücken. Können Sie uns bitte einige Beispiel nennen.

Bauschke: Die Einzelstrophe Ich minne, sinne, lange zît (L 47,16) galt lange Zeit als reines Formspiel und wurde von Friedrich Maurer entschuldigend als „Kunststück“ bezeichnet. Offensichtlich galt reine Klangartistik als für Walther ‚unwürdig‘. Christoph Schanze gelingt in seinem Beitrag dagegen der Nachweis, dass Form und Inhalt in einem sprachmagischen Impetus zusammenfließen und die Strophe ein kunstvoll gestalteter ‚Liebeszauber‘ ist. Auch Stefan Seeber gelingt ein neuer Zugriff, und zwar auf den sog. ‚König-Heinrichston‘. Er durchbricht die Forschungskonvention, die Strophen auf den ungeliebten Sohn Kaiser Friedrichs II. zu projizieren, und entfaltet eine Lesart als Minnedidaxe. In beiden Entwürfen werden festgefahrene Positionen aufgebrochen, und Walther erscheint in einem anderen Licht.
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Welche neuen Erkenntnisse aus diesen vielfältigen Forschungsbeiträgen sind Ihrer Ansicht nach für die zukünftige Walther-Forschung besonders lohnenswert und sollten weiter vertieft werden?

Bauschke: Auch Walthers Lyrik ist, so innovativ sie sein mag, kontextgebunden. Trotz der unterschiedlichen Teilergebnisse zeigen nahezu alle Beiträge, dass Walthers Schaffen adäquat nur dann beschreibbar ist, wenn die dichterischen Referenzsysteme – auch über Sprachgrenzen hinweg – aufgearbeitet und für die Textinterpretation fruchtbar gemacht werden. An mehreren Beispielen führt Jan-Dirk Müller vor, wie Walther die Limitierungen lyrischen Sprechens seiner Zeit ausreizt, jede Bewegung aus dem tradierten Rahmen hinaus aber letztlich kreisend wieder in diesen zurückkehrt. Walther ist Traditionalist und Innovator in einem; spricht man ihm ersteres ab, lässt sich auch letzteres nicht mehr profilieren. In diesem Sinne soll der Band neuen Denkweisen über Walther die Tür öffnen.

Zum Abschluss eine eher persönliche Frage: was ist Ihr eigenes Lieblingslied Walthers - und warum?

Bauschke: Schon seit 40 Jahren und immer noch Under der linden. Das berühmte Lied suggeriert Einfachheit, Natürlichkeit, unmittelbares Gefühl und ist doch rhetorisch durchkomponiert und voraussetzungsreich in seinen Diskursanspielungen und Gattungsinterferenzen. Diese Artistik tritt hinter sich selbst zurück, um das Gegenteil zu behaupten: Spontaneität und Nähe – das ist die eigentlich große Kunst.

Vielen Dank für das Interview, Frau Bauschke!

Wollen auch Sie neue Perspektiven auf Walther von der Vogelweide und sein Werk erhalten, empfehlen wir Ihnen die Lektüre der „Wolfram-Studien XXVI“, herausgegeben von Ricarda Bauschke und Veronica Hassel.

Zu den Herausgeberinnen
Prof. Dr. Ricarda Bauschke hat seit 2008 den Lehrstuhl für Ältere deutsche Literatur an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf inne. In der Lyrikforschung bekannt ist sie durch ihre Monographie zur sog. Walther-Reinmar-‚Fehde‘, die Überarbeitung der Walther-Ausgabe sowie zahlreiche Aufsätze und Handbuchbeiträge.

Dr. Veronika Hassel ist seit 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Ihre Doktorarbeit mit dem Titel „Das Werk Friedrichs von Hausen. Edition und Studien“ ist 2018 im ESV erschienen.


Wolfram-Studien XXVI
Herausgegeben von Prof. Dr. Ricarda Bauschke und Dr. Veronika Hassel in Verbindung mit Prof. Dr. Franz-Josef Holznagel und Prof. Dr. Susanne Köbele

Der Band versammelt die Beiträge des 26. Kolloquiums der Wolfram von Eschenbach-Gesellschaft. Mit dem vor 850 Jahren geborenen Walther von der Vogelweide steht der größte Zeitgenosse Wolframs und der bedeutendste Lyriker des Mittelalters im Fokus. Sein umfangreiches Werk zeigt einen ungewöhnlichen Facettenreichtum aus Minnesang, Sangspruchdichtung und religiösen Liedern.
Der Sammelband trägt den verschiedenen lyrischen Genres, die Walther aktualisiert, ebenso Rechnung wie den diversen methodischen Ansätzen der mittelalterbezogenen Lyrikforschung. In allen Fällen führen die neue Sicht auf alte Texte und die kritische Revision der Forschung zu überraschenden Perspektiven, die in der Summe einem neuen Walther-Bild zuarbeiten. Die Beiträge des Bandes zeigen in exemplarischen Einzelfällen, welche neuen Wege die Beschäftigung mit Walther zu gehen hat und worin der Erkenntnisweg einer solchen Neuausrichtung liegen wird. Das Herausragende von Walthers Schaffen liegt weniger in seiner vermeintlichen Originalität als vielmehr in seiner über den deutschen Sprachraum hinausreichenden Vernetzung, die in seinem lyrischen Werk ihren Niederschlag findet.

(LS/Ln)

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik