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Unfallversicherung und Recht (Foto: Kausche)
Unfallversicherung und Recht

Das unfallversicherungsrechtliche Dogma des mindestens zweistündigen Aufenthalts an einem „Dritten Ort”

Eberhard Jung
15.12.2015
Der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung umfasst nicht nur das Geschehen am Arbeitsplatz und auf Betriebswegen, sondern auch auf den Wegen zur und von der Arbeitsstätte. Ausgangs- oder Endpunkt kann hier auch ein sogenannter "Dritter Ort" sein. Dabei bereitet dessen genaue Definition bis zum heutigen Tag immer wieder große Schwierigkeiten.
Der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung umfasst nicht nur das Geschehen am Arbeitsplatz und auf Betriebswegen, sondern auch auf den Wegen zur und von der Arbeitsstätte. So bestimmt § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII, dass auch „das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit“ versichert ist. Ausgangs- und Endpunkt dieses Weges ist nicht nur der häusliche Bereich, in Betracht kommt auch ein sog. Dritter Ort, an dem sich eine versicherte Person aufhält, eine Örtlichkeit, die funktional an die Stelle des häuslichen Bereichs tritt. Dabei bereitet die genaue Definition dieses Dritten Ortes bis zum heutigen Tag immer wieder große Schwierigkeiten (vgl. richtungsweisend BSG, Urteil vom 5.5.1998 – B 2 U 40/97 R -;  zur Entwicklung der Problematik vgl. Schulin, in: Schulin (Hg.), Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band 2, Unfallversicherungsrecht, 1996, S. 652 bis 656; ausführlich zur gegenwärtigen Situation vgl. Ziegler, in: Becker/Franke/Molkentin, Lehr- und Praxiskommentar zum SGB VII, 4. Auflage 2014, § 8 SGB VII Rn. 206 bis 259 ). Besondere aktuelle Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dem Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 7.5.2014 – L 2 U 180/13 – zu (das Revisionsverfahren beim BSG ist unter dem Aktenzeichen B 2 U 16/ 14 R – anhängig).

Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde: Ein Lagerarbeiter, der ca. 2 km von seiner Arbeitsstelle entfernt wohnte, legte  den Weg zur Arbeit üblicherweise mit dem Fahrrad zurück und benötigte dafür jeweils ca. acht Minuten. Für den 14.4.2011 war mit dem Arbeitgeber abgesprochen worden, dass die Arbeitsschicht wegen eines Arzttermins statt um 6 Uhr erst gegen 9.30 Uhr beginnen sollte. Es handelte sich dabei um eine drei- bis viermal im Jahr stattfindende (Marcumar-) Blutuntersuchung. Der Arbeiter, der an diesem Tag gegen 8 Uhr seine Wohnung verlassen und sich von ca. 8.10 Uhr bis 8.40 Uhr in der Arztpraxis aufgehalten hatte, war dann gegen 8.45 Uhr mit seinem Fahrrad auf dem weiteren Weg zur Arbeit mit einem KFZ zusammengestoßen und hatte verschiedene Verletzungen erlitten. Wie die Ermittlungen ergaben, hätte der Weg von der Wohnung über die Arztpraxis mit ca. 5 km Länge etwa 17 Minuten gedauert.

Der zuständige Unfallversicherungsträger hatte mit Bescheid vom 1.2.2012/Widerspruchsbescheid vom 7.8.2012 die Anerkennung des Ereignisses als Arbeitsunfall abgelehnt, weil im Unfallzeitpunkt kein innerer Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit bestanden habe. Der Verletzte sei von seinem direkten Weg zur Arbeit abgewichen, um eigenwirtschaftlich seinen Hausarzt aufzusuchen. Das Sozialgericht Regensburg war mit Urteil vom 6.3.2013 - S 5 U 232/12 – ebenfalls davon ausgegangen, dass kein Arbeitsunfall/Wegeunfall vorgelegen habe. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG zum Dritten Ort hätte sich der Verletzte dort zumindest zwei Stunden lang aufhalten müssen.

Auch das Bayerische LSG erklärte in seinem Urteil vom 7.5.2014 (s. o.), dass der Verletzte keinen Arbeitsunfall/Wegeunfall erlitten habe. Das Zurücklegen eines Weges, der zur Arbeitsstätte hinführe oder von ihr aus begonnen werde, müsse in einem inneren bzw. sachlichen Zusammenhang mit der versicherten Arbeitnehmertätigkeit als stehen. Die Handlungstendenz müsse darauf ausgerichtet sein, den Ort der versicherten Tätigkeit oder nach deren Beendigung die eigene Wohnung zu erreichen. Zwar könne nach der Rechtsprechung des BSG, insbesondere nach dessen Urteil vom 5.5.1998 (s. o.), auch ein anderer Ort als die Wohnung – ein Dritter Ort – Ausgangspunkt eines versicherten Weges zur Arbeitsstätte sein, auch eine Arztpraxis, dies setze aber voraus, dass die Dauer des Aufenthalts an diesem Ort mindestens zwei Stunden betragen habe (zuvor sei von der Rechtsprechung noch ein Aufenthalt von einer halben bis zu zwei Stunden als ausreichend angesehen worden). Da im vorliegenden Fall diese Zwei-Stunden-Grenze nicht erreicht worden sei, habe der Verletzte auf dem Weg von der Arztpraxis zur Arbeitsstätte nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden. Der von zu Hause aus angetretene Weg zur Arbeit sei vielmehr durch den eigenwirtschaftlich motivierten Arztbesuch unterbrochen worden und diese Unterbrechung habe im Unfallzeitpunkt noch fortbestanden, sie sei auch nicht als geringfügig zu bewerten.

Mit seinem Urteil vom 5.5.1998 (s. o.) hatte das BSG die schon seit langem von der Rechtsprechung entwickelte Zwei-Stunden-Grenze bei Unterbrechungen des Weges auf den Dritten Ort übertragen. Diese Grenze hat bei Unterbrechungen des Weges zur Folge, dass der Weg zur und von der Arbeitsstätte aus eigenwirtschaftlichen Motiven (Einkauf, Gaststättenbesuch, etc.) unterbrochen werden kann, wobei während der Zeit der Unterbrechung kein Versicherungsschutz besteht, dass dieser Schutz aber für den Rest des Weges wieder auflebt, wenn die Unterbrechung nicht länger als zwei Stunden gedauert hat. Das LSG hält mit seinem Urteil vom 7.5.2014 (s. o.) sowohl an der Zwei-Stunden-Grenze für Unterbrechungen als auch an einem mindestens zweistündigen Aufenthalt an einem Dritten Ort fest, hat aber dennoch die Revision zum BSG zugelassen, und zwar im „Interesse der Rechtsfortbildung … mit Blick auf die Diskussionen namhafter Autoren zur Abgrenzung des Dritten Ortes“ und hat damit zu erkennen gegeben, dass es eine weitere Erörterung der Fragen zur Definition des Dritten Ortes für notwendig hält. Auch das BSG selbst hat in seinem Urteil vom 13.11.2012 – B 2 U 19/ 11 R – zur Zwei-Stunden-Grenze bei Unterbrechungen ausgeführt, dass dies zwar seiner ständigen Rechtsprechung entspreche, es könne allerdings offen bleiben, ob daran festgehalten werden solle. Diese Bemerkung wird beispielsweise von Ziegler (s. o.) zu Recht zum Anlass genommen, darauf hinzuweisen, dass das BSG seine diesbezügliche Rechtsprechung aber erst dann ändern sollte, wenn ein neues, stimmiges Gesamtkonzept zur Beurteilung von Wegeunfällen entwickelt worden sei.

Keinesfalls übersehen werden sollten in diesem Zusammenhang auch die mit den Zwei-Stunden-Begrenzungen zusammenhängenden verfahrens- und beweisrechtlichen Fragen. Ein interessantes Beispiel dazu bietet das Urteil des BSG vom 27.10.2009 – B 2 U 23/ 08 R -, dem folgender Sachverhalt zugrunde lag: Ein hessischer Unternehmer war in Dresden als Zeuge bei einem Gerichtstermin am 16.12.1993 von 14 bis 16 Uhr anwesend. Er stand dabei als Zeuge nach § 2 Abs. 1 Nr. 11 Buchstabe b) SGB VII unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Im Anschluss an den Gerichtstermin trat der Unternehmer die ebenfalls versicherte Heimfahrt an, die er aber kurz darauf unterbrach, um den Dresdner Striezelmarkt zu besuchen. Wann der Unternehmer diesen privaten bzw.  eigenwirtschaftlichen und daher nicht versicherten Besuch des Marktes beendet hatte, ließ sich nicht mehr aufklären. Fest stand lediglich, dass er um 0.27 Uhr von Dresden kommend auf der Autobahn bei Niederaula/Hattenbach verunglückt war. Nach den von der Rechtsprechung zur Unterbrechung entwickelten Grundsätzen stand der Besuch des Striezelmarktes nicht unter Versicherungsschutz, dieser wäre aber dann wieder aufgelebt, wenn der Verletzte innerhalb der Zwei-Stunden-Grenze den Heimweg fortgesetzt hätte. Lässt sich dies nicht mehr nachweisen, geht dies zu Lasten des Versicherten, der die objektive Beweislast dafür trägt, dass die unversicherte Unterbrechung rechtzeitig beendet worden ist – so auch das BSG, das in diesem Fall zu Recht die Anerkennung eines Arbeitsunfalls/Wegeunfalls abgelehnt hatte.

Praxishinweis
Bei Unfällen am Arbeitsplatz oder auf Betriebswegen kommt der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung nach § 8 Abs. 1 SGB VII nur dann in Betracht, wenn das unfallbringende Handeln der versicherten Person auf eine betriebliche Tätigkeit ausgerichtet war, bei privat bzw. eigenwirtschaftlich motivierten Aktivitäten entfällt der Versicherungsschutz; dies gilt auch für Wegeunfälle im Sinne von § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII (vgl. dazu Jung, Probleme bei der Ermittlung der Finalität, Wege zur Sozialversicherung 2011, S. 227 bis 231). Daher hat die Rechtsprechung zum Wegeunfall bereits frühzeitig damit begonnen, bestimmte Differenzierungskriterien zu entwickeln, so wie die oben dargestellten Zwei-Stunden-Begrenzungen bei einer Unterbrechung des Weges von und zur Arbeitsstätte oder beim Aufenthalt an einem Dritten Ort. Diese Abgrenzungsmerkmale – sinnvollerweise auch deren etwaige Änderungen durch die Rechtsprechung oder durch den Gesetzgeber – sollten allen versicherten Personen bekannt sein, auch sollten im Hinblick auf einen möglichen Unfall die Zwei-Stunden-Grenzen nachgewiesen werden können, beispielsweise durch Quittungen, Eintrittskarten, Gaststättenrechnungen, ärztliche Bescheinigungen oder Zeugenaussagen. 

Der Autor
Prof. Dr. jur. Eberhard Jung ist Hochschullehrer am Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Gießen und unterrichtete an der Ärzteakademie der Landesärztekammer Hessen, Bereich Arbeits- und Sozialmedizin. Außerdem war Prof. Jung viele Jahre lang Verwaltungsdirektor bei der Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft und Dozent an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, Fachbereich Sozialversicherung.

Programmbereich: Arbeitsschutz