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Entscheidungen unter Unsicherheit

05.03.2019
Die verhaltenspsychologische Ausrichtung der aktienrechtlichen Vorstandshaftung. Von Christian Ahrendt, Duncker & Humblot, Berlin 2018, Schriften zum Wirtschaftsrecht, Band 300, 149 Seiten, 58,90 Euro, ISBN 978-3-428-15495-1.
Die rechtswissenschaftliche Dissertation beschäftigt sich mit der Vorstandshaftung nach der Business Judgement Rule, also mit der Frage, wie Entscheidungen unter Unsicherheit getroffen werden müssen, sodass die Entscheidungsträger nicht haftbar werden. Vorstandsmitglieder haften ihren Gesellschaftern fünf beziehungsweise zehn Jahre für die Schäden aus unternehmerischen Entscheidungen, wenn sie diese nicht auf einer angemessenen Informationsbasis und ohne sachfremde Erwägungen gefällt haben. Das Problem dabei ist, dass die Beweislast umgekehrt ist. Der Vorstand muss nachweisen, dass er nicht Schuld an einem Vermögensschaden ist. Nach ständiger Rechtsprechung ist der Aufsichtsrat gehalten, den Schadensersatz auch tatsächlich einzufordern. Ansonsten kann er sich selbst schadensersatzpflichtig machen, da er seiner Aufsichtspflicht nicht ordnungsgemäß nachgekommen ist. Es wird also in dem Buch ein sehr praxisrelevantes Problem behandelt.

Voraussetzung für die Anwendung der Business Judgement Rule, die Haftungsschutz bringt, ist die Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen. Diese dürfen nicht aus dem Bauch (nach der Begrifflichkeit der Verhaltenswissenschaften im System 1) getroffen werden, sondern müssen für Dritte nachvollziehbar getroffen werden.

Die Arbeit bezieht dabei insbesondere verhaltenspsychologische Aspekte in die Analyse mit ein. Thematisiert wird der sogenannte Hindsight Bias (zu Deutsch: Rückschaufehler), der aussagt, dass man im Nachhinein die Vorhersagbarkeit von Ereignissen als leichter einschätzt, als es zum Zeitpunkt der Vorhersage war, wenn man weiß, dass ein Ereignis tatsächlich eingetreten ist. Damit leistet das Buch einen verdienstvollen Beitrag: Selten nimmt die Rechtswissenschaft empirische wirtschaftspsychologische Erkenntnisse in ihre Analyse auf. Unterliegen Richter dem Hindsight Bias, so wird es für Vorstandsmitglieder unangemessen schwierig, sich gegen Vorwürfe zu wehren.

Ahrendt untersucht anhand empirischer Untersuchungen anderer Autoren, ob Richter oder Vorstandsmitglieder den Rückschaufehlern unterliegen. Zunächst klärt er, dass es keine Berufsgruppen gibt, die den Verzerrungen (englisch: bias) nicht unterliegen. Es ist zwar so, dass sich Menschen befragt danach, ob sie stärker oder weniger stark bestimmten Verzerrungen unterliegen, normalerweise als unterdurchschnittlich anfällig erklären. Dies ist aber in Wahrheit selbst eine Verzerrung, der sogenannte Better than Average Effect. Der Hindsight Bias ist selbst sehr gut untersucht. Der Autor verweist auf über 800 Studien, in denen der Rückschaufehler thematisiert und nachgewiesen wird.

Bezüglich der Richter führt der Autor aus, dass es empirisch keinen Beleg gibt, dass sie in Fragen der Compliance oder bei anderen potenziellen Haftungsfragen nicht dem Hindsight Bias unterliegen. Neben empirischen Untersuchungen anderer Autoren zum Beleg des Vorhandenseins des Rückschaufehlers führt der Autor die Argumentation des Gerichts im Verfahren Siemens/Neubürger an, die aus diversen (kleineren) Verstößen ableiten, dass das beklagte Vorstandsmitglied hätte erkennen müssen, dass es schwarze Kassen bei dem Elektrounternehmen gegeben hat. Spiegelbildlich untersucht Ahrendt die Verzerrungen, denen Vorstandsmitglieder unterliegen. Hierbei fokussiert er insbesondere auf den Effekt des Escalation of Commitment. Hiermit ist die Tendenz gemeint, sich einer einmal getroffenen Entscheidung gegenüber verpflichtet zu fühlen und ihr weiter zu folgen, selbst dann, wenn sie sich als ineffektiv erwiesen hat. Es werden zahlreiche Studien zitiert, die diese Verzerrung bei Entscheidern nachweisen. Hier wird die Business Judgement Rule als Schutzinstrument für das Vermögen der Gesellschafter genannt, die verhindern sollen, dass die Vorstände Entscheidungen treffen, die dem Pfad des Escalation of Commitment entsprechen.

Am Ende des lesenswerten, schmalen Bandes steht die Aufforderung, dass bei der Entwicklung des Gesellschaftsrechts die Erkenntnisse der Verhaltenswissenschaften berücksichtigt werden sollen. Das Interesse der Psychologie daran sei groß. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Buch auch Interesse bei Gesetzgebern und Rechtswissenschaftlern geweckt hat.

Prof. Dr. Stefan Behringer, NORDAKADEMIE, Hochschule der Wirtschaft, Elmshorn und Hamburg

Quelle: ZRFC Risk, Fraud & Compliance Heft 1/2019

Programmbereich: Management und Wirtschaft