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Prof. Dr. Christoph Bördlein (Foto: Archiv)
Interview

Verhaltensorientierte Arbeitssicherheit

ESV-Redaktion Arbeitsschutz
14.10.2015
Interview mit Diplom-Psychologe Prof. Dr. Christoph Bördlein von der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt.

ESV: Was ist verhaltensorientierte Arbeitssicherheit und wie funktioniert sie in der Praxis?

 Behavior Based Safety (BBS) ist die Anwendung der Erkenntnisse der Verhaltenswissenschaften auf das Problem der Arbeitssicherheit. Fehlerhafte Technik ist heutzutage nur noch selten die Ursache eines Arbeitsunfalls. Verschiedenen Untersuchungen zufolge liegt der Anteil so genannter verhaltensbedingter Unfälle zwischen 70 und 96 %. Üblicherweise begegnen die Unternehmen diesem Problem mit einer Mischung aus Belehrung und Druck. Mitarbeiter, die sich nicht sicher verhalten, werden erneut belehrt und müssen mit allerlei Sanktionen rechnen: von der Kritik des Vorgesetzten bis hin zur Abmahnung oder Entlassung. Dies hat sich jedoch als wenig erfolgreich erwiesen. Aus der Verhaltenswissenschaft weiß man schon lange, durch welche Prinzipien eine dauerhafte Verhaltensänderung erreicht werden kann. Auf das Problem des arbeitssicheren Verhaltens übertragen lauten diese Prinzipien:
  • Beobachtung des Verhaltens
  • positives und konstruktives Feedback
  • objektive Veränderungsziele
  • Motivation durch positive Verstärkung

In der Praxis legen die Mitarbeiter meist selbst fest, durch welche Verhaltensweisen sie die Chancen erhöhen, am Abend gesund nach Hause gehen zu können. Sie beobachten sich gegenseitig bei der Arbeit und besprechen, wie sie es erreichen können, eine Arbeit immer zu 100 % sicher auszuführen. Der Betrieb unterstützt diesen Prozess, indem er den Mitarbeitern die Autonomie und die Ressourcen gibt, die sie benötigen, um ihr Verhalten zu verändern und den Betrieb zu einem sichereren Ort zu machen. Der Anreiz zur Verhaltensänderung besteht vor allem in der gezeigten (und messbaren) Wertschätzung für das sichere Arbeiten.

Unterweisungen, Gefährdungsbeurteilungen – gibt es nicht ausreichend Instrumente, um Arbeit sicher zu machen?

Gefährdungsbeurteilungen sind ein unersetzliches Instrument der Arbeitssicherheit. Durch diese kann man feststellen, welche technischen und organisatorischen Veränderungen erforderlich sind, damit man überhaupt sicher arbeiten kann. Auch Unterweisungen und Schulungen sind unabdingbar, um die Voraussetzungen für sicheres Arbeiten zu schaffen. Doch zeigt die Praxis, dass diese Instrumente alleine oft nicht ausreichen. Viele Unternehmen, die das Thema Arbeitssicherheit ernst nehmen, stellen fest, dass sie sich alsbald, was die Zahl der Arbeitsunfälle angeht, auf einem Plateau bewegen. Der Betrieb tut alles, was er kann, um das Arbeiten sicherer zu machen, dennoch passieren immer wieder Unfälle. Für dieses Delta ist BBS gedacht.

Welche besonderen oder neuen Ansätze kann BBS für die Herausforderungen der Zukunft der Arbeit liefern – Stichwort Industrie 4.0?

BBS ist ein datengetriebener Prozess. Entscheidungen werden immer auf der Grundlage von objektiven Daten getroffen. Andere Ansätze zur Verhaltensänderung im Bereich der Arbeitssicherheit setzen eher auf das Prinzip „train and hope“: Man schult die Mitarbeiter und hofft dann, dass sie sich auch tatsächlich anders verhalten. BBS gibt dem Betrieb die Möglichkeit, den Faktor Verhalten konstruktiv und objektiv anzugehen. Statt Druck auszuüben und Schuldgefühle zu erzeugen, kann man aufgrund der Beobachtungsdaten entscheiden, durch welche Maßnahmen das sichere Verhalten begünstigt wird. Ein Beispiel: Verhaltensänderung gelingt nur mit Feedback. Gestalte ich die Prozesse so, dass der Mitarbeiter unmittelbar und automatisch Feedback darüber erhält, ob er sich gerade sicher oder unsicher verhält, erhöhe ich die Chancen, dass er dauerhaft das sicherer Verhalten zeigt. Das ist anders, wenn nur alle paar Stunden der Vorgesetzte vorbeikommt und dem Mitarbeiter mitteilt, was er richtig und falsch macht.

Ein Kritikpunkt an BBS ist, dass je nach Betriebs- und Führungskultur die Methode dazu benutzt wird, den Mitarbeitern die Verantwortung für Arbeitssicherheit zuzuschieben. Welche Rahmenbedingungen brauche ich für ein erfolgreiches BBS?

Den wichtigsten Part bei BBS nehmen natürlich die Mitarbeiter ein. Sie sind es, die den Risiken ausgesetzt sind und von denen erwartet wird, dass sie sich auf eine bestimmte Weise verhalten. BBS kann nur gelingen, wenn man die Mitarbeiter aktiv beteiligt und ihnen die Kompetenz zubilligt, ihr Verhalten (mit den Mitteln, die BBS bereitstellt) selbst zu verändern. Auch wenn der sichtbarste Teil von BBS - das Beobachten, die Feedbackgrafiken, die Besprechungen und Feiern der Beobachtergruppen usw. - vor allem von den Mitarbeitern getragen wird, ist es doch der Betrieb als Ganzes, der sich verändern muss. Nur wenn die Unternehmensleitung und alle Vorgesetzten wissen, wie sie die Bemühungen der Mitarbeiter um sicheres Arbeiten konstruktiv unterstützen können, gelingt BBS. BBS ist die am besten untersuchte und erfolgreichste Methode zur Verhaltensänderung im Bereich der Arbeitssicherheit. Doch nur „richtiges“ BBS ist wirksam: Wenn man die verhaltenswissenschaftlichen Grundlagen von BBS vernachlässigt, erreicht man nicht, dass die Mitarbeiter dauerhaft sicherer arbeiten und langfristig die Zahl der Arbeitsunfälle zurückgeht. Am besten und nachhaltigsten funktioniert BBS dann, wenn der Betrieb nicht nur im Bereich der Arbeitssicherheit sondern generell seine Kultur auf das Prinzip der positiven Verstärkung umstellt. Nur ein Mitarbeiter, der merkt, dass es sich „lohnt“, gute Arbeit zu erbringen (weil sie authentisch wertgeschätzt und gefördert wird), wird auch dauerhaft dafür motiviert sein.

 

Programmbereich: Arbeitsschutz