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Das Ohr als Ort des Gedächtnisses (Foto: kei907/Fotolia.com)
Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte

Von Ohrenzupfen, Ohrenabschneiden und Ohrenschlitzen

ESV-Redaktion Philologie
05.05.2017
Von der Ohrfeige als solcher hat wohl jeder schon einmal gehört. Aber ahnen Sie, was sich hinter „Ohrenschlitzen” verbirgt? Und was, rechtsgeschichtlich, mit dem „Ohrenzupfen” gemeint ist?
Lesen Sie im Weiteren einen kleinen Auszug aus der soeben erschienenen 25. Lieferung des „Handwörterbuchs zur deutschen Rechtsgeschichte“, das in mehr als 5.000 Stichwörtern die Summe des Wissens über die Geschichte des Rechts präsentiert:

Ohrfeige, Ohrenzupfen

Die Ohrfeige, auch Ohrschlag oder Backenstreich auf die Wange, kann eine Beleidigung und Schmähung sein; letztere war Bestandteil von Folter und Strafe. Als nicht-pönale Geste sollte die Ohrfeige den Geschlagenen an ein Ereignis von rechtlicher Relevanz, insbesondere Statusänderung, Grenzziehung oder Zeugenschaft erinnern. Ebenso mnemotechnisch eingesetzt war das Ohrenzupfen; diese Gebärden entsprangen der Vorstellung, dass das Ohr Ort des Gedächtnisses sei.

Erteilte ein Bürger dem Mitbürger eine Ohrfeige, war eine Strafe von mindestens 4 Schillingen üblich (Stadtrecht Stade von 1297). Straffrei blieb, wenn ein Herr seine Eigenleute ohrfeigte (Annales Stadenses von 1112) oder wenn en unverschämt wief enen framen Mann in Gegenwart zweier ehrlicher Männer schmäht, dann darf er ihr ene ohrfiege geven (Stadtrecht Schwerin, Mitte 16. Jh.).

Ohrzupfen als Erinnerungsstütze

Aus der Antike ist bei Horaz in der 9. Satire Ibam forte via sacra überliefert, dass der Kläger den Zeugen beim Ausruf Licet antestari am Ohr zupft. Ähnliches auch bei Vergil und Seneca. Ebenso wurden Gedächtnis- und Geschäftszeugen am Ohr gezupft. In den germanischen Stammesrechten, z. B. Lex Baiuvariorum, Lex Ribuaria sind die testes per aures tracti u. a. beim Verkauf von Grundstücken erwähnt. Beim Grenzumgang sollten Ohrfeigen oder Ohrenzupfen mitgehende Jungen an das Setzen eines Grenzsteins erinnern. Im Cod. Falkensteinensis findet man die testes attracti noch im 12. Jahrhundert. Eine Ohrfeige wurde auch jungen Menschen erteilt, deren Status sich ändert. Dies zeigt der den Initiationsriten zuzuordnende, bis zum Vatikanum II geltende Firmritus der römischen Kirche, der im Pontifikale von Durandus von Mende (13. Jh.) festgelegt wurde: Dat sibi leviter alapam super genam. Beim Passageritus des Hänselns, speziell beim Gesellenmachen erhielt der Lehrling eine bekräftigende Ohrfeige.

(Stichwort „Ohrfeige, Ohrenzupfen” von Christina Marie Kimmel-Schröder).



Ohrenabschneiden, Ohrenschlitzen

Sowohl das Ohrenabschneiden (auris abscissio), also das Abtrennen einer oder beider Ohrmuscheln des Verurteilten, als auch das Ohrenschlitzen (auris incisio), also das (dauerhaft sichtbare) Einschlitzen meist einer Ohrmuschel, waren bis ins 18. Jahrhundert verbreitete Verstümmelungsstrafen. Üblicherweise durch den Henker vollstreckt, hatten beide Leibesstrafen entehrende Wirkung. Selten oblag die Vollstreckung dem Verurteilten selbst; so ließ man 1296 in Würzburg einen isenen haken an den Stock machen, damit man die Täter daran mit dem oren henke.


Abschreckung und Stigmatisierung

Die öffentliche Vollstreckung sollte abschreckend wirken (Generalprävention); um diesen Effekt zu verstärken, wurde häufig angeordnet, die abgeschnittenen Ohren an der Richtstätte aufzuhängen. Insbesondere wenn Ohrenabschneiden als spiegelnde Strafe angeordnet wurde, kam dieser auch Vergeltungscharakter zu. Ähnlich dem Brandmarken bewirkte Ohrenabschneiden zudem eine Kennzeichnung (und damit Stigmatisierung) des Täters – mit bleibendem Warneffekt für die Bevölkerung (Spezialprävention). Sehr häufig wurde Ohrenabschneiden daher als Nebenstrafe zu Pranger und Landesverweisung angeordnet oder auch mit anderen Strafen kombiniert. Wiederholungstäter konnten so leicht erkannt und ggf. noch härter bestraft werden. Vielfach (etwa bei Diebstahl) wurde Ohrenabschneiden anstelle einer eigentlich verwirkten Todesstrafe verhängt; war dies nicht der Fall, blieb es bis an die Wende zur Neuzeit grundsätzlich möglich, Ohrenabschneiden durch eine Geldleistung abzulösen.


Ohrenabschneiden als Diebstahlsstrafe

Im späten Mittelalter ist das Ohrenabschneiden zuallererst Diebstahlsstrafe. Als solche ist es schon 1114 im Stadtfrieden von Valenciennes belegt, dann in sehr zahlreichen Rechten bis weit ins 17. Jahrhundert. Daneben begegnet Ohrenabschneiden ähnlich dem Zungeabschneiden in vielerlei Hinsicht als spiegelnde Strafe: auge wider auge, ore wider ore, nase wider nase beschreibt Art. 49 § 2 des Augsburger Stadtrechts von 1276 die Sanktion bei Körperverletzungen.

Vielleicht ist auch die Verfolgung von Gotteslästerung und Meineid durch Ohrenabschneiden als spiegelnd zu bezeichnen, wurde doch auch durch derlei Taten im abstrakteren Sinne das Gehör der anderen verletzt. Spiegelnd war Ohrenabschneiden zudem, wenn damit unerlaubtes Lauschen oder unterschiedliche Formen des Ungehorsams bestraft wurden („Wer nicht hören will, muss fühlen“), etwa schwere Pflichtverletzungen von Gesinde (Entlaufen) oder Schiffleuten (Arbeitsverweigerung). König Friedrich I. von Preußen ordnete 1711 für desertierende Soldaten Ohrenabschneiden und Festungsarbeit anstelle der bis dahin üblichen Todesstrafe an.

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„So ein Schlitzohr”

Vielleicht seit dem 15. Jahrhundert wurden auch Falschspieler und andere Betrüger mit Ohrenabschneiden sanktioniert – hierauf könnte das heute redensartliche „Schlitzohr” zurückgehen. Vermutlich in Rückgriff auf die biblische Überlieferung wurde Ohrenabschneiden v.a. seit der Wende zur Neuzeit zudem als Strafe für Ehebruch, Hurerei und Kuppelei geläufig, und zwar insbesondere als Strafe für Frauen. Art. 123 CCC sah die abschneidung der oren für die boßhafftigen kupler vor, eine Bestimmung, die zahlreiche Territorialrechte übernahmen. V. a. vom 16. bis ins 18. Jahrhundert fungiert Ohrenabschneiden zudem zur dauerhaften Kenntlichmachung aus dem Land gewiesener Bettler und Vagabunden; so verlangte eine Danziger Ordnung von 1525, man soll einem unerlaubt ins Land zurückkehrenden arbeitstüchtigen Bettler ein zeichen in sein rechte ohr schneiden. Im 17. Jahrhundert häufen sich derlei Mandate.

Vorangetrieben von Naturrecht und Aufklärung konnte sich in der Folgezeit der Besserungsgedanke im Strafvollstreckungsrecht mehr und mehr durchsetzen, sodass u. a. Arbeits- und Zuchthausstrafen Verstümmelungen wie das Ohrenabschneiden verdrängten. Im 18. Jahrhundert ist die Strafe daher vornehmlich noch im militärischen Bereich anzutreffen, so wird sie 1746 in Preußen als Poena desertionis extraordinaria bestätigt.
(Stichwort „Ohrenabschneiden, Ohrenschlitzen” von Andreas Deutsch).

Zum Buch
Das Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, erstmals 1964 erschienen, ist ein Standardwerk und liegt inzwischen in 2. Auflage bis Stichwort „Osmanisches Reich” vor. Es wird herausgegeben von Prof. Dr. Albrecht Cordes, Prof. Dr. Hans-Peter Haferkamp, Prof. Dr. Heiner Lück und Prof. Dr. Dieter Werkmüller sowie Prof. Dr. Christa Bertelsmeier-Kierst als philologischer Beraterin.

Die 25. Lieferung des HRG ist gerade erschienen und kann hier bestellt werden. Digital ist das HRG als Datenbank abrufbar: www.hrgdigital.de

Programmbereich: Rechtsgeschichte