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Plädiert für eine funktionale Grammatik: Prof. Dr. Ludger Hoffmann (Foto: privat)
Nachgefragt bei Prof. Dr. Ludger Hoffmann

„Auch Grammatiker leben in der Gegenwart“

ESV-Redaktion
18.08.2021
Grammatik stellt die Grundstruktur jeder Sprache dar – und hat doch bei Lernenden den Ruf einer zwar notwendigen, aber trockenen Pflichtübung. Dabei kann und sollte Grammatik so aktuell sein wie Sprache selbst. Der Erfolg der auf dem funktionalen Ansatz basierenden „Deutschen Grammatik“ von Prof. Dr. Ludger Hoffmann zeigt, dass in der Didaktik ein Bedürfnis nach neuen Perspektiven besteht. Durch die Betonung von Mehrsprachigkeit im Unterricht und Exkursen zu Themen wie Fake News ist das Werk auch in der neuen 4. Auflage so aktuell wie nie. Mehr über Strategien zur zeitgemäßen Vermittlung deutscher Grammatik erfahren Sie im Interview mit Prof. Dr. Ludger Hoffmann.
Lieber Herr Hoffmann, die „Deutsche Grammatik“ geht nun in die vierte Auflage. Welche Neuerungen können die Leserinnen und Leser erwarten?
 
Ludger Hoffmann: In die Grammatik wurden wie immer neue Ergebnisse der Forschung im Detail eingebaut. Zusätzlich gibt es nun eine Darstellung der Wortbildung – natürlich mit dem gewohnten Blick aufs Türkische. Die Intonation wurde schon bisher an vielen Stellen berücksichtigt, nun aber finden sich Tonverläufe, Tonmuster und Pausen auch in einem eigenen systematischen Kapitel. Intonation ist mir ein besonderes Anliegen, weil sie in vielen gegenwärtigen Grammatiken ausgeblendet wird, obwohl sie ein eigenständiges sprachliches Mittel ist wie die Wortfolge. Der Grund ist, dass diese Grammatiken auf schriftliche Texte beschränkt sind, die bequem zugänglich sind.
Die „Deutsche Grammatik“ behandelt gleichberechtigt mündliche Äußerungen und Gespräche. Damit ist sie für Text- und Gesprächsanalysen in Schule und Hochschule eine gute Grundlage. Man findet z. B. auch Interjektionen wie nā und àch, Abtönungspartikeln wie halt, eben und eh. Das Wortartensystem ist vollständig und nimmt auch Ausdrücke aus dem neuen KMK-Verzeichnis auf. Für die Textanalyse – einschließlich literarischer Texte – steht nun ein Abfolgeschema bereit. Ferner reagiert die Grammatik auf gesellschaftliche Entwicklungen wie Fake News, Beleidigungen und Rassismus in eigenen Abschnitten.

Sie arbeiten mit dem Ansatz der funktionalen Grammatik. Was versteht man unter diesem Begriff und was sind die Besonderheiten dieser Herangehensweise?

Ludger Hoffmann: Die vorherrschenden Ansätze betrachten Grammatik als reine Systematik von Formen, die in Aufbau und Kombinatorik bestimmt und sortiert werden. Die Frage ist aber, für welche Funktionen diese Formen da sind. Wenn man Grammatik handlungstheoretisch sieht, müssen Formen und kommunikative Funktionen den gleichen Stellenwert haben. Funktionen erklären Formen, sie sind in den Sprachen als Formen unterschiedlich ausgeprägt, so dass auf funktionaler Grundlage Vergleiche möglich sind.
Nehmen wir ein kleines Wörtchen wie ‚ja‘. Es kann nach einer Entscheidungsfrage erscheinen, aber auch in eine Aussage eingebaut sein, sogar Sätze verbinden. Die Form kann also als Responsiv, Abtönungspartikel oder Konjunktion eingeordnet werden. Aber welche Grundfunktion verbindet diese Verwendungsweisen? Man dachte lange, es sei das ‚geteilte Wissen‘. Bei genauerer Untersuchung auch gesprochener Sprache stellt man fest: Es ist der Ausdruck von ‚Gewissheit‘ (schau mal, der hat ja eine neue Frisur), der aus der ältesten Verwendung als Antwort stammt.

Deutsche Grammatik 20.08.2021
Mehrsprachigkeit, Funktionalität, Kommunikation – neue Ansätze in der Grammatikdidaktik
Was ist korrektes Deutsch? Die Formulierung „Sie nahm sich des Kindes an“ mit Genitiv-Objekt – oder doch besser: „Sie nahm sich dem Kind an“ mit Dativ-Objekt? Grammatikvermittlung zählt zu den Hauptaufgaben des Deutschunterrichts, im Lehramtsstudium kommt sie jedoch häufig zu kurz. Dabei geht es beim Unterrichten nicht nur um die Vermittlung von Regeln, sondern auch um das Verstehen der Sprachstruktur und ihre Anwendung beim Sprechen und Schreiben. Kann dabei die Mehrsprachigkeit von Lernenden vielleicht sogar als Chance wahrgenommen werden? Es gibt viele Gründe, die dafür sprechen. mehr …

Inwiefern erfordert die Vermittlung von Grammatik in der heutigen Zeit neue Ansätze?

Ludger Hoffmann: Seit etwa 45 Jahren ist der Grammatikunterricht in einer Krise. Heute sind es einzelne engagierte Lehrkräfte, die systematisch Grammatik und sprachliches Handeln vermitteln. So ist für Studierende ein Adjektiv oft noch ein ‚Wiewort‘ (Wie-Frage: Wie ist der Tag? Sonnig). Es scheint zudem einfacher, Literatur als Grammatik zu unterrichten, obwohl eine Gedichtanalyse erheblich von grammatischen Kenntnissen profitiert. Viele kennen Grammatik nur aus dem fremdsprachlichen Unterricht, wo Wortartkategorien der Lateingrammatik, die oft aufs Deutsche nicht passen, eingesetzt werden. Da kann kein Bild einer Sprache entstehen. Zudem werden die Möglichkeiten aus dem Unterricht von Fremdsprachen nicht für Vergleiche genutzt. Das Gelernte wird nicht verbunden und so vertieft.
Die funktionale Grammatik bietet in dieser Situation einen frischen Neuansatz. Die funktionale Perspektive zeigt den Schülerinnen und Schülern, wozu wir Sprache haben und was wir damit tun und erreichen können. Wie wir uns verständigen und woran wir scheitern können. Welche Formulierung unser Handeln gelingen lässt und was in der Schrift im Gegensatz zum Gespräch erwartet wird. Wir richten den Blick auf authentische Gesprächsbeispiele – nicht auf tote Formen, sondern auf die Sprachwirklichkeit, auch auf Sprachmischungen, Jugenddeutsch, Beleidigungen, Gerichtsverhandlungen etc. Das führt zu einer neuen Motivation in einem Unterricht, der dazu dient, Sprache umfassend zu verstehen und zu erklären.

Auf welche Weise hebt sich Ihrer Meinung nach die „Deutsche Grammatik“ von vergleichbaren Werken ab?

Ludger Hoffmann: Vergleichbare Grammatiken sind auf Formen und Schriftlichkeit fixiert. Als diese Grammatik erschien, war einfach die Zeit reif, eine pragmatische Darstellung der gesamten Grammatik anzugehen. Und da der distanzierte Blick sehr hilfreich für das Verständnis des Eigenen ist und auch in der Schule von hohem didaktischen Wert, werden durchgängig Sprachvergleiche unternommen. In einer mehrsprachigen Gesellschaft, in der fast die Hälfte der Menschen aus Familien mit Zuwanderungsgeschichte kommt und in jedem Klassenzimmer und in jedem Seminarraum viele Sprachen präsent sind, liegt es nahe, diese Sprachen über Vergleiche, weiterführende Recherchen, kleine Dialoge, Einblicke in den Wortschatz etc. immer einzubeziehen.
Die mitgebrachten Erstsprachen und das damit verbundene Sprachwissen sind ein großes Kapital, das gepflegt werden muss. Das führt auch zu einem besseren Verständnis der Mehrheitssprache Deutsch. Im Unterricht stellen sich andere Fragen, z. B.: Wie machen es denn die anderen? Was heißt es, wenn eine Sprache wie Türkisch kein Genus oder keine Anapher (er, sie, es) hat? Gibt es dann auch die Problematik des Genderns? Wenn Sprachen wie fast alle slavischen keinen bestimmten Artikel haben, womit nehmen sie dann dessen Funktion wahr?
Wenn man so fragt, ergibt sich ein Bild von der Welt der Sprachen, ihren Darstellungs- und Erkenntnisformen, ihrer Rolle in kommunikativen Welten. Eine Grammatik, die allein schriftliche Texte zum Gegenstand hat und die Mehrsprachigkeit ausblendet, ist so wenig zeitgemäß wie ein Seminar zur ‚muttersprachlichen Didaktik‘.

Einige der Ergänzungen in dieser Auflage sind Exkurse zu Fake News und rassistischen Beleidigungen. Welchen Stellenwert hat das Ansprechen dieser Themen für Sie? Können Sie sich vorstellen, in kommenden Auflagen auf weitere gesellschaftliche Themen einzugehen?

Ludger Hoffmann: Auch Grammatiker leben in der Gegenwart und sind mit der explosionsartigen Zunahme von Hassreden und Äußerungsdelikten (üble Nachrede, Volksverhetzung/Rassismus) in Verbindung mit Internet und sozialen Netzwerken konfrontiert. Die Grammatik kann etwa zu Lügen oder Beleidigungen Erhellendes beitragen – und sollte das tun. Herabsetzende Äußerungen sind ja auch ein Problem in der Schule und Fake News, Klatsch und Gerüchte heute ein Unterrichtsthema. Eine Grammatik, die eine Darstellung von Handlungsmustern, Zwecken, Mitteln und Äußerungsmodi enthält, kann sich solchen gesellschaftlichen Entwicklungen und ihren sprachlichen Ausprägungen nicht entziehen, denn Schülerinnen und Schüler müssen lernen, sich damit kritisch auseinanderzusetzen. Das gilt natürlich auch für künftige Auflagen.

Wir freuen uns auf die Neuauflage, lieber Herr Hoffmann, und danken Ihnen für das interessante Gespräch.
Deutsche Grammatik
Autor: Prof. Dr. Ludger Hoffmann
Dies ist eine Grammatik für alle, die Deutsch unterrichten, für die Lehrerausbildung und für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache. Sie ist unter der Perspektive der Vermittlung geschrieben: Was sollten Lehrende und Lernende über Sprache wissen? Diese Grammatik liefert das Wissen, das man für diese Aufgaben braucht.
Die grammatischen Phänomene werden in ihrer Sachlogik dargestellt und in eine didaktisch begründete Abfolge gebracht. Ausführlich behandelt werden Bereiche, die erfahrungsgemäß Lernenden Probleme bereiten, z.B. Artikelgebrauch und Präpositionen.
Die Grammatik lässt ein Bild des Deutschen entstehen. Sie stellt sich der Sprachwirklichkeit und arbeitet mit überwiegend authentischen Gesprächs- und Textbeispielen.
Neu in der 4. Auflage sind Kapitel zur Intonation und zur deutschen Wortbildung sowie Abschnitte zu Beleidigungen, sprachlichem Rassismus und Fake News.


Programmbereich: Germanistik und Komparatistik