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BGH: Gerichte müssen stets den Ausgleich zwischen richterlicher Unabhängigkeit und effektivem Rechtsschutz suchen (Foto: Daniel Butcher / Fotolia.com)
Verzögertes Pilotverfahren im Anlegerprozess

BGH zur Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer

ESV-Redaktion Recht
06.02.2023
Nachteile aufgrund überlanger Gerichtsverfahren können nach den §§ 198 ff. GVG Schadenersatzansprüche auslösen. Mit den Voraussetzungen hierfür hat sich der BGH in einer kürzlich veröffentlichten Entscheidung befasst. In deren Zentrum stand die Frage, ob das betreffende Gericht vertretbar gehandelt hat.
In dem Streitfall wurde der damalige Beklagte – und jetzige Kläger des Entschädigungsverfahrens – als verantwortlicher Konzeptant des Unternehmensverbundes „Göttinger Gruppe“ unter anderem wegen Kapitalanlagebetruges und vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung von Kapitalanlegern in Anspruch genommen. Einer der Anleger reichte am 28.12.2011 beim LG Göttingen eine Schadenersatzklage ein. Diese wurde dem damaligen Beklagten am 27.02.2012 zugestellt. Die erste mündliche Verhandlung vor der 2. Zivilkammer des LG Göttingen fand am 05.06.2013 statt.

Mit Beschluss vom 03.07.2013 ordnete die Kammer dann von Amts wegen die Einholung eines Sachverständigengutachtens an und am 14.01.2014 bestellte die Kammer einen Wirtschaftsprüfer und Steuerberater zum Sachverständigen – und zwar sowohl im Pilotverfahren der sogenannten Hauptserie (2 O 1802/07) als auch im Pilotverfahren der sogenannten L-Serie (2 O 1136/11). Am 27.01.2014 erteilte es dem Sachverständigen einen Gutachtenauftrag.
 
Den für Ende März 2015 vorgesehenen Zeitpunkt der Fertigstellung konnte der Gutachter wegen zusätzlicher Arbeiten und einer medizinischen Behandlung nicht einhalten. Darüber hinaus hinderte den Gutachter die schwere Erkrankung eines Familienangehörigen vorübergehend an der Fertigstellung. Das Gutachten für die Hauptserie ging dann am 24.02.2016  bei Gericht ein.
 
Nach einer Fristsetzung durch das Gericht – mit Beschluss vom 29.02.2016 zur Vorlage des Gutachtens zur L-Serie bis zum 30.05.2016 – ging dieses Gutachten am 31.05.2016 bei Gericht ein. Im Anschluss an den Eingang der Stellungnahme der Parteien fasste das LG Göttingen dann im Oktober 2018 einen ergänzenden Beweisbeschluss, den es im April 2019 noch einmal ergänzt hatte.

Der Anleger nahm im Oktober 2019 seine Ausgangsklage zurück. Jeweils im Oktober 2017 und im Januar 2019 hatte der Kläger des aktuellen Entschädigungsverfahrens eine Verzögerungsrüge erhoben.

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Kläger: Verfahrensverzögerung beträgt insgesamt 77 Monate

Der Entschädigungskläger meint, dass damalige Verfahren in der Zeit von Juli 2013 bis November 2019 rechtswidrig verzögert wurde. Vor allem die Einholung eines Sachverständigengutachtens hielt er für nicht erforderlich. Ebenso habe das Ausgangsgericht den Einwand der Unschlüssigkeit der Klage und die Verjährungseinrede außer Acht gelassen, so der Kläger weiter. Für die Verzögerung von – aus seiner Sicht 77 Monaten – forderte er dann eine Entschädigung von 150 EUR pro Monat. Damit beziffert er den Entschädigungsanspruch auf insgesamt 11.550 EUR.
 
Das Entschädigungsgericht – das OLG Braunschweig – verurteilte das Land Niedersachsen aber nur zu einem Schadensersatz von 6.426,61 EUR. Daraufhin zogen beide Parteien mit einer Revision zum BGH.
 

BGH: Verfahren war erst ab Mai 2016 für acht Monate überlang

Der III. Zivilsenat Senat des BGH reduzierte den Entschädigungsanspruch auf nur noch 1.200 EUR – das heißt auf 150 EUR für acht Monate Verzögerung. Demnach war die Verfahrensdauer vor dem LG Göttingen erst nach Eingang des Sachverständigengutachtens im Mai 2016 für acht Monate überlang. Einige wesentliche Gründe des Senats im Überblick:
 
  • Vertretbarkeit der Handlungen des Ausgangsgerichts: Zunächst meinte der Senat, dass in einem Entschädigungsverfahren im Sinne von § 198 GVG nicht zu prüfen ist, ob das Ausgangsgericht korrekt gehandelt habe. Zu prüfen sei nur, ob das Verhalten dies Gerichts noch vertretbar bzw. unvertretbar war. Insoweit teilte der Senat die Auffassung des OLG Braunschweig, nach der das Ausgangsverfahren als Pilotverfahren von etwa 140 Verfahren für den Kläger eine besondere Bedeutung hatte. Denn der Kläger hatte wegen drohender Rufschädigung und aufgrund seines fortgeschrittenen Alters ein hohes Interesse an einer zügigen Aufklärung. Hierin sah der Senat eine nicht zu beanstandende tatrichterliche Würdigung.
  • Kernbereich der richterlichen Unabhängigkeit ist zu wahren: Eine Vertretbarkeit liegt dem Senat zufolge nur dann nicht vor, wenn das Verhalten des Ausgansgerichts unverständlich ist. Die Frage, ob andere sinnvollere Wege möglich gewesen wären, bleibt außen vor. Prüfungen der sachlichen Richtigkeit würden nämlich den Kernbereich der richterlichen Unabhängigkeit verletzen, so der Senat hierzu.
  • Ausgleich zwischen richterlicher Unabhängigkeit und effektivem Rechtsschutz: Darüber ist dem Ausgangsgericht eine ausreichende Vorbereitungs- und Bearbeitungszeit zuzugestehen, die der Schwierigkeit und der Komplexität der Rechtssache entspricht. Demnach hat die Prozesspartei keinen Anspruch auf eine „optimale Verfahrensförderung". Vielmehr ist bei der Bewertung des richterlichen Verhaltens immer der Ausgleich zwischen richterlicher Unabhängigkeit und effektivem Rechtsschutz zu suchen.
  • Zeit für Erstellung von Sachverständigengutachten zählt nicht zur Verfahrensdauer: Nach den weiteren Ausführungen des Senats muss die Dauer des Verfahrens sachlich gerechtfertigt und verhältnismäßig sein. Dabei gehört die lange Dauer für die Anfertigung des Sachverständigengutachtens nicht zur Verfahrensdauer – denn die Tätigkeit eines Sachverständigen unterliegt nicht dem Verantwortungsbereich des Staates. Zudem sah der Senat für die Auswertung des Sachverständigengutachtens eine Bearbeitungszeit von insgesamt zwölf Monaten als angemessen an – und zwar aufgrund der wirtschaftlichen Komplexität des Sachverhaltes.
  • Entschädigung für immaterielle Nachteile: Die Entschädigungsansprüche für immaterielle Nachteile bestimmen den Streitgegenstand und sind zeitbezogen geltend zu machen. Anträge für zu Unrecht beanspruchte Zeiträume sind abzuweisen. Sie können nach § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO nämlich nicht mit solchen Zeiträumen verrechnet werden, für die der Kläger nach Meinung des Gerichts weniger fordert, als ihm zusteht.
Den Entschädigungsanspruch in dem Streitfall bezifferte der Senat einzelfallbezogen auf insgesamt nur noch 1.200 EUR – und zwar auf einer Grundlage von 150 EUR für acht Monate.
 
Quelle: Urteil des BGH vom 15.12.2022 – III ZR 192/21


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(ESV/bp)
 

Programmbereich: Bürgerliches Recht, Zivilverfahrensrecht