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Das BVerwG hält die coronabedingten Ausgangsbeschränkungen in Bayern für unverhältnismäßig (Foto: Manuel Schönfeld und AllebaziB / Fotolia.com)
Corona und Grundrechte

BVerwG äußert sich erstmals zu Corona-Beschränkungen

ESV-Redaktion Recht
23.11.2022
Das BVerwG hat sich erstmals mit Grundrechtseinschränkungen im Zusammenhang mit Corona befasst. Dabei ging es um Ausgangsbeschränkungen in Bayern sowie um Kontaktbeschränkungen und Betriebsschließungen in Sachsen.

Ausgangsbeschränkungen in Bayern waren unverhältnismäßig

Das Verfahren 3 CN 2.21 hatte Ausgangbeschränkungen, die die Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 27.03.2020 in der Fassung der Änderungsverordnung vom 31. 03. 2020 (BayIfSMV) vorsah, zum Gegenstand. 
 
Grundlage für die Ausgangsbeschränkungen sollte § 4 Abs. 2 BayIfSMV sein. Demnach durfte die eigene Wohnung in Bayern nur aus triftigen Gründen verlassen werden. Solche triftige Gründe finden sich in § 4 Abs. 3 der BayIfSMV. Aufgeführt sind dort unter anderem Tätigkeiten wie Sport und Bewegung an der frischen Luft – aber nur alleine oder mit Angehörigen des eigenen Hausstandes. Insoweit hatte bereits der Bayerische VGH – auch als VGH München bezeichnet – im Rahmen eines Normenkontrollantrags die Unwirksamkeit der angegriffenen Normen festgestellt. Die Revision des Freistaates Bayern hiergegen hatte vor dem BVerwG keinen Erfolg. Nach Ansicht des 3. Senats des BVerwG verstoßen die Ausgangsbeschränkungen gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die wesentlichen Überlegungen des Senats:
 
  • Beschränkungen zu eng gefasst: Der 3. Senat des BVerwG schloss sich der Auffassung des VGH München an. Demnach waren die triftigen Gründe zum Verlassen der eigenen Wohnung zu eng gefasst. Schon die Vorinstanz konnte – beanstandungsfrei – nicht erkennen, dass diese Maßnahme zur Hemmung der Übertragung des Coronavirus erforderlich war. Dem Senat zufolge lag damit auch keine Notwendigkeit im Sinne von § 32 Satz 1 in Verbindung mit § 28 Abs. 1 IfSG in der damals geltenden Fassung vor.
  • Mildere Maßnahmen möglich: Nach Ansicht des Senats ist eine Maßnahme nur dann erforderlich, wenn kein gleich wirksames Mittel zur Verfügung steht. Als mildere Maßnahme kamen hier Kontaktbeschränkungen im öffentlichen und privaten Raum in Betracht. Solche Beschränkungen hätten bei gleicher Wirksamkeit eine geringe Eingriffsintensität gehabt als Ausgangsbeschränkungen, die nicht einmal ein das Lesen eines Buchs auf einer Parkbank erlaubt hätten.
  • Ermessensspieraum überschritten: Damit überschritt der Verordnungsgeber seinen Ermessenspielraum, denn seine Prognose zur Zweckerreichung war nicht plausibel und einleuchtend begründet. Diese Frage unterliegt dem BVerwG zufolge auch einer gerichtlichen Überprüfung und insoweit war die Ansicht des Bayerischen VGH – der ein solches Verweilen außerhalb der Wohnung als infektiologisch unbedeutend ansah – revisionsrechtlich unbedenklich. 
Quelle: PM des BVerwG vom 22.11.2022 zum Urteil vom selben Tag – 3 CN 2.21

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Kontaktbeschränkungen in Sachsen und Schließungen von Gastronomiebetrieben bzw. Sportstätten einschließlich Golfplätzen waren rechtmäßig 

Das Verfahren 3 CN 1.21 befasste sich mit Regelungen der Sächsischen Corona-Schutz-Verordnung vom 17.04.2020 (SächsCoronaSchVO). Konkret ging es um Kontaktbeschränkungen für den Aufenthalt im öffentlichen Raum, die Untersagung von Gastronomiebetrieben und die Schließung von Golfplätzen. In diesem Fall wendete sich der Antragsteller über einen Normenkontrollantrag gegen die obige Verordnung, die vom 20.04.2020 bis 03.05.2020 gegolten hat, an das Sächsische OVG in Bautzen. Weil sein Antrag keinen Erfolg hatte, zog der Antragsteller mit einer Revision vor das BVerwG.
 
Doch auch vor dem 3. Senat des BVerwG blieb sein Anliegen erfolglos. Nach Auffassung des Senats waren die angegriffenen Normen rechtmäßig und verhältnismäßig. Rechtsgrundlage für die obigen Verordnungsregelungen war § 32 in Verbindung mit § 28 Abs. 1 IfSG  in der Fassung des Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 27.03.2020 (a.F.). Dem Senat zufolge lagen die Voraussetzungen, die zum Erlass von Geboten und Verboten zur Bekämpfung von übertragbarer Krankheiten berechtigt hatten, vor. Die weiteren tragenden Überlegungen des Senats:

  • Angegriffene Normen hinreichend bestimmt: Die Frage der erforderlichen Bestimmtheit hängt unter anderem von den Besonderheiten im betreffenden Sachbereich ab. Demnach ist im Bereich des Infektionsschutzes eine Generalklausel im Sinne von § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 IfSG in der maßgeblichen Fassung sachgerecht. Denn der Gesetzgeber kann nicht voraussehen, welche neuen übertragbaren Krankheiten auftreten und welche Schutzmaßnahmen hiergegen erforderlich sein können.
  • Verhältnismäßigkeit: Die angegriffenen Verordnungsregelungen waren auch verhältnismäßig, so dass es sich hierbei um notwendige Schutzmaßnahmen im Sinne von § 32 Satz 1 in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG a. F. handelte. So entsprach das Ziel der Verordnung – nämlich physische Kontakte zu reduzieren, um die Ausbreitung von Corona zu bremsen – dem Zweck der Verordnungsermächtigung.
  • Tragfähige Begründungen: Die Annahmen des Verordnungsgebers – nach denen dieses Ziel ohne entsprechende Ge- und Verbote gefährdet und die Maßnahmen wegen einer möglichen Überlastung des Gesundheitssystems dringlich waren – basierten auf einer tragfähigen Grundlage. So durfte der Verordnungsgeber seine Annahmen vor allem auf die Risikobewertung des Robert Koch-Institutes (RKI) stützen.
  • Erforderlichkeit: Die angegriffenen Maßnahmen waren auch geeignet und erforderlich. Der Senat konnte nicht erkennen, dass dem Verordnungsgeber gleich wirksame und mildere Mittel zur Verfügung standen.
  • Einschätzungsspielraum: Zudem hatte der Verordnungsgeber aufgrund der damals fehlenden Erfahrungen mit Corona einen Einschätzungsspielraum. Dieser bezog sich drauf, die Wirkung seiner Maßnahmen im Vergleich zu anderen milderen Maßnahmen zu prognostizieren. Eine Überschreitung dieses Spielraums hat die Vorinstanz  rechtsfehlerfrei verneint.
  • Plausible Prognose:  Basierend auf den Feststellungen der Vorinstanz waren die Einschätzungen des Verordnungsgebers auch plausibel. So war in Bezug auf die Kontaktbeschränkungen ein gleich wirksames, aber milderes Mittel zu erkennen. Hinsichtlich der gastronomischen Einrichtungen hat die Vorinstanz festgestellt, dass ein besonders hohe Ansteckungsgefahr für eine Tröpfcheninfektion bestand, und zwar aufgrund der besonderen Nähe und fehlenden Ausweichmöglichkeiten von Gästen und Personal. Vor allem in Szene-Vierteln bestand die Gefahr von größeren Menschenansammlungen. Diese Risiken konnte selbst ein anspruchsvolles Hygienekonzept nicht so wirksam auffangen wie die Schließung von Gastronomiebetrieben. Auch bei Golfplätzen hat die Vorinstanz Bereiche festgestellt, die zahlreiche Spieler zusammen aufsuchen und damit das Ansteckungsrisiko erhöhen.
  • Kein Missverhältnis zwischen Zweck und Schwere der Eingriffe: Abschließend, so der Senat weiter, habe die Vorinstanz zu Recht angenommen, dass die zu erwartende Zweckerreichung nicht außer Verhältnis zur Schwere des Eingriffs steht.  
Quelle: PM des BVerwG vom 22.11.2022 zum Urteil vom selben Tag – 3 CN 1.21


Im Gespräch mit Niko Härting

Corona im Rechtsstaat

Wer hätte sich vor Corona vorstellen können, es schon bald mit Grundrechtseingriffen zu tun zu bekommen, die es zumindest im Westen Deutschlands so seit 1949 nicht gab? Oder wie schnell sich das gesamte gesellschaftliche Leben herunterfahren lässt? Zu schnell? Bleiben in der Krise Bürgerrechte und der Rechtsstaat auf der Strecke?

Den Verlauf der gesellschaftlichen Diskussion im ersten Pandemiejahr zeichnet dieses Buch eindrucksvoll nach. Im Austausch zwischen Niko Härting und seinen prominenten Gesprächspartnern entsteht ein vielstimmiges Kaleidoskop zu so vielseitigen wie grundlegenden Fragen einer beispiellosen Krisenlage:

  • Wie weit hält das Grundgesetz in diesen Krisenzeiten stand, funktioniert die Gewaltenteilung eigentlich noch?
  • Wie ist die Verhältnismäßigkeit einzelner Maßnahmen zu beurteilen?
  • Wie ist der Datenschutz zu bewerten, verhindert er die Pandemiebekämpfung?
  • Wie steht es um die Verlässlichkeit z.B. von Rechenmodellen zum Pandemiegeschehen?
  • Wer hat das Sagen? Die Wissenschaft, die Exekutive? Die Parlamente, die parlamentarische Opposition? Welche Rolle spielen die Medien?

Vielstimmig und kritisch in 39 Interviews: Sie finden Gespräche mit Konstantin Kuhle, Peter Schaar, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Katja Keul, Stefan Brink, Ulrich Kelber, Thomas Ramge, Nikolaus Forgó, Frederick Richter, Konstantin von Notz, Saskia Esken, Henning Tillmann, Ulrich Battis, Kyrill-Alexander Schwarz, Till Steffen, Malte Engeler, Paul Schwartz, Justus Haucap, Linda Teuteberg, René Schlott, Johannes Caspar, Barbara Thiel, Hans Michael Heinig, Horst Dreier, Michael Will, Indra Spiecker, Kai von Lewinski, Andrea Kießling, Johannes Fechner, Florian Schroeder, Manuela Rottmann, Stefan Brink, Paul van Dyk und Jonas Schmidt-Chanasit.

Das Buch zum PinG-Podcast: Die vielseitigen Erfahrungen und Perspektiven bekannter Persönlichkeiten, die im PinG-Podcast „Corona im Rechtsstaat“ geteilt wurden, durchleuchten dabei auch viele Nebenfolgen der Krise kritisch – auf den Datenschutz, auf ökonomische und soziale Folgen, auf leere Theater und Hörsäle.

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(ESV/bp)

Programmbereich: Staats- und Verfassungsrecht