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Die Beichte ist elementarer Bestandteil des christlichen Glaubens. Volkssprachliche Literatur des Mittelalters thematisiert Sündenerkenntnis und Beichte als „Anleitung” für die eigene Reflexion der Rezipierenden. (Foto: Anneke / stock.adobe.com)
Auszug aus: Sündenerkenntnis, Reue und Beichte (Sonderhefte zur ZfdPh)

Confessio – remissio – satisfactio: Die Beichte in mittelalterlicher Literatur

ESV-Redaktion Philologie
26.10.2022
Heutzutage haben sich viele Menschen von der Kirche entfremdet und können mit traditionellen Handlungen wie der Beichte nicht mehr viel anfangen. Die Beichte, wie wir sie heute kennen und die immer noch eines der sieben Sakramente der katholischen Kirche ist, hat allerdings erst im 12. Jahrhundert ihren festen Platz als religiöses Ritual eingenommen.
Im hohen und späten Mittelalter durchläuft die Beichte einen Wandel, der zu einer starken Aufwertung der Reue und Gewissenserforschung führt. Der Sünder muss das eigene Innere reflektieren und diese Reflexion in der Beichte verbalisieren. Dabei wird er wiederum vom Beichtvater beobachtet, angeleitet und schließlich aus seiner Schuld entlassen. In Erzählungen volkssprachlicher Literatur des Mittelalters wird dieses Zusammenspiel der Selbst- und Fremdbeobachtung bei der Beichte unterschiedlich bearbeitet, variiert und zuletzt durch die Erzählebene noch einmal zusätzlich perspektiviert.

Die verschiedenen Konstellationen, die sich in Texten dabei ergeben, sind Thema des aktuellen Sonderhefts Sündenerkenntnis, Reue und Beichte zum 141. Band der Zeitschrift für deutsche Philologie. Susanne Reichlin untersucht in ihrem darin veröffentlichten Aufsatz Wunderbare Sichtbarkeit fünf Versionen eines Exempels im Hinblick auf das Verhältnis von Selbst- und Fremdbeobachtung bei der Beichte. Lesen Sie hier einen Ausschnitt aus ihrem Beitrag:

„Reue und Beichte gehören zu den in spätmittelalterlichen Exempel- oder Mirakelsammlungen am meisten behandelten Themen. Dies liegt wohl nicht zuletzt daran, dass die Texte auf Fragen und Unbestimmtheiten reagieren, die sich beim Vollzug von Reue und Beichte stellen. So wird beispielsweise durch die immer detailliertere Beschreibung der diversen Sündenmöglichkeiten, die auch vielschichtige Intentionen oder dem Sünder unbekannte Sünden betreffen, die Heilsunsicherheit verstärkt.

Der einzelne Gläubige ist nur bedingt in der Lage, seine Sünden richtig einschätzen zu können, er braucht den Spezialisten bzw. Beichtnehmer, der ihn über die Sünden und ihren Schweregrad belehrt. Der Beichtnehmer wiederum hat aber keinen direkten Zugang zum Inneren des Sünders. Er ist auf die Aussagen und Selbstbeobachtungen des Sünders angewiesen, um den Grad der Reue oder verborgene Intentionen zu beurteilen. Die Aussagen des Sünders und die externe Beobachtung durch den Beichtnehmer, Selbst- und Fremdbeobachtung müssen so aufeinander bezogen werden, gehen aber keineswegs immer harmonisch ineinander auf. Dazu kommt, dass der Beichtnehmer keineswegs nur beobachtet, sondern das Gesagte auch deutet und beurteilt. Es entsteht so in der Praxis ein Kontinuum zwischen Beobachten, Deuten, Erklären und Beurteilen.

Im Folgenden möchte ich einen spätantiken Exempelstoff in den Blick nehmen, der im Spätmittelalter breit tradiert worden ist, weil er auf die oben beschriebene Konstellation reagiert. Der Stoff stammt aus den „Vitaspatrum” (V,18,20) und findet sich in der Berliner Handschrift mgf 863 von ca. 1435 gleich in zwei Versionen.
Berichtet wird darin von einem Menschen, der von Gott mit einer besonderen Sehfähigkeit beschenkt wird: Er kommt zu einer Kirche und sieht, welcher Kirchgänger sündig und welcher sündenfrei zur Messe geht. Er betet während der Messe für den schlimmsten Sünder. Anschließend erkennt er, dass dieser die Kirche sündenfrei verlässt. Im Gespräch erfahren er und die anderen Anwesenden vom Sünder, dass dieser während der Predigt zur Sündenerkenntnis und Reue bewogen worden ist.
Für das Verhältnis von Selbst- und Fremdbeobachtung ist dieser Stoff besonders aufschlussreich: Auf der einen Seite gibt es einen Beobachter, der geradezu als Stellvertreter Gottes auf Erden den Sündengrad des Einzelnen erkennt. Auf der anderen Seite ist dessen Sichtweise eigentümlich begrenzt: Er weiß nicht, wie die Veränderung des Sündengrads zustande gekommen ist, und muss deshalb den Sünder selbst befragen. Er ist so auf die Selbstbeobachtungen des Sünders angewiesen.

Erzähltechnisch ist zu untersuchen, wie die verschiedenen Sichtweisen der Figuren dargeboten werden und wie das von den Figuren Gesehene vom Erzähler oder den Figuren gedeutet wird:
Welche Kausalitäten zwischen Selbstbeobachtung, Sündenerkenntnis, Reue und Lösung der Sündenschuld werden konstatiert oder gerade nicht spezifiziert? Mit dem externen Beobachter haben wir zudem eine Figur, die den Sünder zwar beobachtet, sich um ihn sorgt und für ihn betet, ohne aber sein Beichtvater zu sein. Es ist zu analysieren, wie diese Vigilanzinstanz in den verschiedenen Versionen zu einer zweiten stärker institutionell eingebundenen Figur, dem Prediger, ins Verhältnis gesetzt wird und wie in einzelnen Versionen Reue und Beichte aufeinander bezogen werden.

Um diese Fragen zu beantworten, werden anhand einer heuristischen Textreihe fünf volkssprachliche Versionen des skizzierten Exempelstoffs genauer untersucht. Die verschiedenen Stoffversionen gestalten das Verhältnis von Beobachter und Sünder, aber auch die Rolle der Gemeinschaft, die Erzählperspektive sowie das Verhältnis von Reue und Beichte jeweils unterschiedlich.“


Haben wir Ihr Interesse geweckt? Dann lesen Sie den vollständigen Aufsatz sowie weitere Forschungstexte zu Sündenerkenntnis und Beichte in dem aktuellen Sonderheft zum Band 141 der ZfdPh. Sie können das vollständige Heft bequem hier versandkostenfrei bestellen.


Zu den Herausgerberinnen

Magdalena Butz wurde 2020 mit einer Studie zum Erzählen vom Heil in Heinrichs von Neustadt „Gottes Zukunft” promoviert. Seither ist sie als Post-Doc im SFB 1369 „Vigilanzkulturen” tätig und arbeitet an einem Habilitationsprojekt zu Strategien und Praktiken der Selbst- und Fremdbeobachtung in der deutschsprachigen Literatur vor dem Hintergrund des spätmittelalterlichen Buß- und Beichtdiskurses.

Beate Kellner ist Professorin für Germanistische Mediävistik an der LMU-München. Sie ist Co-Leiterin des Teilprojektes „Wachsamkeit und Achtsamkeit. Literarische Dynamiken von Selbstbeobachtung und Fremdbeobachtung in mittelalterlicher deutschsprachiger Lyrik” am SFB 1369 „Vigilanzkulturen”.

Susanne Reichlin, Professorin für Deutsche Literatur des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit bis 1700 mit einem Schwerpunkt auf der Texttheorie an der LMU- München, ist Co-Leiterin des Teilprojektes „Wachsamkeit und Achtsamkeit. Literarische Dynamiken von Selbstbeobachtung und Fremdbeobachtung in mittelalterlicher deutschsprachiger Lyrik“ am SFB 1369 „Vigilanzkulturen”.

Agnes Rugel ist Doktorandin des Teilprojektes „Wachsamkeit und Achtsamkeit. Literarische Dynamiken von Selbstbeobachtung und Fremdbeobachtung in mittelalterlicher deutschsprachiger Lyrik” am SFB 1369 „Vigilanzkulturen” und arbeitet zur Wächterfigur im geistlichen Tagelied des Spätmittelalters.


Sündenerkenntnis, Reue und Beichte
Konstellationen der Selbstbeobachtung und Fremdbeobachtung in der mittelalterlichen volkssprachlichen Literatur

Herausgegeben von: Magdalena Butz, Beate Kellner, Susanne Reichlin, Agnes Rugel

 

Der Wandel, den die Konzepte von Buße und Beichte im hohen und späten Mittelalter durchlaufen, geht mit einer starken Aufwertung der Reue und mit der Notwendigkeit einer intensiven Gewissenserforschung einher. Der Sünder muss sich in jeder Lebenslage Klarheit über seine Sündhaftigkeit verschaffen und lernen, seine Reue darüber mit sprachlichen wie außersprachlichen Mitteln zu externalisieren.
Diese Notwendigkeit wird nicht nur in den gelehrt-lateinischen Schriften des Mittelalters diskutiert und begründet sowie in normativem Schrifttum eingefordert. Vielmehr werden die Themen Reue, Beichte und Buße auch in einem breiten Spektrum volkssprachlicher Texte aufgegriffen und verhandelt: Sie leiten den Sünder zur Beobachtung und Erforschung seiner selbst an, führen das Schuldbekenntnis performativ vor oder entwerfen Drohkulissen, vor denen die Dringlichkeit und Notwendigkeit einer Wachsamkeit gegenüber dem Selbst deutlich wird.
Die hier versammelten Beiträge zeigen exemplarisch, wie in der volkssprachlichen Literatur versucht wird, die Wachsamkeit des Ichs zu intensivieren und das Sündenbewusstsein der Rezipierenden zu schärfen. Dabei stehen die in den Texten verwendeten sprachlichen und klanglichen Mittel, mit denen der Sünder zur Wachsamkeit stimuliert werden soll, ebenso im Fokus wie die Argumente, Appellstrukturen und Verweise auf Gefahren, die ihn zur Conversio und zur regelmäßigen Beichte animieren.

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik