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„Alemão em Cena“ / „Deutsch auf der Bühne“, Goethe-Institut Lissabon © Carlos Pedrosa.
Auszug aus: Fremdsprache Deutsch

Das Pendel schlägt um: Performative Didaktik

ESV-Redaktion
09.04.2020
„Performativität“ – wieder ein neues Schlagwort in der Didaktik. Was genau dahinter steckt und wie sich performative Ansätze im Fremsprachenunterricht umsetzen lassen, stellt Heft 62 der Zeitschrift „Fremdsprache Deutsch“ vor.
Lesen Sie hier einen Auszug aus dem einführenden Artikel des Heftherausgebers Maik Walter:

Und wieder ein neues Schlagwort! Nachdem Lehrende in den letzten Jahren viel über den kompetenzorientierten Deutschunterricht erfahren haben, scheint es wieder an der Zeit zu sein, dass das didaktische Pendel in die andere Richtung ausschlägt. Doch wohin geht der Weg? Die Erfahrung lehrt, dass der Umschwung ins andere Extrem ansteht: Richten wir unseren Blick also von der viel gepriesenen Kompetenz(orientierung) hin zur Performanz, zumal immer häufiger von Performativer Fremdsprachendidaktik gesprochen und geschrieben wird und diese Zeitschrift dem Thema nun sogar ein ganzes Heft widmet.

Was hat es damit auf sich? Versteckt sich hinter dieser Richtung mehr als nur der Bezug zur künstlerischen Performance, die die Theaterwissenschaftlerin und Theaterpädagogin Ute Pinkert (2005) als „Irritation des Alltags“ definiert? Warum sollten Lehrkräfte sich irritieren lassen? Irritationen können eine Veränderung bewirken, wenn wir uns auf sie einlassen. Das heißt im Unterricht, das eigene Handeln als Lehrkraft in Frage zu stellen, sich auf ein anderes Denken und Handeln einzulassen. Es bedeutet, zuzuhören und genau wahrzunehmen, was ein Gegenüber in der Kommunikation ausdrücken will, Routinen zu hinterfragen und gegebenenfalls auch bereit zu sein, diese aufzugeben. Ein Satz, den man insbesondere in der Performativen Didaktik nur ungern hört, ist das beliebte „Das haben wir schon immer so gemacht!“. Performatives Arbeiten heißt, sich mit dem Willen zur ästhetischen Gestaltung auf die Einzigartigkeit einer Handlung einzulassen. Mut zum Experiment! Das hat viel mit Unterricht zu tun, keine Klasse, keine Stunde gleicht haargenau einer anderen. Gute Lehrkräfte können wiederkehrende Elemente einbauen, ohne dass der Unterricht seine Einzigartigkeit verliert. Sie lassen sich irritieren und nutzen diese Momente produktiv für ihren Unterricht. So kann aus jeder Stunde eine kleine Performance werden.

Unterricht als Performance

Lehrkräfte, die diesen gedanklichen Schritt gegangen sind, können sich häufig kaum vorstellen, auf andere Weise zu unterrichten. Das wohl bekannteste Beispiel aus der Performativen Didaktik ist der Einsatz von Standbildern, bei denen eine Gruppe mit ihren Körpern einen Begriff wie beispielsweise Mietendeckel oder Einfamilienhaus darstellt. Wie bei einem Film, der gestoppt wird, verharrt eine Kleingruppe als eine menschliche Skulptur. Thema der Skulptur ist der zuvor ausgewählte Begriff. Solche Standbilder sind ohne großen Aufwand schnell umzusetzen und haben sich auch deshalb im Fremdsprachenunterricht als Aktivität etablieren können (Walter 2016). Die durch die Schülerinnen und Schüler geschaffenen Bilder können hierbei durchaus irritieren und bieten häufig Sprechanlässe, die in einer Reflexionsphase produktiv genutzt werden können. Hierin liegt jedoch auch die Gefahr: Wenn sie wiederholt eingesetzt werden, können sie sich als Aktivität schnell abnutzen. Standbilder sollten als Präsentationsform angemessen sein und Lehrende sollten auch verschiedene Möglichkeiten kennen, diese auszuwerten, beispielsweise in einem improvisierten Expertenvortrag, als menschliche Bilder, die man zum Sprechen bringt oder als ein stilles Bild, das auf die restliche Klasse wirken und anschließend als Schreibimpuls für einen Minidialog genutzt werden kann. Diese unterschiedlichen Möglichkeiten (vgl. für weitere Varianten Sambanis/Walter 2019, 42–45) bewahren vor der hier skizzierten Gefahr des Abnutzens.

Wir hoffen, dass Sie nach der Lektüre dieser Ausgabe durchaus irritiert sind, aber hoffentlich nicht aufgrund der begrifflichen Unschärfe, diese lässt sich vielleicht etwas entwirren. Wir hoffen vielmehr, dass Sie irritiert sind durch die Vielzahl von Herangehensweisen, mit denen man performativen Deutschunterricht gestalten kann. Vielleicht gelingt es uns mit unseren Beiträgen sogar, dass Sie als Lehrperson selbst Teil einer performativen Wende im Rahmen der Fremdsprachendidaktik werden.

Schauen wir uns zunächst ein weiteres Beispiel aus dem Unterricht ausführlicher an, um besser einordnen zu können, was ein performativer Fremdsprachenunterricht sein kann.

Auf dem Bahnhof: Performative Didaktik in der Praxis

Eine Gruppe von Lernenden steht auf dem Berliner Hauptbahnhof. Wir befinden uns in einem performativ ausgerichteten DaF-Unterricht: Jeweils zu zweit interviewen die Lernenden Fahrgäste, die auf ihren Zug warten und die demnach etwas Zeit für die Fragen haben. Sie stellen Fragen zu Themen wie Warten, Sehnsuchtsorte oder Pendeln als Lebensform. Diese wurden in den vorangegangenen Unterrichtsstunden unter verschiedenen Perspektiven selbst untersucht. Es wurden Unterthemen recherchiert, spannende Fragen (z. B. Was ist eine Pendlerpauschale? Wie viele Menschen pendeln in Deutschland? Und macht Pendeln krank?) zusammengetragen und am Ende wurden die Fragen in die Form eines Leitfadeninterviews gebracht. Die Lernenden nehmen verschiedene Interviews mit ihren Smartphones auf und schreiben am nächsten Tag zu zweit die Antworten der Reisenden auf. Hier wird der Anspruch auf die Arbeit mit authentischem Sprachmaterial sowie auf den Zugang zur gesprochenen Sprache im Unterricht eingelöst. Die transkribierten Interviews stellen für die nächsten Tage das wesentliche Unterrichts- und Spielmaterial dar. Neben der Phonetik können hier Phänomene der gesprochenen Sprache von den Lernenden erkundet werden. Auf verschiedene Weise werden am Ende der Unterrichtsreihe die Ergebnisse der Befragung in einer Performance präsentiert, beispielsweise werden die Antworten zu einem Text verdichtet und als Monolog vorgetragen oder aber in chorischer Form von der gesamten Gruppe gesprochen. Es werden Standbilder und Geräuschkulissen entwickelt (Walter 2016). All dies sind ästhetische Formen, die aus der Performance entlehnt sind und dort überzeugend seit Jahren eingesetzt werden (Hilliger 2017). Nutzt man diese ästhetischen Möglichkeiten im Fremdsprachenunterricht, wird von Performativer Fremdsprachendidaktik gesprochen (zum Überblick vgl. Even & Schewe 2016). Und genau darum soll es in diesem Heft gehen: Vorschläge zu unterbreiten, wie man performativ – also mit dem Bezug zu den Performativen Künsten – im Unterricht Deutsch als Fremdsprache arbeiten kann.

Übertragung auf andere Unterrichtskontexte

Das hier skizzierte Interview auf dem Bahnhof wurde mehrfach in vierwöchigen studienvorbereitenden Deutschintensivkursen am Sprachenzentrum der Humboldt-Universität zu Berlin eingesetzt, um Spielmaterial für eine Inszenierung mit Studierenden zu gewinnen. Diese Inszenierungen sind am Ende des Kurses vor einem größeren Publikum gezeigt worden. In die Erarbeitung dieser Präsentation wurden die zu vermittelnden Strukturen in den Spielprozess eingearbeitet (zum konkreten Vorgehen vgl. den Beitrag von Maik Walter in Küppers/Schmidt/Walter 2011). Diese Idee, ein Interview durchzuführen und theatral aufzubereiten, ist auf andere Unterrichtskontexte übertragbar. Das gilt im Übrigen für einen Großteil der vorgeschlagenen performativen Unterrichtsideen in dieser Ausgabe. Auch wenn ein Vorgehen beispielsweise für Grundschülerinnen und Grundschüler in Deutsch als Zweitsprache gezeigt wurde, können mit wenigen Änderungen auch andere Gruppen erreicht werden, ob nun Erwachsene oder auch der Bereich Deutsch als Fremdsprache.
 
Lesen Sie mehr in Heft 62 von „Fremdsprache Deutsch“, die am 30. April erscheinen wird. Weitere Artikel und Zusatzmaterialien zum kostenlosen Download finden Sie zudem auf der Homepage FremdpracheDeutschdigital.de.

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  • Hefte zu aktuellen Themen aus Methodik und Didaktik Deutsch als Fremdsprache
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Jedes Heft wird von einem Grundlagenartikel des Heftherausgebers eingeleitet. In diesem Artikel werden der aktuelle Forschungsstand zum Heftthema und die neuen Trends in Methodik und Didaktik gut verständlich aufbereitet.

Autoren und Autorinnen aus aller Welt greifen in den folgenden acht bis zehn Artikeln diese theoretischen Grundlagen auf und führen weiter aus, welche Umsetzungsmöglichkeiten es im Unterricht gibt. Alle Artikel folgen dem Motto „aus der Praxis, für die Praxis“ und möchten konkrete Unterstützung für Ihre tägliche Arbeit im Sprachunterricht bieten.

(ESV/KE)

Programmbereich: Deutsch als Fremdsprache