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Unterstreicht ebenso wie Ralf Junkerjürgen, Jochen Mecke und Hubert Pöppel mit ihrem gemeinsamen Sammelband den Stellenwert spanischer Gegenwartsliteratur: Dagmar Schmelzer (Foto: Privat)
Nachgefragt bei PD Dr. Dagmar Schmelzer, Prof. Dr. Ralf Junkerjürgen, Prof. Dr. Jochen Mecke und Prof. Dr. Hubert Pöppel

„Der Auftritt als Gastland auf der Frankfurter Buchmesse wird als große Chance angesehen“

ESV-Redaktion Philologie
15.07.2022
Sie möchten sich gedanklich auf die anstehende Frankfurter Buchmesse vorbereiten und suchen nach Lektüretipps, die Ihnen das Gastland Spanien näherbringen? Im Erich Schmidt Verlag erscheint nun ein Sammelband, in dem 23 Autorinnen und Autoren die „Wegmarken der spanischen Literatur des 21. Jahrhunderts“ aufbereiten. Wir haben mit der Herausgeberin Dagmar Schmelzer für das Forschungszentrum Spanien und auch im Namen der Herausgeber Prof. Dr. Ralf Junkerjürgen, Prof. Dr. Jochen Mecke und Prof. Dr. Hubert Pöppel gesprochen.
Liebe Frau Schmelzer, unter dem Motto „Creatividad Desbordante – Sprühende Kreativität“ präsentiert die diesjährige Frankfurter Buchmesse den Ehrengast Spanien. Sie würdigen das Land, indem Sie mit Ihrem Sammelband erstmals die spanische Literatur dieses Jahrhunderts in deutscher Sprache vorstellen. Weshalb war es Ihnen hierbei wichtig, sich nicht auf die Landessprache zu beschränken, sondern auch galizischen, katalanischen und baskischen Werken eine Bühne zu bieten?

Dagmar Schmelzer: Die Literatur Spaniens in diesem noch jungen Jahrhundert zeichnet sich nicht nur durch ihre Kreativität aus, sondern auch durch ihre Vielstimmigkeit. Das Faszinierende an der spanischen Kultur liegt gerade darin, dass sie eine so große Bandbreite abdeckt und für jede und jeden etwas zu bieten hat. Ein Aspekt dieses Reichtums ist, dass sie sich in unterschiedlichen Sprachen ausdrücken kann. Jede dieser Sprachen bewahrt ganz bestimmte eigene wie auch gemeinsame Erfahrungen und Erinnerungen auf, die zusammen den kulturellen Reiz Spaniens ausmachen. Zugegeben: Disharmonien und Verständnisschwierigkeiten lassen sich dabei nicht immer vermeiden. Doch ein Land, das die zukünftigen Probleme unserer Gesellschaften aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten kann, ist allemal besser aufgestellt, als eines, das nur den Blick durch ein und dieselbe Brille kennt

Mit welchen spanischen Romanen befassen sich die Beiträgerinnen und Beiträger in Ihrem Sammelband?

Dagmar Schmelzer: Es geht in diesem Band über spanische Gegenwartsliteratur natürlich noch nicht darum, bereits eine vollständige und ausgewogene Bilanz zu ziehen. Wir wollten zunächst einmal die ganze Vielfalt dieser Literatur zeigen, zu der auch aufstrebende, neue Stimmen sowie Werke populäreren Zuschnitts gehören.
Bei der Planung des Bandes hatten wir deshalb möglichst wenige Vorgaben für die Auswahl der Werke gegeben. Umso erfreuter waren wir, als wir sahen, welch breites Spektrum die Kolleginnen und Kollegen aus der deutschsprachigen Hispanistik abdecken. In ihren Beiträgen beschäftigen sie sich zum einen mit Werken von Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen Generationen. Zu den bereits aus der Zeit vor der Jahrtausendwende bekannten Romanciers zählen unter anderem Eduardo Mendoza, Rafael Chirbes, Javier Marías oder Soledad Puértolas. Zu den Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die nach der Jahrtausendwende ihre Karriere begannen oder international anerkannt wurden, gehören zum Beispiel Javier Cercas, Carlos Ruiz Zafón, Matilde Asensi oder Fernando Aramburu. Eine dritte Gruppe bilden schließlich die ganz jungen Autorinnen und Autoren, die erst in den letzten Jahren auf sich aufmerksam gemacht haben, wie etwa Milena Busquets, Cristina Morales oder Andrea Abreu.
Das breite Spektrum der besprochenen Werke bemisst sich jedoch nicht nur an den Geburtsdaten der Autorinnen und Autoren, sondern, wie bereits erwähnt, an den Sprachen, in denen die Romane verfasst wurden, sowie an weiteren und sehr unterschiedlichen Erfahrungsbeständen regionaler oder kultureller Art, die in die Texte einflossen (vgl. Núria León de Santiago oder Andrea Abreu). Darüber hinaus zeigt sich die Pluralität des spanischen Romanschaffens der letzten zwei Jahrzehnte auch daran, dass einige der besprochenen Romane eher populären Genres und Tendenzen zuzuordnen sind (wie die Texte von Matilde Asensi, Carlos Ruiz Zafón oder Eduardo Mendoza), während andere historische Ereignisse oder Krisenerfahrungen bearbeiten (Javier Cercas, Rafael Chirbes, Fernando Aramburu, aber auch Clara Usón) oder experimentelle Sprachformen heranziehen (wie Cristina Morales und Andrea Abreu).

Welche Kriterien lassen einen Roman zur „Wegmarke“ der spanischen Literatur des 21. Jahrhunderts werden?

Dagmar Schmelzer: Zur „Wegmarke“ wird ein Roman wohl, wenn er das Zeug hat, in irgendeiner Form kanonisch zu werden – ein kleiner Zirkelschluss, zu dem natürlich der Band selbst beiträgt, wenn die Kolleginnen und Kollegen solche Romane besprechen, von denen sie glauben, dass sie zu „Wegmarken“ taugen; Texte, die sie damit ins Gespräch bringen und im Gespräch halten. Doch welcher Roman sich tatsächlich als „Wegmarke“ etabliert, mithin von anderen als Vorbild genommen wird und thematisch oder ästhetisch eine Epoche prägt, das wird letztlich erst die Zukunft erweisen.
Allerdings gibt es auch einige Kriterien, die zumindest erste Hinweise darauf geben, dass ein Roman möglicherweise keine Eintagsfliege bleibt. Die Zahl der Leserinnen und Leser in Spanien spielt dabei eine Rolle, die Zahl der Übersetzungen in andere Sprachen, die Umsetzung des Romans in andere Medien (Filme, Serien, Comics u. a.), außerdem Besprechungen, Rezensionen, literaturwissenschaftliche Beiträge und anderes mehr.
Insofern geht es in diesem Band, wie bereits gesagt, noch nicht darum, bereits eine vollständige und ausgewogene Bilanz zu ziehen, sondern repräsentativ die ganze Vielfalt der spanischen Gegenwartsliteratur zu zeigen. Und zwar, das muss und darf auch gesagt werden, aus der Perspektive von Hispanistinnen und Hispanisten des deutschsprachigen Raums mit ihren Vorlieben, Leseerfahrungen und ihren Forschungsinteressen. Deshalb gehören zu dieser Auswahl möglicher „Wegmarken“ eben nicht nur die schon allgemein anerkannten Texte bekannter Autorinnen und Autoren, sondern auch Geheimtipps, eventuelle „Wegmarken“ für wichtige Nischen und neu zu entdeckende Stimmen aus Spanien.

Auszug aus: „Wegmarken der spanischen Literatur des 21. Jahrhunderts“ 22.06.2022
Fiktionales Plädoyer für Toleranz
Woran denken Sie bei Spanien? An Stierkampf, Flamenco und Tapas? Diese Assoziationen entsprechen nur einem Teil des spanischen Gebiets der Iberischen Halbinsel. Neben der offiziellen Landessprache werden beispielsweise auch Galizisch, Katalanisch und Baskisch gesprochen. Auch die in Spanien lebenden Minderheiten sind Teil der spanischen Kultur und sollten nicht vergessen werden. Im Erich Schmidt Verlag erscheint ein Sammelband, dessen 22 Beiträge die spanische Literatur von der Jahrtausendwende bis in die heutige Gegenwart erstmals in deutscher Sprache beleuchten und der Vielfalt in Spanien gerecht werden. mehr …

Welche Motive kennzeichnen die spanische Literatur des 21. Jahrhunderts?

Dagmar Schmelzer: Einige thematische Bereiche der spanischen Gegenwartsliteratur lassen sich relativ klar abstecken. Dazu gehören zum Beispiel die Erinnerung an den Bürgerkrieg, die Diktatur und den Übergang in die Demokratie, das heißt die Aufarbeitung der Zeitgeschichte. Dazu gehören weiterhin die vielen Krisen, die Spanien in den letzten zwanzig Jahre durchlebte, die sich auch in der Literatur in den Vordergrund drängen. Ebenso rücken das Baskenland, Katalonien und Galicien mit ihren je spezifischen Problemlagen und eigensprachlichen Traditionen stärker in den Fokus.
Allerdings beschränkt sich die spanische Literatur nicht darauf, die Themen der politischen Debatten und die gesellschaftlichen Diskurse einfach zu übernehmen. Sie antwortet vielmehr darauf mit weitergehenden Fragestellungen, etwa zu anderen Perspektiven in der historischen Rückschau und der gegenwärtigen Erinnerungskultur, mit dem Blick auf die alltäglichen Lebenswelten der Menschen in der Diktatur oder mit dem Blick aus Spanien heraus, etwa auf den Balkan oder nach Lateinamerika. Die spanische Literatur – gerade auch die jungen Autorinnen – antwortet darauf zudem mit einem Wechsel der Perspektive vom Großen und Ganzen der politischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge hin zum Leben mit seinen immer wieder neu zu bewältigenden Krisen: dem Umgang mit eigenen Schwächen und Behinderungen, dem Erwachsenwerden, der Liebe und natürlich auch dem Tod.

Sie widmen je ein Kapitel der Lyrik, dem Theater und dem Buchmarkt in Spanien. Welche Tendenzen können in diesen Bereichen ausgemacht werden?

Dagmar Schmelzer: Ein Band über die spanische Gegenwartsliteratur darf sich auf den Roman bzw. die narrativen Gattungen konzentrieren, denn dort liegen zur Zeit vorwiegend die Interessen der Leserinnen und Leser. Aber er darf selbstverständlich die Lyrik und das Theater nicht ausschließen, selbst wenn oder gerade weil die spanische Lyrik und das spanische Theater in Deutschland nicht die Aufmerksamkeit bekommen, die sie eigentlich verdienen.
Welche Tendenzen können dabei ausgemacht werden? Für das Theater konstatiert Frau Bauer-Funke in ihrem Beitrag insbesondere ein kritisches Bewusstsein für die vielen unterschiedlichen Krisen und Krisendiskurse sowie den Impetus der Stücke, zum politischen und sozialen Engagement aufzurufen. Im Bereich der Gegenwartslyrik erkennt unser Kollege Gómez-Montero, der übrigens auch die Übersetzung spanischer Lyrik ins Deutsche fördert, eine kaum zu bändigende Kreativität der spanischen Dichterinnen und Dichter. Die Vielzahl von Stimmen und die Pluralität im Verständnis von Lyrik und ihren Aufgaben erschwert natürlich thematische und ästhetische Einordnungen. Zumindest jedoch kann man sagen, dass die Lyrik am Puls der Zeit ist, und zwar nicht nur bei dem, was sie thematisch aufgreift und wie sie dies dichterisch umsetzt, sondern auch in der Art und Weise der Präsentation und Publikation. Denn längst werden die traditionellen Gedichtbände und Anthologien auch in Spanien durch Onlineportale, Blogs oder Lyrikperformances wie Poetry Slams oder Readings in Nature ergänzt.
Dass wir zudem ein Kapitel zum spanischen Buchmarkt aufgenommen haben, verdankt sich unter anderem der Tatsache, dass in Spanien der Auftritt als Gastland auf der Frankfurter Buchmesse als große Chance angesehen wird. Als Chance, nicht nur die eigene Literatur dem Publikum aus aller Welt und speziell dem deutschen Publikum zu präsentieren, sondern auch als Chance, mit dem Buchmarkt einen wichtigen Wirtschaftszweig zu stützen, der ja im Fall von Spanien aufgrund der sprachlichen und kulturellen Nähe in besonderer Weise Europa mit Lateinamerika verbindet.

Mit Ausblick auf die kommenden Messetage in Frankfurt: Welche Entwicklungen erhoffen Sie sich für die Zukunft der spanischen Literatur?

Dagmar Schmelzer: Zunächst erhoffen wir uns das Gleiche, was wir uns mit unserem Band zum Ziel gesetzt haben: dass nämlich die deutschen Leserinnen und Leser neugierig auf spanische Literatur werden. Daran schließt dann der zweite Wunsch direkt an: dass die vielen neuen Übersetzungen ins Deutsche aus Anlass der Buchmesse kein Strohfeuer darstellen, sondern dass sich die spanische Literatur einen eigenen Markt erschließt, bei dem sich die Übersetzungen auch ohne Hilfen und Subventionen selbst tragen.
Für die spanische Literatur selbst brauchen wir uns von unserer Warte als deutsche Hispanistinnen und Hispanisten aus eigentlich gar nichts zu erhoffen, denn wir wissen ja aus eigener Leseerfahrung, dass es um die spanische Literatur gut bestellt ist. Die jungen spanischen Autorinnen und Autoren – oder besser: die Autorinnen und Autoren aus und in Spanien – werden, davon sind wir überzeugt, die Zukunft der spanischen Literatur wahrlich gut gestalten.

Wir bedanken uns für dieses interessante Interview!

Die Herausgeberin und die Herausgeber
Dagmar Schmelzer, Privatdozentin für romanische Literatur- und Kulturwissenschaft (Universität Regensburg), Arbeitsschwerpunkte: Literatur, Film und Kultur Spaniens im 20. und 21. Jahrhundert.

Ralf Junkerjürgen, Professor für romanische Kulturwissenschaft (Universität Regensburg), Arbeitsschwerpunkte: Spanische Kultur seit dem 19. Jahrhundert; Literatur- und Filmgeschichte.

Jochen Mecke, Professor für romanische Literatur- und Kulturwissenschaft (Universität Regensburg), Arbeitsschwerpunkte: Spanische Literatur und Kultur der Neuzeit und der Gegenwart.

Hubert Pöppel, Geschäftsführer des Forschungszentrums Spanien (Universität Regensburg), Arbeitsschwerpunkte: Spanische Literatur und Kultur der Gegenwart.

Wegmarken der spanischen Literatur des 21. Jahrhunderts
Herausgegeben von: Dagmar Schmelzer, Ralf Junkerjürgen, Jochen Mecke, Hubert Pöppel

Das Interesse an Spanien als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2022 ist groß. Diesem Umstand trägt der vorliegende Band mit einer Bestandsaufnahme der spanischen Literatur im noch jungen 21. Jahrhundert Rechnung. Die von renommierten Literatur- und Kulturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern vorgelegten Einzelinterpretationen stellen speziell für deutsche Leserinnen und Leser rund zwanzig markante narrative Werke aus zwei Jahrzehnten vor. In ihrer Zusammenschau bilden sie möglichst repräsentativ das Gesamtspektrum ab: vom Bestseller zum Geheimtipp, von Romanen schon bekannter zu solchen noch junger Autorinnen und Autoren, die zudem in den vier wichtigsten Sprachen Spaniens schreiben. Ergänzt werden diese Einzelwerkanalysen durch drei Beiträge, die einen Einblick in die Entwicklung der spanischen Lyrik, des Theaters sowie des Buchmarktes geben. Als erste Hinführung soll dieser Band neugierig machen auf eine eigene Lektüre der spanischen Literatur der Gegenwart.

Programmbereich: Romanistik