
Der „Dritte Ort“ beim Wegeunfall
Dem Urteil des BSG vom 30.1.2020 zum Aktenzeichen B 2 U 2/18 R hatte folgender Sachverhalt zu Grunde gelegen: Ein in D. beschäftigter Auslieferungsfahrer war dort in der Wohnung seiner Eltern polizeilich gemeldet, wo er ein Zimmer bewohnte und seine gesamte Habe untergebracht hatte. Nach Feierabend fuhr er in der Regel zunächst in die elterliche Wohnung und nahm dort eine Mahlzeit ein. Anschließend suchte er regelmäßig von Montag bis Freitag seine Freundin in M. auf und übernachtete in ihrer Wohnung, um dann am Folgetag von dort aus mit seinem PKW zu seiner Arbeitsstätte in D. zu fahren. Der Weg von der Meldeadresse zur Arbeitsstätte betrug 2 km, der Weg von der Wohnung der Freundin zur Arbeitsstätte 44 km. Am 9.9.2004 verunglückte er mit seinem PKW auf dem direkten Weg von der Wohnung seiner Freundin zu seiner Arbeitsstätte, wo er seine Tätigkeit als Auslieferungsfahrer aufnehmen wollte. Dabei zog er sich zahlreiche Verletzungen zu.
Am 7.7.2005 hatte der zuständige Unfallversicherungsträger dem Verletzten mitgeteilt, dass die bislang erbrachten Leistungen – Verletztengeld und Heilbehandlung – eingestellt worden seien, da das Unfallereignis nicht als Arbeitsunfall habe anerkannt werden können. Im anschließenden Klageverfahren hatte dann das Sozialgericht mit Urteil vom 8.4.2008 zwar festgestellt, dass es sich doch um einen Arbeitsunfall gehandelt habe, im folgenden Berufungsverfahren war aber vom LSG in seinem Urteil vom 1.10.2008 die Auffassung vertreten worden, dass kein Arbeits-/Wegeunfall vorgelegen habe. Im daran anschließenden weiteren mehrjährigen Verfahrenslauf (u. a. einschließlich von Rechtswidrigkeitsverfahren nach § 44 SGB X) hatte schließlich das LSG mit Urteil vom 13.12.2017 das Ereignis vom 9.9.2004 doch als Arbeitsunfall anerkannt. Diese Auffassung war dann vom BSG mit Revisionsurteil vom 30.1.2020 (s. o.) bestätigt worden.
In seiner Urteilsbegründung hatte das BSG zunächst ausgeführt, dass es unerheblich sei, ob der vom Verletzten am Unfalltag tatsächlich zurückgelegte Weg von der Wohnung der Freundin in M. unter Berücksichtigung aller Umstände in einem angemessenen Verhältnis zu dem Arbeitsweg gestanden habe, der ansonsten von der elterlichen Wohnung in D. zur Arbeitsstätte zurückgelegt worden wäre. Der Versicherte habe im Unfallzeitpunkt den unmittelbaren Weg nach dem Ort seiner Tätigkeit „objektiv“ zurückgelegt und seine Handlungstendenz sei auch „subjektiv“ darauf ausgerichtet gewesen („objektivierte Handlungstendenz“). Er habe sich in der Wohnung seiner Freundin, als drittem Ort, – wie dazu von der Rechtsprechung gefordert – mindestens zwei Stunden lang aufgehalten.
Gehe man davon aus, dass dieser Besuch auch rein eigenwirtschaftlichen Interessen gedient habe, dann habe eine sogenannte „gemischte Motivationslage“ vorgelegen. Die Autofahrt hätte dann einerseits bezweckt, den Ort der betrieblichen Tätigkeit zu erreichen (betriebliche Handlungstendenz), andererseits um den Besuch bei der Freundin zu beenden (privatwirtschaftliche Handlungstendenz). Verrichtungen dieser Art, mit gespaltener Handlungstendenz, stünden in innerem Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit, wenn die konkrete Verrichtung hypothetisch auch dann vorgenommen worden wäre, wenn die private Motivation des Handelns entfallen wäre – wie hier durch die erforderliche Fahrt zur Arbeitsstätte.
Ausdrücklich aufgegeben hat das BSG seine frühere Rechtsprechung zur Angemessenheit des Weges vom dritten Ort zur Arbeitsstelle. Es kommt jetzt also nicht mehr auf einen mathematischen oder wertenden Angemessenheitsvergleich der Wegstrecken von zu Hause oder von einem dritten Ort zum Arbeitsplatz an, auch nicht auf den Zweck des Aufenthalts am dritten Ort, die Beschaffenheit der Wege, das benutzte Verkehrsmittel, den Zeitaufwand oder das Unfallrisiko. Entscheidend ist vielmehr ausschließlich die „objektivierte Handlungstendenz“ (die bei „gemischter Motivationslage“ mit mehreren subjektiven Zielen auch „gespalten“ sein kann). Entscheidend ist, ob der Weg vom dritten Ort zur Arbeitsstätte wesentlich geprägt ist von der „subjektiven Handlungstendenz“, den Ort der Tätigkeit zu erreichen und ob dies in den realen Gegebenheiten objektiv eine Stütze findet. Nur dies entspricht nach Ansicht des BSG den Vorgaben des Grundgesetzes, insbesondere der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG und dem Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Auch sei die bisherige Rechtsprechung zum Angemessenheitsvergleich noch nicht zu Gewohnheitsrecht erstarkt gewesen.
In einem zweiten Urteil vom gleichen Tag – zum Aktenzeichen B 2 U 20/18 R – hatte das BSG die neue Rechtsprechung bekräftigt. In dieser Entscheidung war es um folgenden Sachverhalt gegangen: Ein in der Personenbeförderung tätiger Kraftfahrer hatte 4,3 km von seiner Arbeitsstätte in N. entfernt in B. gewohnt. Er hatte jeweils am frühen Morgen Teilnehmer an Maßnahmen von deren Zuhause zu seinem Arbeitgeber gebracht, hatte diese Tätigkeit regelmäßig gegen 9 Uhr beendet und ab 15.30 Uhr diese Teilnehmer wieder abgeholt. Am 14.10.2015 hatte sich der Fahrer bis zum Beginn seines Nachmittagsdienstes bei einem Freund in K aufgehalten. Am Nachmittag war er mit seinem Motorrad in Richtung seiner Arbeitsstätte aufgebrochen, um dort seinen Fahrdienst wieder aufzunehmen. Der Weg von seinem Freund dorthin hatte 15,7 km betragen. Dabei hatte der Fahrer einen Verkehrsunfall erlitten und sich Verletzungen zugezogen.
Der zuständige Versicherungsträger hatte mit Bescheid vom 25.1.2016/Widerspruchsbescheid vom 12.5.2016 die Anerkennung dieses Ereignisses als Arbeitsunfall abgelehnt, da der Verletzte den Unfall nicht auf einem versicherten Weg von seiner Wohnung zur Arbeitsstätte erlitten hatte, sondern auf einem unversicherten, von seinem Freund aus angetretenem Weg. Diese Ansicht hatten dann auch das Sozialgericht Koblenz mit Urteil vom 26.9.2017 – S 15 U 138/16 – und das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz mit Urteil vom 7.5.2018 – L 2 U 197/17 – vertreten. Zur Begründung war darauf hingewiesen worden, dass die Wegstrecke vom Freund zur Arbeitsstätte mehr als dreimal so lang wie der Weg von der Wohnung des Verletzten dorthin gewesen sei und dass bei dem Freund eigenwirtschaftliche Verrichtungen getätigt worden seien.
Das BSG war in seinem Revisionsurteil vom 30.1.2020 (s. o.) unter Hinweis auf seine Entscheidung vom gleichen Datum zum Unfall des Auslieferungsfahrers (s. o.) vom Vorliegen eines Arbeits-/Wegeunfalls ausgegangen. Ein Angemessenheitsvergleich bei § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII zwischen dem üblichen Weg zur Arbeit und dem Weg von einem dritten Ort widerspreche der geltenden Rechtslage. Nach § 31 SGB I dürfe ein solcher Vergleich nur durch den Gesetzgeber selbst angeordnet werden („Rechte und Pflichten in den Sozialleistungsbereichen dieses Gesetzbuchs dürfen nur begründet, festgestellt, geändert oder aufgehoben werden, soweit ein Gesetz es vorschreibt oder zulässt.“). Eine sog. planwidrige Unvollständigkeit des Wegeunfallversicherungsrechts, die zu einer teleologischen Reduktion im Sinne einer einschränkenden Gesetzesauslegung hätte führen können, sei hier nicht erkennbar (vgl. zur bisherigen Entwicklung der Rechtsprechung zum dritten Ort beim Wegeunfall: Jung/Brose, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, Kommentar zum SGB VII, 2. Auflage 2019, Rn. 109 ff. zu § 8 SGB VII).
Praxishinweis:
Auf Grund der jetzt vom BSG geänderten Rechtsprechung besteht der Unfallversicherungsschutz nicht mehr nur dann, wenn ein Weg zur Arbeit von zu Hause aus angetreten wird, sondern auch von einem dritten Ort aus, wenn die versicherte Person das Erreichen der Arbeitsstätte zum Handlungsziel hat. Allerdings muss – wie bisher – der Aufenthalt an diesem dritten Ort mindestens zwei Stunden gedauert haben.
Prof. Dr. jur. Eberhard Jung unterrichtete viele Jahre lang am Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Gießen und an der Ärzteakademie der Landesärztekammer Hessen, Bereich Arbeits- und Sozialmedizin. Außerdem war Prof. Jung Verwaltungsdirektor bei der Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft und Dozent an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, Fachbereich Sozialversicherung. |
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