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Mängel in Turnhalle erfordern Schließung

(Foto: Patricia Valério)
Praxisfall

Der Holzsplitter im Parkettboden

Thomas Wilrich
07.01.2016
Ein Praxisfall zur strafrechtlichen Verantwortung für den Zustand von Räumlichkeiten. In diesem Fall verletzte sich ein Schüler an einem Holzsplitter im Parkett einer Schulhalle. Das Gericht verhandelte die Verantwortlichkeit der Schulleiterin.

Das Amtsgericht Leipzig hatte 2012 über folgenden Fall zu entscheiden:

A. Sanktion durch Strafbefehl

Am 28. Februar 2011 teilte die Schulleiterin einer Mittelschule dem Schulverwaltungsamt mit, dass „das Parkett der Schulturnhalle zum Teil lose sei und Verletzungen zu befürchten“ sind. Am 5. März 2012 stolperte ein Schüler auf dem Parkett, bohrte sich einen 25 cm langen Parkettsplitter in den Fuß und riss sich zwei Sehnen am Fuß. Der Schüler wurde über einen Monat stationär behandelt.

Das Amtsgericht Leipzig erließ gegen die Schulleiterin einen Strafbefehl wegen fahrlässiger Körperverletzung gemäß § 229 StGB. Eine solche Strafbarkeit setzt voraus:

  • Verantwortlichkeit (dazu I.),
  • Pflichtverletzung (dazu II.) und
  • Verschulden (dazu III.).

Auszug aus dem Strafgesetzbuch (StGB):

§ 13 Begehen durch Unterlassen: „Wer es unterlässt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, ist nach diesem Gesetz nur dann strafbar, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt.“
§ 229 Fahrlässige Körperverletzung: „Wer durch Fahrlässigkeit die Körperverletzung einer anderen Person verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“
Auszug aus der GUV-I A1 = DGUV Vorschrift 1 „Grundsätze der Prävention“:
§ 13 Pflichtenübertragung: „Der Unternehmer kann zuverlässige und fachkundige Personen schriftlich damit beauftragen, ihm nach Unfallverhütungsvorschriften obliegende Aufgaben in eigener Verantwortung wahrzunehmen. Die Beauftragung muss den Verantwortungsbereich und Befugnisse festlegen und ist vom Beauftragten zu unterzeichnen. Eine Ausfertigung der Beauftragung ist ihm auszuhändigen.“

I. Verantwortlichkeit = Garantenstellung:

Im Strafbefehl heißt es, die Beschuldigte hätte „in ihrer Eigenschaft als Schulleiterin“ handeln müssen. Wie kommt sie zu dieser (Handlungs-)Verantwortung? Was ist die „Eigenschaft“ einer (Schul-)Leiterin?
In Sachsen sind den Schulleitern gemäß Formblatt „Übertragung von Unternehmerpflichten“ GUV-I 508-1 i.V.m. § 13 GUV-I A1  die Arbeitsschutzpflichten übertragen. Aber auch ohne eine solche öffentlich-rechtliche Pflichtenübertragung besteht eine haftungsrechtliche (Sicherheits-)Verantwortung aller Führungskräfte: Die Verantwortung im Rahmen zivilrechtlicher Schadensersatzprozesse und strafrechtlicher Sanktionsverfahren bekommt jede Führungskraft auch ohne Übertragungsakt automatisch durch Übernahme der Aufgabe und Funktion („gelebte“ Organisation). Entscheidend ist nicht nur die festgelegte – formale – Aufgabenverteilung (die „Predigt“), sondern auch die tatsächlich gehandhabte – informelle – Aufgabenwahrnehmung (die „Praxis“): „Vorgesetzte und Aufsichtführende sind aufgrund ihres Arbeitsvertrages verpflichtet, im Rahmen ihrer Befugnis die zur Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren erforderlichen Anordnungen und Maßnahmen zu treffen und dafür zu sorgen, dass sie befolgt werden. Insoweit trifft sie eine zivilrechtliche und strafrechtliche Verantwortlichkeit“ – sie „besteht unabhängig von einer Verantwortung aus Sondervorschriften“.

Wenn es – wie hier – um das Unterlassen von Sicherheitsmaßnahmen geht, beruht die allgemeine strafrechtliche Verantwortung auf § 13 StGB. Man spricht von Garantenstellung – und entsprechend von der Garantenpflicht zur Gewährleistung von Sicherheit. Im Urteil zum Einsturz der Eissporthalle in Bad Reichenhall sagt der BGH , die strafrechtliche Verantwortlichkeit hängt „letztlich von den Umständen des konkreten Einzelfalles ab; dabei bedarf es einer Abwägung der Interessenlage und des Verantwortungsbereichs der Beteiligten“.

Zwar mag tatsächlich „die Integration des Arbeitsschutzes in die betrieblichen Abläufe kein Automatismus“ sein , rechtlich erstreckt sich der Verantwortungsbereich einer Führungskraft auch auf die Sicherheit – es besteht eine automatische Sicherheitsverantwortung der Führungskräfte für ihren Zuständigkeitsbereich. Das kann man das „Gesetz der Unauflöslichkeit“ nennen . Die Pflichtenübertragung mit Formblättern „erübrigt sich“ deshalb , „soweit“ jemand „bereits aus einem anderen Rechtsgrund eigenständige Pflichten auf dem Gebiet der Unfallverhütung haben“ – z. B. „betriebliche Führungskräfte und Vorgesetzte, z. B. Meister. Denn die Verantwortung dieser Personen, für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz und damit für die Gefahrenabwehr in ihrem Bereich zu sorgen, ergibt sich bereits im wesentlichen aus den ihnen durch den Arbeitsvertrag übertragenen Aufgaben, also aus der Stellung, die sie im Betrieb einnehmen. Einer gesonderten Übertragung dieser mit der Stellung des Vorgesetzten ohnehin verbundenen Pflichten bedarf es nicht“. Noch deutlicher heißt es dann: „Vorgesetzte ohne Verantwortung gibt es nicht. Wer es ablehnt, Verantwortung zu tragen, kann nicht Vorgesetzter sein.“ Insoweit sind formelle Pflichtenübertragungen also nicht rechtsbegründend = konstitutiv, sondern „nur“ deklaratorisch – d. h. sie deklarieren nur das nach außen, was ohnehin gilt.

Ohne dass es das Amtsgericht erwähnt, sieht es die Schulleiterin als eine Garantin i.S.d. § 13 StGB an. Sie hat es unterlassen, den (Miss-)Erfolg der Verletzung des Schülers abzuwenden – und sie hat aufgrund ihrer Leitungsfunktion „einzustehen“, weil sie aus dieser Stellung eine Rechtspflicht zu handeln in ihrem Zuständigkeits- und damit Verantwortungsbereich hat. Nur was muss man wann in welcher Situation tun?

II. Pflichtverletzung

Aus der Verantwortung folgt eine Umsetzungsverantwortung nur im Rahmen der Befugnisse: "Die Verantwortlichkeit richtet sich nach den Befugnissen, da niemand für etwas verantwortlich gemacht werden soll, auf das er wegen fehlender Befugnisse keinen Einfluss hat .“

Das Gericht wirft der Schulleiterin vor: „Sie unterließen es, die Turnhalle für den Sportunterricht zu sperren“. Die Schulleiterin hätte die „Sperrung der Turnhalle anordnen müssen“. Woher hat die Schulleiterin diese Befugnis? Die knappe Aussage im Strafbefehl ist der letzte Schritt dieser Grundsätze zur Wahrnehmung Sicherheitsverantwortung:

  • Dass etwas getan werden muss, folgt aus der Sicherheitsverantwortung, aus der eine Sicherheitspflicht folgt, die wiederum eine (Anordnungs-)Befugnis zur Gewährleistung der Sicherheit im eigenen Zuständigkeitsbereich bedeutet – für die Schulleiterin ist das die gesamte Schule (siehe oben I.).
  • Was zur Gewährleistung der Sicherheit zu tun und anzuordnen ist, kann juristisch abstrakt nicht anders definiert werden als: „alles Mögliche und Zumutbare, um Schäden zu verhindern“. So ist die allgemeine Formel der (Verkehrs-)Sicherungspflicht . Nicht immer helfen dabei konkretisierende (technische) Regeln und Unfallverhütungsvorschriften.
  • Zunächst bestehen Aufklärungs- und Prüfungspflichten. Welche Umstände man zum Anlass nehmen muss, um zu überprüfen bzw. überhaupt zu hinterfragen, ist eine schwierige und verantwortungsvolle Wertungsfrage. In Betracht kommt ein Anruf der Bauleiterin am Vorabend, dass eine Betriebsanweisung fehlerhaft sei , oder dass ein „Rohrleitungssystem unübersichtlich“ war es zu „nachträglichen Veränderungen keine Pläne gab“ .
  • Der erste Schritt zur Gewährleistung der Sicherheit sind Hinweis- und Informationspflichten – angedeutet ist das z.B.in § 16 Abs. 1 ArbSchG: „Die Beschäftigten haben dem Arbeitgeber oder dem zuständigen Vorgesetzten jede von ihnen festgestellte unmittelbare erhebliche Gefahr für die Sicherheit und Gesundheit sowie jeden an den Schutzsystemen festgestellten Defekt unverzüglich zu melden“. Diese Pflicht hat die Schulleiterin mit der Meldung an das Schulverwaltungsamt im Februar 2011 erfüllt. Aber eine solche „Meldung macht nicht immer frei“:
  • Wenn Befugnisse vorhanden sind und zur Gefahrenbeseitigung ausreichen, müssen sie auch genutzt werden, um Sicherheit herbeizuführen, es bestehen also Handlungs- und Durchsetzungspflichten – dann würde eine schlichte „Meldung nicht freimachen“.
  • Wenn mangels Befugnissen die Gefahr nicht beseitigt werden kann, kann man zum (vorläufigen) Stopp der Tätigkeit bzw. zur Schließung von Räumlichkeiten verpflichtet sein. So hat es das AG Leipzig zur Schulleiterin entschieden. Angedeutet ist das z.B. in z.B. § 9 Abs. 2 ArbSchG. „Bei unmittelbarer erheblicher Gefahr für die eigene Sicherheit oder die Sicherheit anderer Personen müssen die Beschäftigten die geeigneten Maßnahmen zur Gefahrenabwehr und Schadensbegrenzung selbst treffen können, wenn der zuständige Vorgesetzte nicht erreichbar ist“. Formuliert ist diese Notfall-Befugnis nicht als Handlungspflicht der Beschäftigten, sondern als Organisationspflicht des Arbeitgebers: die Mitarbeiter müssen Maßnahmen treffen „können“.
  • Auch jeder Leiter eines Bereichs hat – für seinen Zuständigkeitsbereich – diese Befugnis zum Stopp bzw. zur Schließung. Das folgt zwingend aus der Leitungsposition und wird bestätigt durch die GUV-SI 8064 „Sicherheit in der Schule Aufgaben der Schulleiterinnen und Schulleiter, Sicherheitsbeauftragten und Lehrkräfte“ – dort heißt es auf Seite 9 „Schulleiterinnen und Schulleiter haben z.B. folgende Aufgaben: Sie wirken darauf hin, dass Bau und Ausstattung in der Schule sicherheitsförderlich sind und die Gesundheit nicht gefährden. Hierzu gehört auch, dass sie Mängel dem Schulträger melden und ihn veranlassen, diese zu beseitigen. Bei akuten Gefährdungen müssen sie sofortige Maßnahmen einleiten“. Es ist freilich eine sehr schwierige und verantwortungsvolle Aufgabe, eine solche Entscheidung zu treffen. Mit dem Motto „Sicherheit geht vor“ kommt man nicht immer weiter, denn die anderen in die Abwägung einzustellenden Umstände sind ebenfalls mächtig und wirken sich im Gegensatz zur Gefahr, die sich nur in seltenen Fällen realisiert, sicher und sofort negativ aus – insbesondere geht es um die Wirtschaftlichkeit.

III. Schuld = Erkennbarkeit und Vermeidbarkeit


Jede Strafe setzt Schuld voraus. In Betracht kommt hier nur Fahrlässigkeit. Die entscheidenden Prüfungen bei der Fahrlässigkeit sind die Erkennbarkeit und Vermeidbarkeit: Bestraft wird nur, wer den Schaden (Juristen sagen: den „Kausalverlauf“) voraussehen und wer zumutbare Abwehrmaßnahmen ergreifen konnte.
Das Gericht wirft der Schulleiterin vor: „Aufgrund des schlechten Zustandes des Parketts mussten Sie mit einer solchen Verletzung rechnen und hätten zur Vermeidung die Sperrung der Turnhalle anordnen müssen“ – und man hätte ergänzen müssen: „… auch anordnen können“.
Das Damitrechnenmüssen ist die Erkennbarkeit. Dass „Verletzungen zu befürchten“ seien, hat die Schulleiterin dem Schulverwaltungsamt sogar ausdrücklich mitgeteilt. Aus der Anordnungsbefugnis (siehe zu ihr II.) folgt die Vermeidbarkeit des Unfalls.

B. Freispruch nach mündlicher Verhandlung

Die Lehrerin erhebt Einspruch gegen den Strafbefehl. Nach mündlicher Verhandlung hebt das Gericht am 5. Dezember 2012 den Strafbefehl auf. Denn – so das Amtsgericht – „nach einer erneuten Mängelmeldung vom 28.11.2011 erfolgte eine Ausbesserung im Sommer 2011 durch eine von der Stadt beauftragte Firma. Nach der Reparatur war weder für die Angeklagte noch den Mitarbeiter vom Schulamt erkennbar, dass der Parkettboden schadhaft war“. Und „erst nach dem Unfall des Schülers wurde offensichtlich, dass durch die zum Teil unsachgemäß vorgenommenen Ausbesserungsarbeiten und die fehlerhafte Verankerung der Prellwände mit dem Parkettboden, dieser immer schadhafter wurde und in bestimmten Bereichen unter Spannung stand. Diese Spannung bewirkte unter Belastung ein Abplatzen von Teilen des Parketts. Einen derartigen Mangel des Parkettbodens mit den eingetretenen Folgen konnte die Angeklagte nicht erkennen, weshalb sie aus tatsächlichen Gründen freizusprechen war.“

Fazit:

Das Gericht löst sich nicht von seiner Aussage, dass die Schulleiterin im Zeitraum bis zur Ausbesserung hätte absperren müssen. Wäre der Unfall zwischen der Anzeige im Februar 2011 und der Ausbesserung im Sommer 2011 geschehen, wäre der Strafbefehl mit dieser neuen Begründung nicht aufhebbar gewesen. Der Unfall war erst im März 2012 – also nach den Ausbesserungsarbeiten des externen Dienstleisters.

Das Gericht geht – unausgesprochen – davon aus, dass die Schulleiterin sich auf die Qualität der Arbeit des ausbessernden Unternehmens verlassen durfte. Das LG Frankfurt sagt zum Vertrauensschutz bei Beauftragung fachkundiger Dienstleister: „Übernimmt ein nicht in den Betrieb eingebundener Dritter vertraglich die Pflicht, darf sich der Übertragende im Allgemeinen auf deren Erfüllung verlassen und muss ohne konkreten Anhaltspunkt für eine Pflichtverletzung nicht alle Einzelheiten kontrollieren“ . Aber Vorsicht: das gilt nur „allgemein“, also im Normalfall – wenn besondere Umstände Anlass zu Zweifeln nahelegen , kann man nicht mehr vertrauen und man muss (nach den obigen Grundsätzen) seine Sicherheitspflichten umsetzen.

Der Autor

Rechtsanwalt Dr. Thomas Wilrich ist tätig rund um die Themen Produktsicherheit, Produkt- und Instruktionshaftung und Arbeitsschutz einschließlich der der entsprechenden Betriebsorganisation, Vertragsgestaltung und Strafverteidigung.
Er ist an der Fakultät Wirtschaftsingenieurwesen der Hochschule München zuständig für Wirtschafts-, Arbeits- Technik- und Unternehmensorganisationsrecht und Fachbuchautor zur Betriebssicherheitsverordnung, zum Produktsicherheitsgesetz sowie Arbeitsschutzmanagement und Unfallversicherungsrecht.

Programmbereich: Arbeitsschutz