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Beschreibungen des Alltags: Aus der Literatur der Moderne kaum wegzudenken (Foto: Wolfi30/Fotolia.com)
Das Abenteuer des Gewöhnlichen

Der literarische Alltag bei Fontane

ESV-Redaktion Philologie
24.01.2019
Theodor Fontane gilt als einer der größten deutschen Romanciers des 19. Jahrhunderts. 2019 wurde anlässlich seines 200. Geburtstags das Fontane-Jahr gefeiert. Er verstand es, seine Figuren genau zu charakterisieren anhand der Gespräche seiner Protagonisten: Die oft bemängelte Handlungsarmut seiner Romane wird weggeplaudert.
Fontanes Romane registrieren die subtilen Distinktionen des modernen Alltagslebens – sei es in der Wahl der Möbel, der kulturellen Vorlieben, dem Prestigewert von Adressen oder der Schreibweise von Namen – und die Art und Weise, wie Menschen diese nutzen, um hierarchische Unterschiede zu markieren. Seine Figuren sind stets darauf bedacht, sich ihres sozialen Status zu vergewissern, und vergleichen sich dabei häufig mit ihrer Umwelt. […] In den Poggenpuhls haben wir es mit dem Zusammenstoß zweier entgegengesetzter Kapitalsysteme zu tun: Das alte Prinzip, nach dem Klasse, Familiengeschichte und Ehre den sozialen Status bestimmen, wird durch eine neue Anschauung abgelöst, die Status in erster Linie an Wohlstand bindet.“

Der poetische Realismus Fontanes brachte den Alltag in die zeitgenössische Literatur, der besonders in seinem Roman Die Poggenpuhls (1895/96) durch die vielen Dialoge und wenigen Handlungen der verarmten Adelsfamilie sichtbar wird. Ihr Leben ist ein Zeugnis des Wilhelminischen Alltags im Berlin der 1880er Jahre. In dieser Zeit ist Berlin einem großen städtebaulichen Wandel, der Industrialisierung und progressiven Demokratisierungsprozessen unterworfen und liegt politisch noch immer fest in den Händen des Kaisers.

Historisch-kritische und kommentierte Ausgabe 17.05.2018
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Ein Teil der Poggenpuhl-Familie hält trotz der Zeiten des Umbruchs am Standesdünkel fest, der auch einen standesgemäßen Alltag vorgibt, so zu sehen am Beispiel der ältesten Tochter Therese. Diese hält die „poggenpuhl’sche Fahne“ nach wie vor hoch, während ihre jüngeren Schwestern Sophie und Manon deutlich einfacher mit den Neuerungen zurechtkommen, welche die Moderne bereithält.

Trotz allem merkt der/die aufmerksame Lesende, wie wenig handlungsbereit die einzelnen Figuren sind, dass sie oft im Alltäglichen feststecken und noch nicht begriffen haben, dass bloßes Reden keinen Wandel herbeiführen kann. Diese Tatenunlust weiß Fontane auf besondere Weise in seinen Roman zu verarbeiten.

Mit den Poggenpuhls betritt Theodor Fontane das Terrain modernistischer Nicht-Repräsentation. Wenn der Autor seine Figuren den Alltag in alltäglichen Gesprächen abhandeln lässt, so verbirgt sich hinter dem Mangel an Handlung auch ein Spiel mit den Konventionen des Erzählens. Die Wirklichkeit wird in den Poggenpuhls kaum noch durch eine wegweisende narrative Stimme vermittelt, sondern in erster Linie mittels eines Geflechts von Gesprächen konstruiert. Was klassischerweise als Handlung des Romans angenommen werden könnte, bleibt häufig gleich ganz ausgespart.“

Beschreibungen des Alltags und ausschweifende Dialoge sind aus den Romanen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts kaum wegzudenken – Fontane war einer der Wegbereiter. Doch auch bei Franz Kafka, Wilhelm Raabe, Irmgard Keun oder Thomas Mann wird der Alltag zum Thema, wenn es um Wohnungsfragen, Kleidung, das Zeitungslesen oder den nächsten Urlaub geht.

Mehr zum Thema „Alltag“ gibt es in dem neu erschienenen Band „Das Abenteuer des Gewöhnlichen“ nachzulesen, herausgegeben von Dr. Thorsten Carstensen und Dr. Mattias Pirholt. Die Auszüge zu Theodor Fontanes Poggenpuhls sind dem Beitrag von Dr. Thorsten Carstensen in diesem Band entnommen.

Das Abenteuer des Gewöhnlichen

Herausgegeben von Dr. Thorsten Carstensen und Dr. Mattias Pirholt

Dieser Band widmet sich den unterschiedlichen ästhetischen Strategien der Literatur der Moderne, mit dem das Banal-Alltägliche zu einem legitimen Gegenstand künstlerischer Wiedergabe erhoben wird. Damit reagiert er auf ein bemerkenswertes Forschungsdefizit, denn für die Darstellung von Alltagsphänomenen und -handlungen in den Texten von Autoren wie Thomas Mann, Hermann Broch oder Alfred Döblin zeigte die Sekundärliteratur bislang wenig Interesse.

Dr. Thorsten Carstensen lehrt als Assistant Professor of German an der Indiana University–Purdue University Indianapolis. Seine Forschung untersucht die kritische Darstellung gesellschaftlicher Modernisierung in der deutschsprachigen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts.

Dr. Mattias Pirholt ist Dozent für Literaturwissenschaft an der Universität Södertörn in Stockholm. In seiner Forschung widmet er sich der Erzählkunst und Ästhetik der deutschen Klassik und Romantik sowie den Romanen der Klassischen Moderne.


 

 

(ESV/pa)

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik