„Der Schulabschluss, der in Deutschland ‚Abitur‘ genannt wird, heißt in Österreich und der Schweiz ‚Matura‘.“
Diese Beispiele zeigen eindrucksvoll, dass die deutsche Sprache in den verschiedenen Gegenden, in denen sie gesprochen und geschrieben wird, unterschiedliche Variationen herausgebildet hat.
Sie, liebe Frau Kellermeier-Rehbein, haben sich in Ihrem Buch zur „Plurizentrik. Einführung in die Standardvariation des Deutschen“ umfassend diesen Phänomenen gewidmet. Bitte erläutern Sie unseren Leserinnen und Lesern, was man genau unter „Plurizentrik“ versteht.
Birte Kellermeier-Rehbein: In Bezug auf die deutsche Sprache bezeichnet Plurizentrik die Tatsache, dass sie in mehreren Staaten offizielle Amtssprache ist und dadurch mehrere Standardvarietäten des Deutschen entstanden sind. Die Rede ist hier vor allem vom deutschen und österreichischen Standarddeutsch sowie vom Schweizerhochdeutschen. Es gibt also nicht das eine „korrekte Hochdeutsch“ für alle Sprecherinnen und Sprecher, sondern verschiedene Ausprägungen des sprachlichen Standards, der für öffentliche und formelle Kommunikation verwendet und häufig auch als „Schriftsprache“ bezeichnet wird. Insbesondere in den drei großen deutschsprachigen Staaten gibt es spezifische standardsprachliche Besonderheiten in Wortschatz und Grammatik, die in den jeweils anderen Staaten nicht als „richtig“ gelten. Folglich ist nicht alles, was in Deutschland korrekt ist, automatisch auch in Österreich und der deutschsprachigen Schweiz akzeptabel und umgekehrt. Der Schulabschluss, der bei uns „Abitur“ genannt wird, heißt in Österreich und der Schweiz „Matura“. Weitere Beispiele haben Sie bereits genannt. Trotz dieser Unterschiede sind die drei Standardvarietäten des Deutschen gleichwertig, d.h. ihre sprachlichen Strukturen sind gleichermaßen gut ausgebaut, und insgesamt sehr ähnlich, so dass die Sprecherinnen und Sprecher problemlos miteinander kommunizieren können.
Sie beschäftigen sich in dem Buch mit Standardvarietäten und Standardvariationen auf verschiedenen linguistischen Teilgebieten. Wie ist Ihre Einführung aufgebaut, welchen Themen widmet sich das Buch im Einzelnen?
Birte Kellermeier-Rehbein: Das Buch thematisiert zunächst sprachliche Variation im Allgemeinen, also auch die Existenz nonstandardsprachlicher Varietäten wie Dialekte, Soziolekte u.a., legt aber einen Schwerpunkt auf die Unterschiede des sprachlichen Standards in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Es führt in das Konzept der Plurizentrik ein und vermittelt einschlägige Theorien und Fachtermini zur Beschreibung der Standardvariation, thematisiert historische Hintergründe für ihre Entstehung und präsentiert zahlreiche Beispiele aus Lautung, Wortschatz und Grammatik. Ferner geht es um die Bedeutung der Standardvarietäten für die (nationale) Identität der Sprecherinnen und Sprecher sowie den Umgang mit Standardvariation in Wörterbüchern und im mutter- und fremdsprachlichen Deutschunterricht. Schließlich werden zum Vergleich auch Beispiele für andere plurizentrische Sprachen vorgestellt.
Die erste Auflage der Einführung ist 2014 erschienen, die aktuelle 2. Auflage ist eine überarbeitete und erweitere Fassung. Welche Neuerungen können unsere Leserinnen und Leser in der Neuauflage erwarten?
Birte Kellermeier-Rehbein: Seit dem Erscheinen der Erstauflage ist die Forschung nicht stehen geblieben, sondern hat sich weiter intensiv und aus verschiedenen Perspektiven mit Plurizentrik befasst. In der Neuauflage kann nicht alles zur Gänze aufgerollt werden, aber es werden einige interessante Ergebnisse bzw. Entwicklungen vorgestellt, die meines Erachtens besondere Beachtung verdienen. Dazu gehört zum einen die systematische Untersuchung der grammatischen Standardvariation. Sie hat das Wissen bezüglich der Plurizentrik des Deutschen wesentlich erweitert, da zuvor vor allem der Wortschatz im Zentrum des Interesses stand. Zum anderen entwickelte sich eine Kontroverse bezüglich der Frage, ob die Standardvariation stärker national oder regional (areal) geprägt sei. Ein weiterer Forschungsschwerpunkt, der in der Zweitauflage thematisiert wird, bezieht sich auf den Umgang mit Standardvariation im muttersprachlichen Deutschunterricht, dem Normverständnis sowie dem Korrekturverhalten von Lehrkräften.
Darüber hinaus sind auch sprachliche Beispiele für Standardvariation überarbeitet, ergänzt und/oder hinsichtlich ihrer geographischen Verbreitung präzisiert worden. Nicht zuletzt wurden auch Literaturangaben auf den neusten Stand gebracht.
Lesen Sie rein! | 12.01.2022 |
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Je nachdem, ob man sich gerade in Deutschland oder in Österreich aufhält, wird der aktuelle Monat als „Januar“ oder als „Jänner“ bezeichnet. Eine „Aprikose“ können wir sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz essen, wohingegen die Österreicher eine „Marille“ zu sich nehmen. Diese Beispiele lassen sich beliebig fortsetzen, man denke nur an das „Velo“ in der Schweiz und das „Fahrrad“ in Deutschland. mehr … |
Am Ende eines jeden Kapitels enthält die Einführung auch Übungsaufgaben, die Lösungen dazu finden sich als kostenfreies Zusatzmaterial auf der Homepage des Verlags. Für welche Zielgruppe haben Sie das Buch geschrieben?
Birte Kellermeier-Rehbein: Das Lehrbuch wendet sich vor allem an Studierende der Germanistik, anderer Philologien oder der Allgemeinen Sprachwissenschaft, die sich in Bachelor- oder Masterstudiengängen mit sprachlicher Variation im Allgemeinen sowie Standardvariation und Plurizentrik im Speziellen beschäftigen. Es eignet sich als Seminarlektüre in der Hochschullehre, da es in 15 Kapitel gegliedert ist, die im Verlauf eines Semesters gelesen werden können. Es kann aber ebenso beim Selbststudium oder bei der Vorbereitung auf Prüfungen hilfreich sein. Durch unkomplizierte, aber präzise Formulierungen und einen klaren argumentativen Aufbau ist das Buch auch für Schülerinnen und Schüler der gymnasialen Oberstufe oder für fortgeschrittene Deutsch-als-Fremdsprache-Studierende geeignet und darüber hinaus natürlich für alle, die sich für die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz interessieren.
Zu guter Letzt: ist Deutsch die einzige plurizentrische Sprache oder gibt es auch andere Sprachen, die in mehreren Staaten amtlich sind und verschiedene Standardvarietäten entwickelt haben?
Birte Kellermeier-Rehbein: Deutsch ist bei weitem nicht die einzige plurizentrische Sprache. Plurizentrik charakterisiert insbesondere viele europäische Sprachen, darunter auch solche, die durch Kolonialismus auf andere Kontinente gelangt sind. Ein prominentes Beispiel ist Englisch, das offizielle Amtssprache einer Vielzahl von Staaten ist und verschiedene Standardvarietäten ausgebildet hat (z.B. in Großbritannien, USA, Kanada und Australien). Das Besondere daran ist, dass im Englischunterricht von Anfang an auf Unterschiede zwischen dem britischen und amerikanischen Englisch hingewiesen wird, während die Plurizentrik des Deutschen bei vielen Muttersprachlerinnen und -sprachlern bisher unbemerkt geblieben ist. Weitere plurizentrische Sprachen sind Französisch (in Frankreich, Belgien, der Schweiz und außereuropäischen Staaten), Spanisch (in Spanien und zahlreichen mittel- und südamerikanischen Ländern) und Niederländisch (in den Niederlanden, Belgien und Surinam), um nur einige zu nennen. Englisch, Niederländisch und die südslawischen Sprachsysteme Bosnisch, Kroatisch und Serbisch und ihr Status als plurizentrische Sprachen werden im Buch detailliert vorgestellt und diskutiert.
Vielen Dank, liebe Frau Kellermeier-Rehbein, für das Gespräch!
Die Autorin |
Dr. Birte Kellermeier-Rehbein studierte Germanistik und Hispanistik und promovierte in germanistischer Sprachwissenschaft zum Thema „Areale Wortbildungsvariation im Standarddeutschen“. Als Mitautorin der ersten Auflage des „Variantenwörterbuch des Deutschen“ verfügt sie über fundierte Kenntnisse der Standardvariation in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Sie unterrichtet germanistische Linguistik an der Bergischen Universität Wuppertal. |
(ESV/Ln)
Programmbereich: Germanistik und Komparatistik