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Kennen sich aus mit Italien: Antje Lobin und Eva-Tabea Meineke (Fotos: privat)
Nachgefragt bei: Professorin Dr. Antje Lobin und PD Dr. Eva-Tabea Meineke

„Deutschland und Italien sind seit jeher eng verbunden“

ESV-Redaktion/vh
20.10.2021
Reisen sind wieder möglich, so auch in das Sehnsuchtsland Italien. Aber ist es das heute noch? Wie haben sich das Land, Kultur, Literatur und Sprache verändert? Auskunft dazu geben Prof. Dr. Antje Lobin und PD Dr. Eva-Tabea Meineke, die das neue Handbuch Italienisch herausgeben. Lesen Sie unser Interview mit den beiden.
Liebe Frau Lobin, liebe Frau Meineke,
Ihr und unser Herzensprojekt, das Handbuch Italienisch erscheint nun im November. Wir freuen uns sehr!

Italien gilt als Sehnsuchtsland der Deutschen. Welche Stellung nehmen das Erlernen der italienischen Sprache und die Lektüre italienischer Literatur heutzutage noch in den deutschen Schulen und Universitäten ein?

Antje Lobin / Eva-Tabea Meineke: Deutschland und Italien sind seit jeher durch enge sprach-, literatur- und kulturhistorische Beziehungen verbunden. Das Italienische zählt zu den wichtigsten Kultursprachen Europas und ist eine der beliebtesten Fremdsprachen weltweit. Die italienische Sprache hat zahlreiche Terminologien geprägt und gilt als Sprache des Bankenwesens (z. B. Kapital, Kasse, Konto, Kredit) und der Musik (z. B. Crescendo, Kantate, Libretto, Sonate). Ebenso haben Malerei, Skulptur und Architektur tiefe Spuren im deutschen Wortschatz hinterlassen, wie die Begriffe Arkade, Büste und Mosaik zeigen. Ähnliches gilt für den Wortschatz der Mode, dessen italienische Einflüsse sich in Stoffbezeichnungen (z. B. Brokat) oder Bezeichnungen für Kleidungsbestandteile (z. B. Kapuze) zeigen. Das Italienische verfügt somit über eine enorme Ausstrahlungskraft, und in einem Land wie Italien, in dem in der Kommunikation der Beziehungsaspekt eine besondere Rolle spielt, ist die Beherrschung der italienischen Sprache ein klarer Wettbewerbsvorteil.

Hinzu kommt folgender wichtiger Gesichtspunkt: Deutschland und Italien sind beides Gründungsländer der europäischen Union. Im Kontext eines zusammenwachsenden und zugleich vielfach bedrohten Europa kommt dem Erlernen der italienischen Sprache sowie der Auseinandersetzung mit der italienischen Literatur und Kultur daher eine Schlüsselrolle zu, wenn es gilt, zukünftige Generationen als interkulturell ausgewiesene Träger eines gemeinsamen europäischen Bewusstseins auszubilden.

Im deutschen Bildungssystem tritt das Italienische jedoch leider vielfach hinter anderen Sprachen zurück. Dies liegt daran, dass es nur sehr selten als erste oder zweite Fremdsprache angeboten wird. Da in den Schulen dann erst einmal die Vermittlung der Sprache im Vordergrund steht, können Literatur und Kultur nur sehr am Rande behandelt werden. Der Text- und Medienkompetenz kommt ein verhältnismäßig geringer Anteil des Unterrichts zu, literarische Texte sind davon wiederum ein kleiner Bereich und sind zumeist beschränkt auf sprachlich einfache Werke und vor allem Auszüge. Um ein zukunftsfähiges Italienbild zu vermitteln, wäre hier etwas mehr Spielraum wünschenswert bzw. müsste der vorhandene gezielt genutzt und fruchtbar gemacht werden. Hier könnte das Handbuch Italienisch, das die Disziplinen vernetzt, ideengebend wirken.

An den Universitäten werden immer mehr Italianistiken geschlossen, wie in Gießen, wo wir beide in unserer Nachwuchszeit gelehrt und geforscht haben. Mit den neuen Studiengängen ist überdies die Zeit für intensive Lektüre-Erfahrungen in den Seminaren zurückgegangen. Für die Zukunft gilt es folglich auch hier, die verbleibenden Zeitfenster möglichst sinnvoll und vernetzend zu nutzen, um einen größeren Rahmen zu stecken, innerhalb dessen sich die Studierenden dann über das Studium hinaus mit der italienischen Sprache, Literatur und Kultur befassen und ihre interkulturellen Kompetenzen erweitern können. Das Handbuch möchte auch an dieser Stelle unterstützen.

Das Handbuch ist in drei große Teile gegliedert und beschäftigt sich mit der Sprachwissenschaft, der Literaturwissenschaft und der Kulturwissenschaft. Können Sie unseren Leserinnen und Lesern bitte den Aufbau ein wenig erläutern?

Antje Lobin / Eva-Tabea Meineke: Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft bilden als wissenschaftliche Teildisziplinen die drei tragenden Säulen des Universitätsfachs Italianistik. Zwischen diesen Disziplinen bestehen zum einen vielfältige inhaltliche Bezüge und Verzahnungen z. B. im Hinblick auf die Italien einmalig charakterisierende Sprachenfrage der questione della lingua; gleichzeitig ist die Italianistik in besonderer Weise mit weiteren geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern verbunden, so der Musikwissenschaft und Kunstgeschichte sowie der Geschichts- und Politikwissenschaft. In unserem Handbuch soll ein möglichst umfassendes und vielschichtiges Profil des Fachs gezeichnet werden, das durch den Austausch mit anderen Disziplinen zusätzliche Bereicherung und Vitalität erfährt.

Im sprachwissenschaftlichen Teil wird das Italienische in seiner historischen Entwicklung und mit seinen unterschiedlichen Varietäten vorgestellt. Außerdem werden die strukturellen Eigenschaften der Sprache z. B. auf den Ebenen der Aussprache, der Rechtschreibung und der Wortbildung sowie auf Satzebene beschrieben. Neben der Struktur der Sprache wird auch der Gebrauch des Italienischen in Texten und Gesprächen ebenso wie in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten, z. B. in den Medien oder der Politik, dargestellt. Darüber hinaus werden die politische, wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung des Italienischen sowie die Situation des Italienischunterrichts in deutschsprachigen Ländern in diesem Teilbereich beleuchtet.

Der literaturwissenschaftliche Teilbereich präsentiert neben literaturtheoretischen Grundlagen, wie z. B. die Geschichte der Literaturwissenschaft in Italien oder das Vermittlungsfeld der literarischen Übersetzung, eine chronologische Aufbereitung der Literaturgeschichte vom Mittelalter bis zu den neuesten Entwicklungen der Gegenwart, die auch die unterschiedlichen Gattungen und wichtigsten Autorinnen und Autoren sowie Bewegungen und Gruppierungen berücksichtigt. Einen weiteren Schwerpunkt bilden die Besonderheiten der italienischen Literatur, z. B. die Inselliteraturen, die Transkulturalität sowie das Zusammenspiel mit anderen Künsten und Medien, aber auch literarisch verhandelte Genderfragen.

Im kulturwissenschaftlichen Bereich werden Entwicklung und Potential der italianistischen Kultur- und Landeswissenschaften dargestellt, ebenso wie die Identitätskategorie der italianità und die vielfältigen deutsch-italienischen Kultur­beziehungen. Geschichte und Politik Italiens stellen in diesem Bereich einen zweiten Schwerpunkt dar. Ein dritter Block fokussiert ausgewählte Problemfelder und Schlüssel­begriffe, z. B. das Verhältnis von Kirche und Staat oder dasjenige zwischen dem Norden und dem Süden. Gegenstand des vierten und letzten Teils ist die Kultur- und Medienlandschaft Italiens. Neben dem italienischen Bildungssystem werden unterschiedliche künstlerische Gattungen und kulturelle Manifestationen in Geschichte und Gegenwart in den Blick genommen.

Immer wieder beschäftigt sich das Handbuch auch mit dem „Mythos Italien“, der sich in vielen Jahrhunderten herausgebildet und auch verändert hat. Was sind für Sie zentrale Merkmale dieser auch sehr unterschiedlichen Italienbilder?

Antje Lobin / Eva-Tabea Meineke: Der „Mythos Italien“ speist sich aus allen Narrativen, die sich auf Italien beziehen und es mit-konstruieren. Damit ist der Mythos immer in der Entwicklung. War im 18. und 19. Jahrhundert Italien noch das Sehnsuchtsland der wohlhabenden Europäer/innen auf ihrer Bildungsreise, so ist es heute vor allem auch der Traum vieler Flüchtender über das Mittelmeer und z. B. die Heimat der nuovi italiani. Italien durchläuft Krisen, die gerade in den letzten Jahren nicht weniger wurden, lebt aber auch von seinen großen kulturellen und kreativen Potentialen, die alle Teil der italienischen Realität sind.

Bedenkenswert ist beim „Mythos Italien“, dass die italienische Nation noch sehr jung ist – das Risorgimento liegt gerade einmal 160 Jahre zurück –, und dass die Italiener/innen selbst weiterhin an der Identitätsfrage schmieden. Italien umspannt eine große Sprachenvielfalt, enorme regionale Unterschiede und durch Emigration, Immigration und Remigration bedingte Konstellationen, die am großen kulturellen Erbe des Landes beteiligt sind. Unser Handbuch zeigt in zahlreichen Disziplinen den Facettenreichtum Italiens auf und möchte mit seinen synthetischen Darstellungen die Weiterentwicklung der Italienbilder und damit eines lebendigen Mythos anstoßen, der allzu vereinfachten und vereinfachenden Darstellungen entgegenwirkt.

Zum Schluss eine praktische Frage: Wir hatten während der Arbeiten am Handbuch viel Freude bei der Lektüre des Reiseberichts „Italien wie es wirklich ist“ von Gustav Nicolai. Haben Sie vielleicht für unsere Leserinnen und Leser weitere Lektüretipps zu Italien?

Antje Lobin / Eva-Tabea Meineke: Mit Italien befasst sich ein großes Spektrum journalistischer Literatur, wie z. B. Thomas Steinfeld: Italien: Porträt eines fremden Landes, Franca Magnani: Mein Italien, Roberto Saviano / Giovanni di Lorenzo: Erklär mir Italien!: Wie kann man ein Land lieben, das einen zur Verzweiflung treibt? oder die Italien-Bücher von Henning Klüver.

Welche Realität Italien wirklich ausmacht, zeigt darüber hinaus vor allem auch die aktuelle fiktionale Literatur, sowohl in der Fremdperspektive (wie bei Nicolai) als auch in der Selbstperspektive. Vor allem ist Italien ungeheuer vielseitig. Aus diesem Grund ist es sehr schwierig, in einzelnen Werken tiefgründiger von Italien als Ganzem zu erfahren; die Literatur der Gegenwart konzentriert sich meist auf einzelne Städte oder Landstriche bzw. regionale Eigenheiten. Aus der Fremdperspektive deutschsprachiger Autor/innen sind die Villa-Massimo-Stipendiaten empfehlenswert, die sich immer auch in irgendeiner Weise in die deutsche Italien-Tradition einreihen. Unter ihnen bringt Feridun Zaimoglu zusätzlich türkische Wurzeln mit, wodurch sich sehr kuriose Italienbilder ergeben. Auch die Culture-Clash-Comedy Maria, ihm schmeckt‘s nicht von Jan Weiler ist bei aller Komik differenzierter und fundierter, als man meinen würde, sie bezieht z. B. die Gastarbeiter-Thematik mit ein, zu der immer noch Aufklärungs- und Sensibilisierungsbedarf besteht. Weiterhin gibt es auch im für die italienische Literatur wichtigen Bereich des giallo, des Kriminalromans, deutsche Autoren, wie z.B. Veit Heinichen, der in und über Triest schreibt und auch ins Italienische übersetzt wird.

Für ein differenziertes Italienbild unerlässlich ist darüber hinaus der Einbezug der Selbstperspektive. Hierzu gibt es in der italienischen Gegenwartsliteratur zahlreiche interessante Stimmen. Erwähnenswert sind zur aktuellen Bestandsaufnahme z.B. Francesca Melandri mit ihrer Romantrilogie zu Rom, Sardinien und Südtirol, Roberto Saviano zu Neapel, Nicola Lagioia zu Bari, Michela Murgia zu Sardinien. Des Weiteren sind die erfolgreichen Kriminalromane Andrea Camilleris um den berühmten Commissario Montalbano zu nennen, die einen detaillierten Einblick in die Kultur und Lebensweise des Siziliens von heute bieten. Zusätzlich bereichert werden diese Selbstperspektiven um Stimmen der sogenannten nuovi italiani, zu denen eine Vielzahl von Autor/innen unterschiedlicher Herkunftsländer zählen, die in italienischer Sprache über ihre (neue) Heimat schreiben und ihre Identität konstruieren. Hier ist die kürzlich erschienene, von Igiaba Scego herausgegebene Anthologie Future empfehlenswert, die Erzählungen einiger afro-italienischer Autorinnen versammelt, oder auch die Rom-Bücher des aus Algerien stammenden italophonen Amara Lakhous, der die alltäglichen kulturellen Aushandlungen in der Hauptstadt thematisiert. Über die Literatur hinaus bieten auch die Filme des Cinema Italia-Festivals sehr weitreichende und schillernde Einblicke in die Heterogenität des Italien von heute.

Die Herausgeberinnen
Professorin Dr. Antje Lobin hat an den Universitäten Gießen, Dijon und Rom studiert (Französisch, Italienisch, Betriebswirtschaftslehre) und wurde an der JLU in Gießen mit einer Arbeit zur Sprachwissenschaft des Italienischen promoviert. Dort habilitierte sie sich im Jahr 2015 im Fach Romanische Sprachwissenschaft. Seit 2015 ist sie Professorin für Italienische und Französische Sprachwissenschaft am Romanischen Seminar der JGU Mainz.
PD Dr. Eva-Tabea Meineke
hat an der Universität IULM in Mailand „Lingue e letterature straniere“ studiert und wurde innerhalb eines Co-tutelle-Programms mit Paris 8 an ebendieser Universität im Fach „Letterature comparate“ promoviert. Zudem studierte sie am UCL London. Seit 2011 lehrt und forscht sie am Romanischen Seminar der Universität Mannheim. Dort habilitierte sie sich 2017 in Romanistischer und Vergleichender Literaturwissenschaft.

Handbuch Italienisch
Herausgegeben von: Antje Lobin, Eva-Tabea Meineke

Das „Handbuch Italienisch. Sprache – Literatur – Kultur“ präsentiert grundlegende Themen aus den drei Gegenstandsbereichen der Italianistik von den Anfängen bis hin zu den aktuellen Tendenzen der Gegenwart. Die sprach-, literatur- und kulturwissenschaftlichen Darstellungen der 96 Einzelartikel bieten einen idealen Ausgangspunkt für jede Form der Auseinandersetzung mit italianistischen oder die italienische Lebenswelt betreffenden Fragen und laden darüber hinaus zu einem interdisziplinär vernetzten Umgang mit diesen Fragen ein. Das Handbuch lebt neben den Einzeldarstellungen von der wissenschaftlichen Dialogizität zwischen aktuell forschenden und lehrenden Italianist/innen und Vertreter/innen weiterer geistes- und sozialwissenschaftlicher Fächer im In- und Ausland. In dieser Form wird der zum gegenwärtigen Zeitpunkt aktuellste Stand der wissenschaftlichen Diskussion abgebildet und auf allgemeinverständliche Weise zugänglich gemacht.
Das „Handbuch Italienisch“ ist als unterstützendes Arbeitsinstrument und Ressource für all diejenigen gedacht, die sich im Bildungssektor, aber auch in anderen institutionellen Kontexten mit italienbezogenen Fragestellungen befassen.

Programmbereich: Romanistik