
„Die Arbeit der Schreibkräfte war stark reguliert“
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1. Einleitung
Kolonialisierung schafft einen ganz spezifischen, neuen Raum, der den Kontakt zwischen den Sprachen und Kulturen wesentlich prägt. Dieser Kontakt kann direkte Auswirkungen in der Sprache, wie den Einbezug neuen Vokabulars oder auch die Entstehung neuer Sprachvarietäten haben. Er kann sich aber auch indirekt manifestieren. Ich möchte im Folgenden die indirekten soziokulturellen Auswirkungen eines solchen Raumes auf Sprache und Text untersuchen.
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2. Zur Geschichte der portugiesischen Kolonien in Indien und der Handelsnetzwerke des Estado da Índia
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Die Schiffsroute der sogenannten Carreira da Índia blieb in den ersten 300 Jahren mehr oder weniger unverändert. Ein Weg dauerte bei besten Bedingungen zwischen sechs und acht Monaten, der Hin- und Rückweg insgesamt ca. 1,5 Jahre (cf. Diffie/Winius 1977: 199–201). Wegen der Monsunzeiten konnte nur eine Flotte pro Jahr entsandt werden (cf. Mathew 1988: 232–234), deren Größe also bestimmte, wie viele Personen und wie viele Waren hin und her verschifft wurden. Für die Verschiffung der Korrespondenz etablierte die Krone 1520 ein Postsystem, den serviço de correio público, damit Nachrichten und Dokumente besser und schneller zwischen den Kolonien und Portugal transportiert werden konnten. Die Post wurde in den jährlichen Flotten mitgeführt (cf. Diffie/Winius 1997: 235).
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Der Verwaltungsapparat, der alle sozialen, ökonomischen und weiteren Aspekte des Alltags organisierte, war, um es mit Diffie und Winius (1977: 325) zu sagen, auf eine „enorme Armee von Schreibern, Inspektoren, Richtern und Funktionären“ (eigene Übersetzung) angewiesen. Die hier erwähnten Posten, die mit dem Schreiben befasst sind, finden sich auf allen Ebenen der Administration. Bei den Schreibern lässt sich zwischen Sekretären und Schreibern unterscheiden. Sekretäre waren im Allgemeinen aus den höheren sozialen Klassen und einem bestimmten Amt oder einer bestimmten Institution oder Person zugeteilt. Sie hatten dort vertrauliche Angelegenheiten zu betreuen und waren besser bezahlt. In vielen Fällen hatten sie gleichzeitig mehrere Ämter inne – so zum Beispiel das des Sekretärs, wie auch des Verwalters eines Handelshauses. So war es denn auch wahrscheinlicher, dass sie selbst als Akteure in Erscheinung traten und in ihrem eigenen Namen schrieben. Schreiber und Büroangestellte dagegen waren den Sekretären untergestellt und kamen als homes letrados eher aus dem aufkommenden mittleren Bildungsbürgertum. Sie erhielten ihre Ausbildung oftmals in Handelshäusern und Niederlassungen.
Die Arbeit der Schreibkräfte war stark reguliert durch die Manuelinischen Verordnungen von 1512/13 und 1521[1] mit Paragraphen zu Dokumentenform, Aufbewahrung und Postgang, die zum Beispiel besagen, dass offizielle Dokumente in den Schreibstellen unter Verschluss und in Kopie aufzubewahren sind, und durch die Philippinischen Verordnungen von 1597, die für die koloniale Administration und die Rolle der Sekretäre und Schreiber wenige Änderungen enthielten. Die niedergeschriebenen Regelungen sind Zeugnis einer langen mediterranen Kanzleitradition (cf. Wansborough 1996) und wurden hier auch für die Kolonien festgeschrieben. In Kombination mit der traditionellen Schreiberausbildung boten diese Regelungen klare Strukturen für eine Arbeit, die inhaltlich sehr variabel sein konnte und in einem hochkomplexen multilingualen und multikulturellen sozioökonomischen Umfeld stattfand.
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3. Dokumente des 16. Jahrhunderts aus dem Estado da Índia
3.1 Die Quellenlage
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Inhaltlich decken die hier zusammengestellten Dokumente eine breite Spanne von Themen ab. Dies ist unter anderem der Tatsache zuzuschreiben, dass alle Aspekte des alltäglichen Lebens, von der Struktur der Kolonien, über den Handel und Ausbau von Netzwerken bis hin zu Fragen des Zusammenlebens mit der autochthonen Bevölkerung im Austausch mit der Krone in Portugal geregelt werden mussten. Es gibt Dokumente über Diplomatisches, über Eroberungen und Schlachten, Jahresberichte, Administratives, Postversand und -empfang, Informationen zu und Bitte um Schiedssprüche in Konflikten zwischen verschiedenen Personen der Administration, Bittschreiben um Sold und Posten oder um Rückkehr nach Portugal nach vollendetem triénio, Anforderung von Personal, Listen besoldeter Soldaten, Bitten um Instandhaltung der Festungen und der öffentlichen Infrastruktur, Kirchenangelegenheiten, Beschwerde- und Bittbriefe der Einwohner von Goa und Cochim, Steuerangelegenheiten, Gutachten zum Markt bestimmter Güter, über die Carreira des Jahres, über Vergabe von (Jahres)Verträgen (der carreira z.B. Pfeffer und Gewürze, Bau, Holz oder Grundnahrungsmittel), Geschäftsschreiben, Warenanforderung, Warenerhalt und Quittungen, Warenausgabe für Schiffsladungen und Zahlungsanweisungen.
Lesen Sie das Interview mit den Herausgeberinnen | 31.08.2023 |
„Die Standardisierung ist, wie wir sagen, polymorph“ | |
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Waren es wirklich nur Literaten und Literatinnen, die unsere Sprache standardisiert haben? Der neue Band <em>Expert Cultures and Standardization / Expertenkulturen und Standardisierung</em> rückt bislang weniger berücksichtigte Expertengruppen etwa im Bereich des Handels, der Verwaltung oder des Journalismus in den Fokus der Aufmerksamkeit und zeigt, dass sie eine zentrale Rolle bei der Herausbildung standardisierter Sprachnormen spielen. Wir haben mit den Herausgeberinnen des Bandes gesprochen, die uns im Folgenden einen kleinen Einblick in ihre Arbeit geben. mehr … |
Form und Inhalt der Dokumente sind eng miteinander verknüpft und bestimmen zusammen den Formalitätsgrad. Die Textsorten, die sich dabei ergeben, sind offensichtlich auch den Schreibenden als solche bewusst, was sich darin zeigt, dass die Formalia in Form und Sprache jeweils recht homogen eingehalten werden. So haben Schiffsladelisten eine andere Form als Regelungen zum sozialen Zusammenleben in den kolonialen Besitzungen der Portugiesen. Trotz breiter inhaltlicher Variation handelt es sich aber immer um Dokumente der Distanzsprache, die in ihrer Form einer Tradition der administrativen und juristischen Dokumente sowie dem traditionellen Briefwechsel in der Administration folgen.
Bezeichnend ist, dass mit dem Formalitätsgrad auch eine Richtung in der Adressierung einhergeht: formellere Dokumententypen, also etwa die provisão, gehen immer von höheren administrativen Stellen an niedrigere Stellen. Weniger formelle Dokumente sind häufig umgekehrt an höhere Stellen der Administration gerichtet, wie zum Beispiel Bittschreiben oder Informationsschreiben. Auch deswegen werden Dokumente vom Vizekönig an den König, meist schlicht als cartas – Briefe – bezeichnet. Die Verbindung zwischen Adressaten und Textsorte könnte damit zusammenhängen, dass rechtlich bindende Texte, in Form und Funktion hoch formell, nur von offiziellen administrativen Stellen ausgestellt werden können und der Inhalt in den meisten Fällen weisende Funktion hat.
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3.2 Analysen von Dokumentenform, Textformat und Schriftarten
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Diese relative Einheitlichkeit im Format steht im Gegensatz zu der Vielfältigkeit und individuellen Ausprägung der Handschriften, die sich in den Dokumenten des 16. Jahrhunderts finden. Offensichtlich sind Schriftarten im 16. Jahrhundert, gerade auch durch die Entstehung des Buchdruckes, starken Veränderungen unterworfen. Die Handschriften lassen sich insgesamt in vier verschiedene Schriftarten einordnen. Im vorliegenden Korpus wird als schreibschriftliche Abwandlung und Weiterentwicklung der cortesana[1] vor allem die escritura procesal genutzt, welche sich von Italien ab Mitte des 15. Jahrhunderts in die übrigen romanischsprachigen Länder verbreitet. Die cortesana selbst findet sich nur noch in wenigen sehr formellen Dokumententypen wie etwa der provisão, ordem, certidão oder carta de confirmação zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Sie wird jedoch durch die procesal abgelöst, so zum Beispiel 1522 in einer justificação über die Fähigkeiten eines Schreibers in recht unleserlicher procesal (PT/TT/CC/1/28/5). Der Name procesal rührt daher, dass sie ursprünglich für Schnellschrift entwickelt und zur platzsparenden Mitschrift in Gerichtsprozessen genutzt wurde. Damit ist sie für administrative Zwecke besonders geeignet. Die procesal zeichnet sich durch relativ runde Formen und viele horizontale Ligaturen über den Wörtern aus (siehe Fig. 1). Aus ihr geht die escritura procesal encadenada hervor, deren Verwendung zeitgleich mit dem Auftauchen der escritura procesal erscheint – hier im Korpus erstmals 1513 (siehe Fig. 2). Hierbei handelt es sich um eine sehr runde Schreibschrift, deren Duktus keine Unterbrechungen des Textflusses und keine Lücken zwischen Wörtern in einer Zeile zeigt. Aus demselben Grund finden sich bei dieser Schriftart fast keine Ober- oder Unterlängen, keine Majuskeln und keine Serife.
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4. Standardisierung von administrativen Schreibtraditionen und Texten im multilingualen Raum
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Die relative Homogenität der Dokumentenform im Verlauf des Jahrhunderts legt nahe, dass bereits zu dessen Beginn Standards für die Erstellung von Dokumenten administrativer Art vorhanden sind, die in den Kolonien angewandt werden, und zwar für viele Textsorten und Inhalte. In der konkreten Form, in der die hier untersuchten Dokumente vorliegen, zeigen sich also indirekt auch die Auswirkungen der geographischen Ausbreitung des portugiesischen Kolonialreiches und die soziokulturelle „Neuerfassung“ eines Raumes inklusive seiner administrativen Aspekte. Die Veränderungen, die sich dann im Schreibwesen der kolonialen Administration ergeben, sind in vielen Fällen praktischen Problemen geschuldet. Dazu gehören nicht zuletzt logistische Details der Globalisierung wie die platz- und geldsparende Form der Dokumente, die Lesbarkeit sowie die Nachverfolgung und Überprüfung der Zuverlässigkeit eines Dokuments.
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Neue Entwicklungen kommen dann entweder aus der hierarchisch höheren Administration, werden meist erst für formellere Texte verwendet und breiten sich dann nach und nach in andere Textsorten aus. Ein Beispiel dafür, dass es trotz der Manuelinischen und Phillipinischen Verordnungen von Seiten der Herrschenden einen Bedarf für klare Regeln gab, ist das Gesetz zu Stilen und Arten des Schreibens und Redens – „Provisão dos estilos e modos de escrever e falar“ von 1597. Die Einleitung liest sich wie eine Protestreaktion auf vermeintliche Abweichungen von den Regeln in Bezug auf blumigen Stil und unangemessene Betitelung von Personen:
„sendo eu informado das grandes desordens e abusos que se têm introduzido no modo de falar e escrever, e que vão continuamente em crescimento e têm chegado a muyto excesso, de que têm resultado muytos inconvenientes.“Der König Don Philippe gibt in besagter Provisão an, dass er, unter Heranziehen von Experten, beschließt, die Dokumentenform unabhängig vom Texttyp vorzugeben. Unter anderem bestätigt er hier Regeln, die über das Jahrhundert bereits in Gebrauch sind, wie die Überschreibung des Dokuments mit „Senhor“, das Weglassen einer Einleitung und die lauda und Form des Textschlusses. Der König unternimmt hier also Maßnahmen gegen Veränderungen vor allem in der Titulierung, die sich möglicherweise auch in den Kolonien ergeben haben, zumindest werden die Kolonien als Wirkfeld des Gesetzes explizit mit einbezogen.
Auch entstehen neue Entwicklungen, weil vor allem Schreiber in ihrem hoch komplexen kolonialen Umfeld, das sich auf allen Ebenen geographisch, klimatisch, soziokulturell hochgradig vom Mutterland unterscheidet, vor neue Herausforderungen gestellt werden und diese in Text und Form umsetzen müssen. Es zeigt sich die Spannung zwischen der aus portugiesischer Sicht peripheren fernen Situation der Kolonien und der Notwendigkeit sie trotzdem eng an das Mutterland zu binden. Hierbei wird dann vor allem deutlich, dass sie auf bereits vorhandenes Wissen, Traditionen und Regeln zurückgreifen. Dadurch werden Standards ausgebreitet, ausdifferenziert, aber eben auch gefestigt. Die kolonialen Verwaltungen entwickelten über die Zeit eigene Strukturen und Dokumentengänge. In diesen peripheren Regionen waren die Portugiesen mit einer vielschichtigen sprachlich-kulturellen Situation konfrontiert. In Indien wurden neben den regionalen indoarischen Sprachen Gujarati in Gujarat (Nordwestindien), Marathi in Maharashtra, Konkani um Goa herum (zentrale Westküste) und dem dravidischen Malayalam an der Malabarküste, dank der bestehenden Handelskontakte zu Afrika und dem mittleren Orient Arabisch und durch die Etablierung des Mogulreiches Persisch gesprochen. Diese komplexen Sprachtraditionen brachten ein ebenso komplexes Schreibwesen mit sich, das sich in vielerlei Hinsicht von dem Portugiesischen unterschied – andere Sprachen, andere Schriftsysteme, andere Texttraditionen und ein anderes Bildungssystem. Der Kontakt mit den regionalen Kulturen und ihren Bildungs-, Schreib- und Administrationstraditionen dürfte die Etablierung eines Standards in verschiedenen Domänen des portugiesischen Kolonialsystems beeinflusst haben, wie z.B. in der Verwaltung und im Bereich des Handels mit Einflüssen darauf, wie man schriftliche Vertragsabschlüsse, diplomatische Verhandlungen, Währungsfragen etc. handhabt. Dieser interpersonelle Kontakt fand nach Disney (2007: 304–305) durch den Handel mit asiatischen Kaufleuten „right across the social spectrum, from viceroy to apprentice seaman“ statt. Umso bedeutender ist die relative Homogenität der vorliegenden Dokumente in Form und Format, die auf eine starke Ausrichtung der Kolonien auf Lissabon und eine relativ große soziokulturelle Abgrenzung zu den regionalen Kontaktsprachen und -kulturen deuten. Der multikulturelle, multilinguale Raum führt dann dazu, dass sich Kontakteinflüsse in Dokumenten- und Textform, vor allem im Austausch mit dem Mutterland, in einer stärkeren Standardisierung der portugiesischen administrativen Textsorten niederschlagen.
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