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Wandmalerei aus dem Iwein-Zyklus auf Schloss Rodenegg: Iwein im Kampf mit Askalon (Foto: Fotoarchiv des Amtes für Bau- und Kunstdenkmäler in der Abteilung Denkmalpflege, Autonome Provinz Bozen – Südtirol)
Ein Klassiker: Der Artusroman ‚Iwein‘

Die Folgen einer Terminversäumung im Artusroman ‚Iwein‘

ESV-Redaktion Philologie
13.03.2020
Wer kennt das nicht: Wir haben so viele Termine, dass wir schon mal den ein oder anderen vergessen. Das ist zwar peinlich, aber meist nicht dramatisch. In dem mittelhochdeutschen Artusroman „Iwein“ von Hartmann von Aue allerdings – einem Klassiker der mittelhochdeutschen Literatur – führt eine solche Fristversäumnis zu katastrophalen Folgen: Der Protagonist verliert nicht nur seine Ehefrau, sondern auch die Landesherrschaft und seine Ehre.
Welche Frist Iwein versäumt und wie der Artusritter durch seine Aventiurefahrt wieder rehabilitiert wird, erläutert Professor Dr. Ludger Lieb unter anderem in seinem neuen Buch „Hartmann von Aue“. Lesen Sie im Folgenden einen Textausschnitt zu Iweins „Doppelweg“:

„Hartmanns von Aue ‚Iwein‘ ist wohl um 1200 entstanden und erzählt die Geschichte des Artusritters Iwein. Die deutsche Version hält sich recht genau an diejenige, die Chrétien de Troyes etwa um 1180 in altfranzösischer Sprache verfasst hatte. Erzählt wird nicht das ganze Leben Iweins, sondern nur ein kleiner Ausschnitt seines Lebens, nämlich der Erwerb, der Verlust und die Wiedergewinnung von Frau und Land.

Jahresfrist verpasst

Der Roman beginnt mit einem Artusfest, auf dem Iweins Vetter Kalogrenant von einer schmachvollen Niederlage erzählt. Direkt nach der Erzählung und noch vor dem ganzen Artushof bricht Iwein heimlich auf und rächt diese Schmach, indem er den Bezwinger seines Vetters, den Landesherrn Askalon an einer Zauberquelle besiegt und anschließend tötet. Dabei gerät er auf dessen Burg in Gefangenschaft und verliebt sich in Askalons Frau Laudine, die er gerade zur Witwe gemacht hat. Mit Hilfe ihrer Dienerin Lunete gewinnt Iwein Laudine zur Frau und wird als Nachfolger Askalons zum Landesherrn. Als solcher tritt er dem nun eintreffenden Artushof entgegen. Iwein befolgt auf dem anschließenden Fest Gaweins Rat, Laudine, seine Frischvermählte, zu bitten, ihn für ein Jahr auf Turnierfahrt gehen zu lassen. Als er die Jahresfrist versäumt und nicht nach Hause zurückkehrt, lässt Laudine ihn am Artushof verfluchen.

Die Aventiure

Iwein verliert Ehe, Landesherrschaft und Ritterehre. Er wird wahnsinnig. Im Wald beginnt ein langer Weg (Aventiurefahrt): Interaktion mit einem Einsiedler; Heilung durch die Dame von Narison und Befreiung ihrer Burg; Rettung eines Löwen, der ihn fortan begleitet (Iwein ‚Löwenritter‘); Wiederbegegnung mit Lunete und Zusage, für sie zu kämpfen; Befreiung einer Burg vom Riesen Harpin und Rettung Lunetes vor der Todesstrafe (durch Gerichtskampf); Hilfszusage in einem Erbstreit der Schwestern vom Schwarzen Dorn; Befreiung der ‚Burg zum Schlimmen Abenteuer‘ von zwei Riesen und Kampf gegen Gawein am Artushof für die gute Sache der jüngeren Schwester vom Schwarzen Dorn. In mehreren Schritten gewinnt Iwein so alles wieder, was er verloren hat. Darüber hinaus hat er am Ende seine neue Identität als Helfer und Befreier bestätigt. Er wird am Artushof resozialisiert, und durch eine List Lunetes findet er auch bei Laudine wieder Gnade.

Zwei Teile und drei Makrostrukturen

Der Roman besteht aus zwei Teilen, die vom Umfang her etwa im Verhältnis 1:2 stehen: Iweins erster Weg (Erwerb und Verlust von Ehre, Frau und Land) und zweiter Weg (Aventiurefahrt, Wiedergewinnung des Verlorenen).

Vor dem Eintritt in diese zweigeteilte Haupthandlung steht eine Exposition: die Erzählung Kalogrenants; nach dem Abschluss der Haupthandlung ein Schlussteil: Versöhnung und Rückgewinnung von Land und Frau. Es gibt mindestens drei Makrostrukturen im ‚Iwein‘. Wenn man diese separat betrachtet, erschließt sich das Werk als Ganzes strukturell leichter.

1. Doppelweg: Nimmt man als Maßstab der Handlungsstruktur den sozialen Status und die ethische Vervollkommnung des Protagonisten, gewissermaßen seinen ‚Karriereweg‘ aus der Perspektive einer höfischen, arturischen Wertegemeinschaft, ergibt sich das forschungsgeschichtlich ‚klassische‘ Doppelwegmodell: Am Artushof auf einer ‚mittleren Höhe‘ startend und durch eine Provokation von außen motiviert begibt sich der Protagonist alleine auf seinen ersten Weg. Er löst sich dabei aus dem Personenverband des Artushofes (Vereinzelung). Auf diesem ersten Weg erwirbt er in einer einzigen großen Aventiure Frau und Land. Nachdem er auf diese Weise einen ersten Höhepunkt seines Ansehens erreicht hat, wirft ihn eine Krise – ausgelöst durch die Überschreitung der Jahresfrist – tief hinab in das Elend sozialer Verachtung und vollständigen Selbstverlustes. Dieser Tiefpunkt ist tiefer als der Ausgangspunkt. Dementsprechend länger ist der zweite Weg, die Aventiurefahrt. Sie führt den Protagonisten vom Tiefpunkt über mehrere Stationen langsam wieder bis zu einem zweiten Höhepunkt, der den ersten übertrifft, weil der Protagonist als Retter und Befreier nun noch mehr und qualitativ andere Ehre errungen hat“.

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Zum Autor
Ludger Lieb studierte Germanistik und Philosophie in München. Nach der Promotion (1995) habilitierte er 2003 in Dresden mit einer Arbeit zur Wiederholung in Hartmanns ‚Erec‘. Seit 2010 ist er Professor für Ältere Deutsche Philologie an der Universität Heidelberg und leitet dort den Sonderforschungsbereich 933 ‚Materiale Textkulturen'.

Hartmann von Aue
Erce – Iwein – Gregorius – Armer Heinrich

Von Professor Dr. Ludger Lieb

Hartmann von Aue ist der bedeutendste deutsche Autor des späten 12. Jahrhunderts und einer der ersten herausragenden Vertreter der mittelhochdeutschen Klassik. Seine beiden Artusromane ‚Erec‘ und ‚Iwein‘ begründen die Gattung des Artusromans in deutscher Sprache und waren bereits im Mittelalter Klassiker. ‚Gregorius‘ und ‚Der arme Heinrich‘ umspielen auf faszinierende Weise die Grenze zwischen weltlichem und religiös-legendarischem Erzählen. Allen vier Werken wird in der germanistischen Forschung und Lehre seit Jahrzehnten eine kaum zu überbietende Aufmerksamkeit zuteil.

Vor dem Hintergrund der weitläufigen Forschungslandschaft zu Hartmann von Aue versammelt die vorliegende Einführung die wichtigsten Daten zu diesen Werken und präsentiert neue, inspirierende Lektüren.

(ESV/Ln)

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik