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Unter die Lupe genommen: Konzepte von Gegenwart (Foto: GoodIdeas - stock.adobe.com)
Auszug aus „Gegenwartskonzepte 1750–1800. Eine kulturwissenschaftliche Revision“

Die Gegenwart und wo sie zu finden ist

ESV-Redaktion Philologie
11.05.2023
Was bedeutet eigentlich der Begriff ‚Gegenwart‘ – und ab wann wurde er in unserem heutigen Verständnis gebraucht? Liest man bei Wikipedia nach, so findet man folgende Erläuterung: „Gegenwart ist eine Bezeichnung für ein nicht genau bestimmtes Zeitintervall zwischen vergangener Zeit (Vergangenheit) und kommender, künftiger Zeit (Zukunft). (...) Der Begriff Gegenwart ist in der deutschen Sprache bereits im Mittelhochdeutschen belegt, damals allerdings nur in der Bedeutung von ‚Anwesenheit‘. Erst im 18. Jahrhundert erfolgte eine Bedeutungsausweitung auf eine Zeitbezeichnung.“
Wie die Gegenwart selbst ist also auch ihr Begriff von stetigem Wandel geprägt, vor allem von einer räumlichen zu einer zeitlichen Bedeutung, so nimmt es die etymologische Forschung lange an. Doch damit ist längst nicht alles gesagt: Ein Blick zurück ins 18. Jahrhundert, eine Zeit des Umbruchs für das Konzept von Gegenwart, offenbart die Vielschichtigkeit des Begriffs, die weit über eine solche Entwicklung hinausgeht.

Lesen Sie im Folgenden einen Auszug aus dem neu im Erich Schmidt Verlag erscheinenden Beiheft der Zeitschrift für deutsche Philologie „Gegenwartskonzepte 1750–1800. Eine kulturwissenschaftliche Revision“. Darin beginnt in Rekursion auf das Grimm’sche Wörterbuch die Reise in die Vergangenheit auf der Suche nach Gegenwart.


III. Revision: Kleine Etymologie der Gegenwart nach Grimm


Die These der Gegenwarts(literatur)forschung, dass sich Gegenwart im 18. Jahrhundert entlang der übergreifenden Verzeitlichungsbewegungen der Epoche von einem Raum- zu einem Zeitbegriff wandelt, wird in der Regel unter Berufung auf den ausführlichen Artikel zur Gegenwart im Grimm’schen Wörterbuch konstatiert. In der Tat schematisiert schon Grimm den etymologischen Wandel von Gegenwart als einen semantischen Wechsel von Raum auf Zeit und als einen Zuwachs an begrifflicher Komplexität – zumindest auf den ersten Blick. Grimm beschreibt zunächst ausführlich die Entwicklungen im Alt- und Mittelhochdeutschen lange vor dem 18. Jahrhundert und skizziert, wie Gegenwart in dieser Zeit aus der „ursprüngliche[n] bed.[eutung] eines feindlichen entgegenstehens“ in den „gebrauch vor gericht“ übergeht und schließlich auch die „gegenwart des richters, auch des königs, des herrn überhaupt“ bezeichnete. Im 18. Jahrhundert gebe es dann einen signifikanten Bedeutungswandel, mit dem das Wort erst „ins begriffliche übergeh[e]“ (Grimm 2289) und dann zunehmend als Begriff „von der gegenwärtigen zeit“ (Grimm 2291) verwendet werde. Grimm postuliert also zum einen, dass das Wort zum ‚Begriff‘ wird, und zum anderen, dass die zeitliche Konnotation eine Neuerung des 18. Jahrhunderts darstellt. Beides sind zweifellos richtige Beobachtungen. Es greift allerdings zu kurz, so die These dieses Bandes, die Entstehung des modernen Gegenwartsbegriffs erstens als einfachen Wechsel von einer räumlichen zu einer zeitlichen Semantik, und zweitens als Komplexitätszuwachs (‚vom Wort zum Begriff‘) zu bestimmen.

So wird man dem Grimmschen Artikel erst dann gerecht, wenn man sich die dort außerdem skizzierten Relativierungen und etymologischen Gegenbewegungen ansieht. Konstatiert wird erstens ein semantischer Schwund, also eine Komplexitätsreduktion des Wortes im Verlauf des 18. Jahrhunderts. Eine bloß räumliche Semantik, so Grimm, habe Gegenwart eigentlich nie gehabt – erst mit der zeitlichen Konnotation tritt diese Bedeutung verstärkt auf (Grimm 2289). Grimm beschreibt den ‚vormodernen‘ Gegenwartsbegriff daher auch nicht als Raum-, sondern als Bewegungsbegriff und erläutert, dass der Gegenwartsbegriff das Moment des Inkrafttretens eines wirkenden Einflusses bezeichnet habe: den „Bereich der lebendigen wirkung einer person und gewalt.“ (Grimm 2285) Gegenwart habe in abstrakter Form eine Konstellation bezeichnet, auf die ein Einfluss ausgeübt werde – so etwa auch, wenn eine wirkende Person abwesend ist und der Einfluss stattdessen durch eine andere Person oder Instanz vertreten werde (Grimm 2289). Gegenwart sei daher auch nicht mit „unbetheiligte[m] zusehen“ verbunden, sondern mit einer „wesentlichste[n] betheiligung“ (Grimm 2285) – etwa im Fall der Zeugenschaft.

Nachgefragt bei Julia Mierbach und Dr. Eva Stubenrauch 23.05.2023
„‚Gegenwart‘ scheint im Laufe der Jahrhunderte immer mehr Bedeutungen dazu gewonnen, aber nur sehr wenige abgelegt zu haben“
Referenz, Darstellungsfigur, räumliche Präsenz, Ausdruck für das Hier und Jetzt – die Gegenwart ist ein wahres Multitalent, wenn es um vielfältige Bedeutungen eines Begriffes geht. Bislang wurden diese jedoch nur wenig differenziert von der literaturwissenschaftlichen Forschung wahrgenommen. Das soll sich jetzt ändern. mehr …

Grimm nimmt allemal an, dass der alte Gegenwartsbegriff nie „anwesenheit“ bedeutet habe, dass erst ‚wir‘ ihn zu dem „kahlsten begriffe des dabeiseins ein[]schrumpf-[en]“ (Grimm 2287) können und dass er „schulphilosophisch aus[ge]drückt, ‚de[n] zustand, da man durch seine eigne substanz ohne moralische mittelursachen, ja ohne alle werkzeuge an einem orte wirken kann“ bezeichnet habe. Hat es aber vor der zeitlichen Konnotation nie eine bloß räumliche, sondern nur eine substanztheoretische gegeben, dann wäre festzuhalten, dass die nur räumliche Semantik des Gegenwartskonzepts letztlich ein Resultat desselben Umbruchs ist, aus dem auch die zeitliche Bedeutung hervorgeht. Dann aber wäre die Geschichte des Gegenwartskonzepts nicht als historische Ablösung eines vermeintlich ‚simplen‘, vormodernen Raumworts durch einen ‚komplexeren‘, modernen Zeitbegriff zu erzählen. Vielmehr wäre die Leitdifferenz Raum/Zeit (wie sie nicht zuletzt mit Kants Philosophie diskursiv dominant wird) in Bezug auf Gegenwart selbst ein Effekt des modernen Gegenwartskonzepts. Zugleich würde eine solche Sichtweise die These der großen Modernetheorien nur bestätigen, dass viele unserer heutigen Begriffe erst um 1800 entstehen und dass zuvor tendenziell andere Schemata – bspw. Rhetorik, Psychologie, Metaphysik – für die Ordnung der begrifflichen Semantik zuständig gewesen sind. Um den älteren, vermeintlich bloß räumlichen Gegenwartsbegriff zu bestimmen, müsste man sich insofern dieses ‚vormoderne‘ Begriffsgefüge ansehen. Denn nur so können neu entstehende Semantiken trennscharf von diesen differenziert werden.

Zweitens weist Grimm diverse semantische Transformationen im 18. Jahrhundert nach, die nicht genuin zeitlich sind, aber doch ‚unser‘ Verständnis des Wortes noch bedingen sollen. Dies sind etwa neue Differenzbildungen, die Gegenwart verräumlichen, indem sie sie in den Gegensatz von Nähe und Distanz einlesen. Gegenwart werde nun „im gegensatz zur Entfernung“ verwendet, sie werde in Bezug auf das direkte Gespräch „im gegensatz zu brieflichem verkehr“ verwendet und für unmittelbare Wahrnehmungen „im gegensatz zu träumen und ahnungen“ (Grimm 2289) gebraucht. Darüber hinaus dokumentiert Grimm einen neuen Sinnlichkeitsbezug, man spreche von „dingen, die uns gegenwärtig, vor Augen sind“ und bezeichne so Gegenstände der „nahe[n] Wirklichkeit“. So etwa bei Johann Georg Hamann: „Es werde licht! hiemit fängt sich die empfindung von der gegenwart der dinge an.“

[…]

Im Grimmschen Wörterbuch wird damit ein sehr breites Spektrum unterschiedlicher Gegenwartssemantiken entfaltet. Dazu gehören sowohl ältere Semantiken der Gegenwart als gemeinsame Einflusssphäre, die auch bei physischer Abwesenheit bestehen kann, als auch neuere Bedeutungen, die sinnlichkeitsbezogene Darstellungsaspekte, seelenpsychologisch-ethische Dimensionen der Geistesgegenwart sowie zeitliche Verwendungen von Gegenwart einschließen.


Sind Sie neugierig geworden? Dann können Sie das aktuelle Beiheft hier bestellen.

Auch interessant: Alle Ausgaben der Zeitschrift für deutsche Philologie erscheinen schon seit 1954 im Erich Schmidt Verlag.
Die Zeitschrift deckt sachlich und methodisch ein breites Spektrum der germanistischen Grundlagen- und Spezialforschung ab. Mit ihren Beiträgen aus den Bereichen der Sprachgeschichte und philologischen Texterschließung, Literaturgeschichte und Poetik/Rhetorik, Texttheorie und Kulturwissenschaft steht sie für eine Germanistik, die auf der Basis einer disziplinären Identität zugleich in die aktuellen Theoriediskussionen eingebunden ist.

Zu den Autorinnen
Julia Mierbach ist als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bonn tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Neuere Deutsche Literatur, Transdisziplinäre Theoriegeschichte sowie Digitalität und Sicherheit. Ihr Promotionsprojekt trägt den Titel „Die Reihe. Verfahrensgeschichte einer Denkfigur“.

Eva Stubenrauch ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin. In ihrem Habilitationsprojekt erforscht sie die Genealogie und Topik literaturtheoretischer Denk- und Schreibmuster des 20. Jahrhunderts. Weitere Forschungsschwerpunkte sind Zukunftsordnungen seit 1800 (Dissertation), Politische Theorie und Populärkultur.

Gegenwartskonzepte 1750-1800
Von Julia Mierbach, Eva Stubenrauch
Mit Beiträgen von Christiane Frey, Daniel Fulda, Paul Labelle, Julia Mierbach, Elisa Ronzheimer, Bettina Schlüter, Julia Soytek, Eva Stubenrauch, Stefan Willer

Die These der Verzeitlichung der historischen Kategorien Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der ‚Sattelzeit‘ dominiert seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und bis heute die Gegenwarts(literatur)forschung. Diese betrachtet das späte 18. Jahrhundert zumeist als Trennscheibe zwischen einem ‚alten‘ räumlichen und einem ‚neuen‘ zeitlichen Gegenwartsbegriff.
Übersehen wurde dabei, dass das vermeintlich naivere, vormoderne Gegenwartskonzept keineswegs bloß räumlich gemeint war, sondern erheblich komplexere Semantiken implizierte, die von der Ästhetik bis in die Metaphysik ausgreifen. Nicht untersucht wurden bislang zudem unterschiedliche Relationsformen von Raum und Zeit sowie Wissenskontexte und Darstellungsverfahren, die die moderne Gegenwart diesseits und jenseits der Kategorien Raum und Zeit modellierten.
Der Band vermisst das Feld der Gegenwartskonzepte im 18. Jahrhundert in diesem Sinne grundlegend neu und rekonstruiert Leitparadigmen und Transformationsgeschichten, die sich bis heute auswirken.


Zeitschrift für deutsche Philologie
Herausgeber: Norbert Otto Eke, Michael Elmentaler, Udo Friedrich, Eva Geulen, Monika Schausten, Hans Joachim Solms
Redaktion: Clara Fischer, Alina Kornbach, Christiane Krusenbaum-Verheugen, Johanna Tönsing

Die von Ernst Höpfner und Julius Zacher im Jahr 1868 gegründete, seit 1954 (mit Band 73) vom Erich Schmidt Verlag betreute Zeitschrift für deutsche Philologie (ZfdPh) erscheint jährlich in vier Heften und einem Sonderheft wechselnder thematischer Orientierung, die von zwei Redaktionen verantwortet werden: Ältere deutsche Literatur/Sprachgeschichte (Köln/Halle) und Neuere deutsche Literatur (Berlin/Paderborn).

Um dem sich wandelnden Selbstverständnis des Fachs und einem erweiterten Philologie-Begriff gerecht zu werden, deckt die Zeitschrift für deutsche Philologie mit ihrem regelmäßigen Wechsel der disziplinären Ausrichtung der Hefte und Sonderhefte (1. und 3. Heft: Ältere deutsche Literatur/Sprachgeschichte; 2. und 4. Heft: Neuere deutsche Literatur; Sonderheft jährlich wechselnde Redaktionsverantwortung) sachlich und methodisch ein breites Spektrum der germanistischen Grundlagen- und Spezialforschung ab. Dies erfolgt in Abhandlungen, Miszellen, Diskussionen, Rezensionen und Tagungsberichten.

Mit ihren Beiträgen aus den Bereichen der Sprachgeschichte und philologischen Texterschließung, Literaturgeschichte und Poetik/Rhetorik, Texttheorie und Kulturwissenschaft steht sie für eine Germanistik, die auf der Basis einer disziplinären Identität zugleich in die aktuellen Theoriediskussionen eingebunden ist. Aus diesem Grund sind internationale germanistische Beiträge ebenso erwünscht wie - vor allem in den thematisch orientierten Sonderheften - Aufsätze aus anderen sprach- und literaturwissenschaftlichen Disziplinen.

Diese Zeitschrift bietet Ihnen

  • sachlich und methodisch ein breites Spektrum der germanistischen Grundlagen- und Spezialforschung
  • in regelmäßigem Wechsel der disziplinären Ausrichtung zur Älteren deutschen Literatur/Sprachgeschichte (Hefte 1 und 3) und zur Neueren deutschen Literatur (Hefte 2 und 4) aktuelle Fachbeiträge renommierter in- und ausländischer Autoren
  • ergänzend zum Jahresabonnement auch den Bezug von Sonderheften in wechselnder thematischer Orientierung und Beiheften (jeweils ergänzend im Jahresabonnement beziehbar).
  • abwechselnd von der Redaktion "Neuere Literaturwissenschaft" bzw. von der Redaktion "Ältere Germanistik und Sprachwissenschaft" herausgegebene Sonderhefte
  • Beihefte zu Sonderthemen

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Programmbereich: Germanistik und Komparatistik