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Ritter auf der Jagd. Jagdszene, Schloss Runkelstein (Südtirol), um 1420, Fresko. (Foto: privat)
Auszug aus: „Aventiure. Ereignis und Erzählung“

Die Jagd als Auslöser von Aventiure

ESV-Redaktion Philologie
03.03.2022
Die Bewährungsprobe des höfischen Ritters in einer fremden und feindlichen Welt zählt zum wesentlichen Merkmal des mittelalterlichen höfischen Romans. Ein zentraler Begriff dieser Artusromane ist die „Âventiure“. Die Erzählstruktur ist immer ähnlich: Ein Ritter hat eine gesellschaftliche Verfehlung begangen, zieht aus „ûf âventiure“ und begibt sich damit auf die Suche nach einer unbekannten Herausforderung. Indem er das Abenteuer bewältigt, erringt der Held soziale Anerkennung und Ruhm am Artushof zurück.
Der Handlungsraum der jeweiligen Âventiuren ist dabei unterschiedlich gestaltet. Gemeinsam ist ihnen, dass der Ritter in eine ihm unbekannte Welt ausreitet, Abenteuer besteht, die altruistisch und somit sinnvoll sind, um in der Folge wieder ein angesehenes Mitglied der arthurischen Gesellschaft zu werden. Ein klassischer ‚Gegenort‘ zur adligen Gesellschaft am Hof sind daher die Wildnis oder der Wald, weil sie (narrative) Räume sind, die unvorhersehbare Begegnungen von Unbekanntem gewährleisten – ideale Voraussetzungen also, um Abenteuer zu erleben und zu bestehen.

Lesen Sie im Folgenden einen Auszug aus dem Beitrag „In der Forest Aventureuse: Jagd, Initiation und Aventiure in erzählhistorischer Perspektive“ von Julia Weitbrecht. Der Beitrag erscheint in dem Band „Aventiure. Ereignis und Erzählung“.


Der als Begründer des Genres geltende Artusroman „Erec et Enide“ beginnt mit einer Jagdpartie. Dabei handelt es sich um ein besonderes höfisches Freizeitvergnügen, denn König Artus wünscht, die costume wiederzubeleben, Jagd auf den weißen Hirsch zu machen. Wer diesen erlegt, darf per Kuss die schönste Dame des Hofes küren. Trotz der Warnungen Gauvains, dies werde zu Konflikten führen, macht sich die Hofgesellschaft bereit. Kurz nach dem Aufbruch von König Artus und seinen Jägern reitet die Königin, begleitet von einer ihrer Damen und dem jungen Ritter Erec, der Jagdgesellschaft nach und mitten hinein in die forest aventureuse:

Cil qui devant erent alé / avoient ja le cerf levé; / li un cornent, li autre huient; / li chien aprés le cerf s’esbruient, / corent, angressent et abaient; / li archier espessemant traient. / Devant ax toz chace li rois / sor un chaceor espanois. / La reïne Ganievre estoit / el bois qui les chiens escotoit, / [...] / Por orellier et escouter / s’il orroient home parler / ne cri de chien de nule part, / tuit troi furent an un essart, / anz en un chemin, aresté.

Die Ritter, die vorher diesen Weg gezogen waren, hatten den Hirsch schon aufgescheucht;
die einen stießen ins Horn, andere schrien; die Hunde jagten mit lautem Gebell
hinter dem Hirsch her, liefen, stürzten vorwärts und kläfften; die Bogenschützen
schossen einen dichten Pfeilhagel. Vorneweg jagte der König auf einem spanischen
Renner. Die Königin Guenièvre hielt im Wald an und horchte, ob sie das Gebell der
Hunde vernähme, [...] Um die Ohren zu spitzen und zu lauschen, ob sie jemanden sprechen
oder irgendwo Hunde bellen hörten, hatten sie alle drei auf einer Lichtung mitten
auf dem Wege haltgemacht.
(Aus Chrétien de Troyes: Erec et Enide. Erec und Enide. Altfranzösisch/Deutsch, übers. u. hg. v. Albrecht Gier, Stuttgart 1987, vv. 117–137.)

Diese Vereinzelung in der Waldeinsamkeit und Separierung von der Jagdpartie ist folgenreich, denn daraus ergeben sich erst die handlungsbildenden Aventiuren des Artusritters Erec: Während Artus (denn natürlich ist er es, der den weißen Hirsch erbeuten wird) die Entscheidung darüber, wer die schönste Frau sei, aussetzt, macht sich Erec auf, um ein an ihm begangenes Unrecht zu rächen und lernt dabei seine spätere Frau Enide kennen, die dann schließlich auch den Preis erringt. Die Jagdpartie bildet hier gewissermaßen das Präludium zur Aventiure und liefert ein stimmungsvolles Ausgangsbild: Der Hof zerstreut sich, man betritt in kleineren Gruppen die Sphäre der Wildnis und es herrscht eine Atmosphäre vorfreudiger Aufgeregtheit, die sich insbesondere auch akustisch bemerkbar macht, im Durcheinander der tierlichen und menschlichen Stimmen sowie im dramatischen Wechsel von jäher Bewegung und lauerndem Verharren. Diese Jagd ist ein, zumindest aus der Perspektive der jagenden Menschen, harmloser Zeitvertreib, wie er vorwiegend jungen adligen Männern zur körperlichen Ertüchtigung dient und im Laufe des 12. Jahrhunderts zunehmend Bedeutung in Bezug auf adliges Self-fashioning und als „didaktisch-pädagogisches Disziplinierungsinstrument“ (Martina Giese) erfährt.
In der knappen Szene wird zudem eine basale narrative Funktion deutlich, welche die Jagd in zahlreichen höfischen Erzähltexten besitzt. Jagdszenen sind meist kurz, erscheinen dabei aber atmosphärisch stark verdichtet und auch folgenreich für die anschließende Handlung. Jagd führt aus der sicheren Einhegung des Hofes heraus in den Wald, sie trennt und vereinzelt die unterschiedlichen Parteien. Dabei kann sie die Akteure in die Irre oder wie zufällig wieder zusammenführen. Somit scheint hier weniger, mit Kurt Ruh, die „Abenteuerfahrt Erecs“ an die Stelle der „erwarteten Jagdaventiure in der forest aventureuse“ zu treten, als vielmehr Jagd als Auslöser von Aventiure dargestellt wird, weil ihr bei aller Disziplinierung und Ritualisierung stets ein Element des Unerwarteten, nicht Planbaren inhärent ist. Mit der Analyse von Jagdszenen sind daher neben Fragen der Stimmung und Raumsemantik jeweils auch solche der narrativen Motivierung und Kohärenzstiftung verbunden, denn in einem charakteristischen Umschlagmoment kann die Jagd jederzeit in etwas Neues und Unvorhergesehenes überführen.

Nachgefragt bei Dr. Michael Schwarzbach-Dobson und Prof. Dr. Franziska Wenzel 08.03.2022
„Das Suchen ist ein Zustand des Mangels, der Fund einer der Erfüllung“
Erzählungen von Abenteuern besitzen für Leserinnen und Leser eine ungebrochene Faszination. Nicht nur in der literarischen Moderne begegnen wir zahlreichen Abenteuergeschichten, sondern schon in der Antike und im Mittelalter gibt es berühmte Texte, die sich diesem Sujet widmen. mehr …

In den literarischen Inszenierungen dieses Umschlagmoments kommt – auf pragmatischer Ebene – die interaktive Dimension einer kulturellen Praxis zum Tragen, an der zahlreiche menschliche und tierliche Akteure beteiligt sind. Bei der Hetzjagd wird die Beute von Pferden, Menschen und vor allen Dingen abgerichteten Hunden so lange verfolgt, bis sie erschöpft ist und erlegt werden kann. Doch besitzt das gejagte Tier durchaus auch Handlungsmacht, da es die Richtung vorgibt und sich, je nach Spezies, auch abrupt gegen seine Verfolger wenden kann. Der mittelhochdeutsche Terminus bîl bezeichnet in diesem Zusammenhang den Moment, in dem das gejagte Tier in Todesangst innehält und sich umwendet, um den direkten Kampf aufzunehmen.

Auf der Ebene des Metaphorischen ist damit zugleich der Punkt in der Jagd bezeichnet, an dem das Verhältnis von Dominanz und Unterwerfung zur Verhandlung steht, der Jäger selbst zum Gejagten werden kann und sich die Machtverhältnisse jäh verkehren können. Anstelle dessen, was die jagenden Protagonisten zu suchen glauben – Wild, sportliche Betätigung, höfische Zerstreuung – finden sie in den literarischen Inszenierungen häufig etwas anderes und werden in dieser Begegnung zu anderen, wobei das durch die Jagd in Gang gebrachte Geschehen an die Kodierung von Gefahr und Begehren gebunden bleibt.

Dieses Umschlagmoment wird auf der Ebene des discours oftmals nachträglich als planvoll und providentiell dargestellt, so dass die vermeintlich ungerichtete Bewegung in der Sphäre der Wildnis auf einer übergeordneten Erzählebene einer bestimmten Ausrichtung oder auch Re-Orientierung der Akteure und des Geschehens dient. Die begehrte Beute steht dabei stellvertretend für andere Begehrensstrukturen und weist auf diese voraus. Dieser Zusammenhang spielt noch vor der Emergenz höfischen Erzählens im 12. Jahrhundert in zahlreichen christlichen Legenden eine Rolle, in denen die vermeintliche Verirrung auf der Jagd zur Einlassstelle für göttliche Offenbarung wird. Das prominenteste Beispiel für eine solche einschneidende Jagdbegebenheit als Auslöser für eine Conversio ist sicherlich die „Eustachiuslegende“, in der die Jagd auf einen besonderen Hirsch den Heiligen zunächst in der Wildnis von seiner Gruppe separiert und schließlich zu seiner religiösen Bekehrung führt, nachdem Christus durch das Tier zu ihm gesprochen hat. Auch die beiden Texte, die im Folgenden untersucht werden sollen, funktionalisieren das Umschlagmoment der Hetzjagd für eine Re-Orientierung ihrer Protagonisten. Diese ist jedoch anders gelagert, denn im Mittelpunkt steht die Bewährung des adoleszenten Jägers im Hinblick auf das Verhältnis von Gewaltfähigkeit und Disziplinierung. Dies wird auf jeweils unterschiedliche Art und Weise mit der Initiation und Einübung in die Ritterschaft in Zusammenhang gesetzt und weist somit Berührungspunkte zur Aventiure auf, ohne indessen ganz darin aufzugehen.

Haben wir Sie neugierig gemacht? Dann lesen Sie gern weiter in dem Buch Aventiure. Ereignis und Erzählung, das Anfang März im Erich Schmidt Verlag erscheint.

Die Herausgeberin und der Herausgeber
Michael Schwarzbach-Dobson hat Germanistik und Geschichte in Cambridge, Göttingen und Wien studiert. 2018 promovierte er zu mittelalterlichen Kurzerzählungen. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität zu Köln und habilitiert dort zur Aventiure in mittelhochdeutschen Romanen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört die Rhetorik, die Historische Semantik und kulturhistorische Fragestellungen.
Franziska Wenzel ist Professorin für Ältere deutsche Literatur an der Goethe-Universität Frankfurt. Sie promovierte zu einem kommunikations- und mediengeschichtlichen Thema in der höfischen Epik und habilitierte sich zu (Ton-)Autorschafts- und Meisterschaftsformen hoch- und spätmittelalterlicher Textgefüge. Neben Textualität und Überlieferungsgeschichte zählen Fragen der Praxeologie und Narratologie zu ihren Forschungsinteressen.

Aventiure. Ereignis und Erzählung
Herausgegeben von: Dr. Michael Schwarzbach-Dobson, Prof. Dr. Franziska Wenzel

Im Zuge der gegenwärtigen Konjunktur narratologischer Untersuchungen steht immer wieder das Verhältnis von Ereignis und Erzählung im Fokus der Forschung. Für die Literatur des Mittelalters kann diese Relation besonders markant am Erzählkonzept der Aventiure aufgezeigt werden. Nicht nur lässt sich das mittelhochdeutsche Wort ‚âventiure‘ sowohl als Ereignis wie als Erzählung übersetzen, auch das Erzählen von ebendieser Aventiure konfiguriert in vielen mittelalterlichen Texten eine besondere narrative Dynamik: ein Schema aus Suchen und Finden von Anerkennung, Liebe und Herrschaft, innerhalb dessen der Protagonist soziale wie kulturelle Schwellen überschreitet.
Damit öffnet sich ein weiter Horizont erzähltheoretischer wie kulturgeschichtlicher Fragestellungen, der von den Beiträgen des Tagungsbandes in unterschiedlicher Perspektivierung aufgegriffen wird. Gezeigt wird dabei, wie das Aventiure-Erzählen kulturelle Konstellationen und narrative Verfahren im Kontext von Jagd, Suche, Recht und religiösem Diskurs reguliert. Gleichzeitig wird der Blick auf diejenigen sprachlichen Verfahren gelenkt, die in der und durch die Aventiure Möglichkeiten der narrativen Sinnbildung einnehmen.

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik