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„Fensterln“: Brauchtum in Süddeutschland, Hausfriedensbruch in nördlicheren Gebieten (Foto: Sandra Zuerlein – stock.adobe.com)
Neues aus dem „Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte“

„Die jüngere Forschungsliteratur verweist die Probenächte heute zu Recht in das Reich der Sagen und Legenden“

ESV-Redaktion Philologie
24.06.2020
Die Rechtsgeschichte hält interessante, dem Laien oft nicht geläufige Begrifflichkeiten bereit. Ein solcher Begriff ist beispielsweise „Probenächte“. Wenn man zu diesem Stichwort recherchiert, kommt man schnell zu dem Schluss, dass es sich dabei um einen Aberglauben handelt.
Wieso, weshalb und warum kann man einem gleichnamigen Artikel des „Handwörterbuchs zur deutschen Rechtsgeschichte“ entnehmen, dessen 28. Lieferung demnächst erscheint. Lesen Sie exklusiv und vorab den Artikel „Probenächte“ unserer Autorin Anika M. Auer:

Probenächte

Weder für das Mittelalter noch für die Neuzeit können haltbare Quellenbelege über den Brauch der Probenächte ausgemacht werden. Der Terminus ‚Probenächte‘ findet sich erstmals in der 1780 publizierten Schrift Über die Probenächte der teutschen Bauernmädchen. Der Autor Friedrich Christoph Jonathan Fischer, seit 1780 Professor für Staats- und Lehnrecht an der Universität Halle an der Saale, verortete die Probenächte als Sitte von Bauern im Schwarzwald und in der Schweiz.

Kommnächte

Nach Fischer sei es besonders in diesen Gebieten üblich, sog. Komm- und Probenächte vor der Eheschließung zu vollziehen – ohne dass die Beteiligten ihre Ehre verletzen oder das Recht auf eine gültige Eheschließung verwirken würden. Bei diesem Brauch sei es einem ledigen Mann gestattet, in vereinbarten Nächten durch das Fenster in das Zimmer seiner Angebeteten zu steigen, wo er „etliche Stunden mit seinem Mädchen plaudern [dürfe], das sich um dise Zeit ganz angekleidet im Bette befindet“ und sich entfernen müsse, „sobald sie eingeschlafen ist“ (F.C.J. Fischer, 5).

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Eheanbahnung

Nach dem Kennenlernen in diesen sog. Kommnächten käme es dann schließlich zu den Probenächten, in denen die Frau dem Mann alles gestatte, „womit ein Frauenzimmer die Sinnlichkeit einer Mannesperson befridigen kann“ (F.C.J. Fischer, 5). Die Probenächte werden von F.C.J. Fischer somit als eine Art Ritual zur Eheanbahnung klassifiziert, denn nach erfolgreichen Probenächten würden Verlobung und Heirat vollzogen. Die Abhandlung von F.C.J. Fischer erschien bis ins 20. Jh. in mehreren Auflagen und wurde – meist ohne kritische Prüfung – in eherechtl., volkskundl. sowie sexualwissenschaftl. Werken rezipiert. So übernahm beispielsweise 1801 Johann Heinrich Fischer in seiner Untersuchung über Heirath- und Hochzeitsbräuche in seinem ersten Kapitel „Probenächte in Schwaben“ ohne Angabe der Quelle ganze Passagen von F.C.J. Fischer (Hartmann, 22).

„Nicht nachweisbar”

Zudem werden in der älteren Literatur die Probenächte manchmal auch fälschlicher Weise mit dem Jus primae noctis (so z.B. bei Götzinger) gleichgesetzt, das ebenso wie die Probenächte einer belastbaren Quellengrundlage entbehrt. Die jüngere Forschungsliteratur verweist die Probenächte heute zu Recht in das Reich der Sagen und Legenden (Peuckert, Lipp) und zumindest „für das 20. Jahrhundert ist nicht nachweisbar, daß sich die Bauern bereits vor der Ehe vergewisserten, ob ihre Auserwählten in der Lage waren, ihnen Erben zu gebären“ (Albers, 149). Die Vorstellung von Probenächten hielt sich hingegen lang, u.a. in Volksliedern (z.B. im Plattdeutschen Lied Kumm bi de Nacht) oder im Brauchtum (z.B. im süddt. Raum beim „Fensterln“ während der Brautwerbung).

E. Götzinger, Reallexicon der Dt. Altertümer, 1885, 812; K.-S. Kramer, Art. P., HRG III, 11984, 2027–2028. – F.C.J. Fischer, Über die P. d. teutschen Bauernmädchen, Berlin/Leipzig 1780; J.H. Fischer, Beschreibung der Heirath und Hochzeitsbräuche fast aller Nationen, Wien 1801; W. Bölsche, Das Liebesleben in d. Natur. Zweiter Teil, 1910; W.-E. Peuckert, Weiberzeit, Männerzeit, Saeterehe, Hofehe, freie Ehe, 1955, 325–336; C. Lipp, Dörfl. Formen generativer u. soz. Reproduktion, in: W. Kaschuba/dies. (Hg.), Dörfl. Überleben, 1982, 288–598; A. Hartmann, Die Anfänge d. Volkskunde, in: R.W. Brednich (Hg.), Grundriss der Volkskunde, ²1994, 9–30, hier 22 f.; H. Albers, Zwischen Hof, Haushalt u. Familie, 2001.

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Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG) – Lieferung 28: Preis – Radbruch, Gustav Lambert

Herausgegeben von Prof. Dr. Albrecht Cordes, Prof. Dr. Hans-Peter Haferkamp, Prof. Dr. Bernd Kannowski, Prof. Dr. Heiner Lück , Professor Dr. Heinrich de Wall, Prof. Dr. Dieter Werkmüller und Prof. Dr. Christa Bertelsmeier-Kierst als philologischer Beraterin

Unter Rechtshistorikern und Historikern gilt das „Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte“ als Standardwerk. Mehr als 5.000 Stichwörter präsentieren weitgehend die Summe des Wissens über die Geschichte des Rechts. Für die Neuauflage wurden zahlreiche neue Stichwörter aufgenommen. Auch wenn Mittelalter und Frühe Neuzeit unverändert einen gebührenden Platz einnehmen, werden stärker als zuvor die neuere und neueste Rechtsgeschichte sowie die Rechtsgeschichte einzelner europäischer Länder berücksichtigt. Sämtliche Informationen wurden von bisher etwa 600 Wissenschaftlern fundiert recherchiert und wissenschaftlich seriös aufbereitet. Die komplexe interdisziplinäre Zusammenarbeit von Rechtshistorikern mit Philologen, Historikern, Volkskundlern, Kulturwissenschaftlern und Theologen verhilft der 2. Auflage zu einer noch größeren Spannbreite.

(ESV/vh)

Programmbereich: Rechtsgeschichte