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Möchte die Bedeutung von Dichterinnen unterstreichen: Jochen Petzold (Foto: Privat)
Nachgefragt bei Prof. Dr. Jochen Petzold

„Die Popularisierung des Sonetts wäre ohne Dichterinnen nicht möglich gewesen“

ESV-Redaktion Philologie
03.11.2021
Die Geschichte des Sonetts in England wird oft als männlich geprägt beschrieben. Doch ohne Dichterinnen wäre diese Lyrikform vermutlich in Vergessenheit geraten. Im Erich Schmidt Verlag erscheint nun ein Band, in dem Sonette vom 13. bis ins 21. Jahrhundert besprochen werden, die nicht nur sprachliche Kunstwerke sind, sondern auch Aufschluss über die jeweils herrschenden Diskurse bieten. Wir haben mit dem Autor Prof. Dr. Jochen Petzold gesprochen.
Lieber Herr Petzold, in Ihrem Band befassen Sie sich mit einer der beliebtesten und produktivsten Formen englischer Lyrik, dem Sonett. Eines Ihrer Ziele war es dabei, neben berühmten Schriftstellern wie William Shakespeare, John Donne oder Rupert Brooke, auch weniger bekannten Dichtern eine Bühne zu bieten. Welche Rolle spielten hierbei Dichterinnen?

Jochen Petzold: In höfischen Liebessonetten spricht fast immer eine männliche Figur, daher gilt das Sonett vielen als männliche Gattung. Tatsächlich haben aber schon sehr früh auch Frauen Sonette geschrieben (in England allerdings vergleichsweise selten). Jedenfalls wäre die „Wiederentdeckung“ und Popularisierung des Sonetts in den letzten Dekaden des 18. Jahrhunderts in England ohne Dichterinnen wie Charlotte Smith, Anna Seward oder Mary Robinson nicht möglich gewesen – und trotzdem waren sie von der Literaturgeschichtsschreibung lange ignoriert worden. Das ändert sich seit einigen Jahren und es war mir ein Anliegen, neben den relativ bekannten Sonetten Elizabeth Barrett Brownings oder Christina Rossettis auch Beispiele (heute) weitgehend unbekannter Autorinnen aufzunehmen, etwa Reisegedichte von Lady Emmeline Stuart-Wortley, oder Sonette über den Zweiten Weltkrieg von Vera Bax.

Wird Lyrik heutzutage überhaupt noch rezipiert?

Jochen Petzold: Im 18. Jahrhundert konnte man mit Gedichtbänden reich werden, davon können die meisten Lyrikerinnen und Lyriker inzwischen nur noch träumen. Aber auch heute finden Gedichte ihr Publikum und neuere Formate wie Poetry Slams oder Performance Poetry erfreuen sich großer Beliebtheit. Und auch das Sonett erobert sich immer wieder breite Aufmerksamkeit: während des Corona-Lockdowns hat beispielsweise Patrick Stewart über ein halbes Jahr hinweg in einem täglichen Videocast je eines von Shakespeares Sonetten vorgelesen, und Tausende haben ihn dabei begleitet.

Welche Sonette behandeln Sie schwerpunktmäßig in Ihrem Band?

Jochen Petzold: Schon früh in seiner Geschichte wurden Sonette sehr oft nicht als einzelne, unabhängige Gedichte, sondern als Teil eines mehr oder weniger zusammenhängenden Sonettzyklus geschrieben, und diese Zyklen erreichten besondere Popularität. Für die Verbreitung des Sonetts in Europa sind beispielsweise Francesco Petrarcas Gedichte an Laura von außerordentlicher Bedeutung, im frühneuzeitlichen England löste Sir Philip Sidney mit Astrophil and Stella eine wahre Flut von Sonettzyklen aus, und solche Zyklen und Sonett-Sammlungen stehen im Fokus meines Buches. Natürlich können jeweils nur einzelne Sonette exemplarisch besprochen werden, aber ich versuche immer auch einen Eindruck der gesamten Gedichtsammlung zu vermitteln.

Auszug aus: „A History of the Sonnet in England – ‘A little world made cunningly’“ 20.10.2021
Das traditionelle Sonett als poetische Ausdrucksform des 21. Jahrhunderts
Mit "A History of the Sonnet in England – ‘A little world made cunningly’" erscheint im Erich Schmidt Verlag ein Band, der die Entwicklung des Sonetts vom 13. bis ins 21. Jahrhundert nachzeichnet. Der Fokus liegt dabei auf Sonett-Zyklen, die in Form von Fallbeispielen präzise analysiert und kontextualisiert werden. mehr …

Was möchte uns John Donne, der Urheber des titelgebenden Zitats, Ihrer Meinung nach mit „a little world made cunningly“ mitteilen?

Jochen Petzold: Das Zitat entstammt einem religiösen Sonett Donnes, bezieht sich dort aber auf den Sprecher selbst, auf die Dualität von Körper und Seele und deren Bedrohung durch die Sünde. Ich habe es also gewissermaßen zweckentfremdet. Aber ich denke, dass sich das Zitat sehr gut auf das Sonett selbst beziehen lässt, wobei es allerdings leicht missverstanden werden kann. Heute bedeutet „cunningly“ ja meist „heimtückisch“, zu Donnes Zeiten ist die dominante Bedeutung jedoch „geschickt“, „kenntnisreich“ oder „gekonnt“ – und in diesem Sinn passt es für mich sehr gut zum Sonett, einem „kleinen“ Gedicht, das aber eine ganze Welt entwerfen kann und dessen Komposition Geschick und Können erfordert.

Sie bringen Ihren Leserinnen und Lesern die Entwicklung des Sonetts vom 13. bis ins 21. Jahrhundert nahe. Gibt es trotz dieses großen zeitlichen Abstands eine Art thematischer „Dauerbrenner“?

Jochen Petzold: Überspitzt gesagt gibt es wohl kein Thema, das noch nicht in einem Sonett behandelt wurde. Und die thematische Vielfalt nimmt über die Jahrhunderte eindeutig zu (das gilt für Lyrik ganz allgemein). Allerdings ist das Sonett seit Petrarcas Canzoniere mit dem vergeblichen Werben um eine idealisierte Frau verbunden, und seither haben sich unzählige Dichterinnen und Dichter in diese Tradition gestellt, sich an ihr gerieben, sie erweitert, oder versucht, mit ihr zu brechen – wobei auch das die Tradition in gewisser Weise fortführt. Insofern ist das sehr breite Thema „Liebe“ schon eine Art roter Faden, der sich durch die Geschichte des Sonetts in England zieht. Aber gleichzeitig geht es mir auch darum, die große thematische Vielfalt der Sonettdichtung zu zeigen.

Zu guter Letzt: Welche Tendenz können Sie für die Zukunft des englischen Sonetts prognostizieren? Oder anders gefragt, ist das Sonett vom Aussterben bedroht?

Jochen Petzold: Das englischsprachige Sonett gibt es jetzt seit rund 500 Jahren und ich bin zuversichtlich, dass es noch lange überleben kann. Technologische und gesellschaftliche Veränderungen bringen neue Themen, und diese werden sich auch in Sonetten finden, aber es ist davon auszugehen, dass auch weiterhin viele Sonette über (unglückliche) Liebesbeziehungen geschrieben werden.

Herzlichen Dank für das spannende Interview!

Der Autor
Jochen Petzold ist Professor für Britische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg. Er habilitierte über Sprechform und -funktion in der Lyrik (Sprechsituationen lyrischer Dichtung) und veröffentlichte zahlreiche Arbeiten zum Sonett. Derzeit forscht er insbesondere zur viktorianischen Populärkultur.

A History of the Sonnet in England: "A little world made cunningly"
Autor: Prof. Dr. Jochen Petzold

“My mistress’ eyes are nothing like the sun” (William Shakespeare)
“Death! be not proud, …” (John Donne)
“If I should die, think only this of me” (Rupert Brooke)
Selbst wer nur gelegentlich englische Gedichte liest, hat diese Verse vermutlich schon gehört, und Lyrik-Liebhaber:innen werden die Zitate als die Anfangszeilen von Sonetten erkannt haben. Viele der bekanntesten englischen Gedichte sind Sonette, und diese sind vermutlich die am häufigsten in Anthologien aufgenommene Gedichtform. Sonette sind kurz, und doch üben sie seit Jahrhunderten eine große Faszination auf ihre Leser:innen aus und können, um eine Zeile von John Donne zu adaptieren, „a little world made cunningly” verkörpern: eine geschickt erschaffene kleine Welt.
Um diese kleine Welt ausführlich zu erforschen, wird der Fokus in diesem Werk, anders als in herkömmlichen englischen Literaturgeschichten, ausschließlich auf Sonette gelegt. Jochen Petzold illustriert, neben Beispielen aus Schottland, Wales und Nordirland, insbesondere die Geschichte des Sonetts in England – von dessen Einführung in die englische Kultur im 16. Jahrhundert bis zu jüngsten Entwicklungen im 21. Jahrhundert. Besondere Beachtung finden dabei Sonett-Zyklen. Das Buch behandelt nicht nur Berühmtheiten wie William Shakespeare, John Donne oder Rupert Brooke, die eingangs zitiert wurden, sondern bringt den Leser:innen auch viele weniger bekannte Dichter:innen näher. Die Sonett-Zyklen sowie einzelne Sonette werden als Fallbeispiele in deren historischen und kulturellen Kontexten eingängig analysiert, wodurch sich das Werk sowohl für Kenner:innen als vertiefende Studien als auch für Fans englischer Lyrik als solide Basis empfiehlt.

Programmbereich: Anglistik und Amerikanistik