„Die Popularisierung des Sonetts wäre ohne Dichterinnen nicht möglich gewesen“
Jochen Petzold: In höfischen Liebessonetten spricht fast immer eine männliche Figur, daher gilt das Sonett vielen als männliche Gattung. Tatsächlich haben aber schon sehr früh auch Frauen Sonette geschrieben (in England allerdings vergleichsweise selten). Jedenfalls wäre die „Wiederentdeckung“ und Popularisierung des Sonetts in den letzten Dekaden des 18. Jahrhunderts in England ohne Dichterinnen wie Charlotte Smith, Anna Seward oder Mary Robinson nicht möglich gewesen – und trotzdem waren sie von der Literaturgeschichtsschreibung lange ignoriert worden. Das ändert sich seit einigen Jahren und es war mir ein Anliegen, neben den relativ bekannten Sonetten Elizabeth Barrett Brownings oder Christina Rossettis auch Beispiele (heute) weitgehend unbekannter Autorinnen aufzunehmen, etwa Reisegedichte von Lady Emmeline Stuart-Wortley, oder Sonette über den Zweiten Weltkrieg von Vera Bax.
Wird Lyrik heutzutage überhaupt noch rezipiert?
Jochen Petzold: Im 18. Jahrhundert konnte man mit Gedichtbänden reich werden, davon können die meisten Lyrikerinnen und Lyriker inzwischen nur noch träumen. Aber auch heute finden Gedichte ihr Publikum und neuere Formate wie Poetry Slams oder Performance Poetry erfreuen sich großer Beliebtheit. Und auch das Sonett erobert sich immer wieder breite Aufmerksamkeit: während des Corona-Lockdowns hat beispielsweise Patrick Stewart über ein halbes Jahr hinweg in einem täglichen Videocast je eines von Shakespeares Sonetten vorgelesen, und Tausende haben ihn dabei begleitet.
Welche Sonette behandeln Sie schwerpunktmäßig in Ihrem Band?
Jochen Petzold: Schon früh in seiner Geschichte wurden Sonette sehr oft nicht als einzelne, unabhängige Gedichte, sondern als Teil eines mehr oder weniger zusammenhängenden Sonettzyklus geschrieben, und diese Zyklen erreichten besondere Popularität. Für die Verbreitung des Sonetts in Europa sind beispielsweise Francesco Petrarcas Gedichte an Laura von außerordentlicher Bedeutung, im frühneuzeitlichen England löste Sir Philip Sidney mit Astrophil and Stella eine wahre Flut von Sonettzyklen aus, und solche Zyklen und Sonett-Sammlungen stehen im Fokus meines Buches. Natürlich können jeweils nur einzelne Sonette exemplarisch besprochen werden, aber ich versuche immer auch einen Eindruck der gesamten Gedichtsammlung zu vermitteln.
Auszug aus: „A History of the Sonnet in England – ‘A little world made cunningly’“ | 20.10.2021 |
Das traditionelle Sonett als poetische Ausdrucksform des 21. Jahrhunderts | |
Mit "A History of the Sonnet in England – ‘A little world made cunningly’" erscheint im Erich Schmidt Verlag ein Band, der die Entwicklung des Sonetts vom 13. bis ins 21. Jahrhundert nachzeichnet. Der Fokus liegt dabei auf Sonett-Zyklen, die in Form von Fallbeispielen präzise analysiert und kontextualisiert werden. mehr … |
Was möchte uns John Donne, der Urheber des titelgebenden Zitats, Ihrer Meinung nach mit „a little world made cunningly“ mitteilen?
Jochen Petzold: Das Zitat entstammt einem religiösen Sonett Donnes, bezieht sich dort aber auf den Sprecher selbst, auf die Dualität von Körper und Seele und deren Bedrohung durch die Sünde. Ich habe es also gewissermaßen zweckentfremdet. Aber ich denke, dass sich das Zitat sehr gut auf das Sonett selbst beziehen lässt, wobei es allerdings leicht missverstanden werden kann. Heute bedeutet „cunningly“ ja meist „heimtückisch“, zu Donnes Zeiten ist die dominante Bedeutung jedoch „geschickt“, „kenntnisreich“ oder „gekonnt“ – und in diesem Sinn passt es für mich sehr gut zum Sonett, einem „kleinen“ Gedicht, das aber eine ganze Welt entwerfen kann und dessen Komposition Geschick und Können erfordert.
Sie bringen Ihren Leserinnen und Lesern die Entwicklung des Sonetts vom 13. bis ins 21. Jahrhundert nahe. Gibt es trotz dieses großen zeitlichen Abstands eine Art thematischer „Dauerbrenner“?
Jochen Petzold: Überspitzt gesagt gibt es wohl kein Thema, das noch nicht in einem Sonett behandelt wurde. Und die thematische Vielfalt nimmt über die Jahrhunderte eindeutig zu (das gilt für Lyrik ganz allgemein). Allerdings ist das Sonett seit Petrarcas Canzoniere mit dem vergeblichen Werben um eine idealisierte Frau verbunden, und seither haben sich unzählige Dichterinnen und Dichter in diese Tradition gestellt, sich an ihr gerieben, sie erweitert, oder versucht, mit ihr zu brechen – wobei auch das die Tradition in gewisser Weise fortführt. Insofern ist das sehr breite Thema „Liebe“ schon eine Art roter Faden, der sich durch die Geschichte des Sonetts in England zieht. Aber gleichzeitig geht es mir auch darum, die große thematische Vielfalt der Sonettdichtung zu zeigen.
Zu guter Letzt: Welche Tendenz können Sie für die Zukunft des englischen Sonetts prognostizieren? Oder anders gefragt, ist das Sonett vom Aussterben bedroht?
Jochen Petzold: Das englischsprachige Sonett gibt es jetzt seit rund 500 Jahren und ich bin zuversichtlich, dass es noch lange überleben kann. Technologische und gesellschaftliche Veränderungen bringen neue Themen, und diese werden sich auch in Sonetten finden, aber es ist davon auszugehen, dass auch weiterhin viele Sonette über (unglückliche) Liebesbeziehungen geschrieben werden.
Herzlichen Dank für das spannende Interview!
Der Autor |
Jochen Petzold ist Professor für Britische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg. Er habilitierte über Sprechform und -funktion in der Lyrik (Sprechsituationen lyrischer Dichtung) und veröffentlichte zahlreiche Arbeiten zum Sonett. Derzeit forscht er insbesondere zur viktorianischen Populärkultur. |
A History of the Sonnet in England: "A little world made cunningly" Autor: Prof. Dr. Jochen Petzold “My mistress’ eyes are nothing like the sun” (William Shakespeare) |
Programmbereich: Anglistik und Amerikanistik