Sie haben folgende Möglichkeiten:
  1. zum Login.
  2. zur Navigation.
  3. zum Inhalt der Seite.

Bildelemente stellen oft eine Lesehilfe dar, da sie die Handlung visualisieren. Zugleich fordern sie auch eine Interpretationsleistung, wie Bild und Text aufeinander zu beziehen sind (Foto: Chinnapong – Adobe Stock).
Fremdsprache Deutsch, Heft 63: Graphic Novels

Ein Medium zwischen Comic, Roman und Film im Unterricht

ESV-Redaktion
27.10.2020
Graphic Novels nutzen als Hybridmedien die Bild- und Formensprache des Comics sowie Perspektiven und Darstellungskonventionen des Films, um ihre Geschichten in „Romanform“ zu erzählen. Ihre unterrichtliche Behandlung schult visual literacy (Bildkompetenz) und trainiert Lesestrategien, die auch für das Erschließen anderer ästhetischer Texte hilfreich sind.

Die neueste Ausgabe unserer Zeitschrift Fremdsprache Deutsch beschäftigt sich mit Graphic Novels und wie diese im fremdsprachlichen Unterricht genutzt werden können. Lesen Sie hier einen Ausschnitt aus dem Beitrag der beiden Heftherausgeber Prof. Dr. Ulf Abraham und Dr. Tristan Lay:

Die Graphic Novel als hybrides Medium

Die Graphic Novel ist als Weiterentwicklung des Comics „bildbasierte Erzählliteratur“ (Giesa 2019): Der größte Teil der aktuell erhältlichen Angebote ist fiktional und narrativ, was mittlerweile all jene Genres einschließt, die man aus der epischen Print-Literatur oder vom Film her kennt (vgl. Dittmar 2011, 178). Der Begriff Graphic Novel wird allerdings in der Fachliteratur nicht einheitlich gebraucht. Obwohl es auch die Reportage sowie die (Auto-)Biografie im Medium des Comic gibt, wird vorwiegend der Anspruch der neueren Bilderzählung auf „Literaturfähigkeit“ (vgl. Schmitz-Emans 2012, 24) betont, d. h. darauf, ein Medium zu sein, das Geschichten literarisch erzählen kann.

Mehrheitlich versteht man darunter „längere, abgeschlossene und bisweilen mehrbändige Erzählwerke“ (Kepser/Abraham 2016, 202), die im Unterschied zum traditionellen comic strip auch (sehr) ernsthafte Themen bearbeiten (vgl. Eder 2016, 161–168), eine Fülle individueller Zeichen- oder Malstile entwickelt haben und sowohl mit dem Stil und/oder dem ursprünglichen Herkunftsland (z. B. „Manga“) als mit dem Inhalt (z. B. „Erwachsenwerden“) assoziiert werden können (vgl. ebd., 54).

Als „Literaturcomic“ (Schmitz-Emans 2012) stellt sich die Graphic Novel in den Dienst einer „Kartierung der ‚Weltliteratur‘“ (ebd., 251). So adaptieren teils ästhetisch sehr reizvolle Buchliteratur-Comics den literarischen Kanon (vgl. z. B. Kick 2013/2015). Ihrem Selbstverständnis und Anspruch nach sind sie aber „nicht mehr als bloße Katalysatoren der Lektüre der ‚richtigen‘ Klassiker konzipiert, sondern als ästhetisch eigenwertige Artefakte“ (Schmitz-Emans 2012, 17).

Nachgefragt bei: Maik Walter 23.04.2020
Maik Walter: „Wer seinen Unterricht inszeniert, bringt mehr Spannung und mehr Freude in den Kursraum.“
Welche Rolle spielen die Künste im Bereich der Bildung? Wie kann ich künstlerisches Erzählen im Sprachunterricht einsetzen und was bewirkt das? Kann man in einer Fremdsprache Theater spielen und inszenieren und was muss dabei beachtet werden? Was heißt bewegtes Lernen? Wie können bewegungsbasierte und theaterpädagogische Impulse in den Unterricht aufgenommen werden? mehr …

Aber nicht nur mit dem Roman (und ggf. weiteren literarischen Gattungen) ist die Graphic Novel als mediale Erzählform verschwistert (selbst dann, wenn sie ihn nicht adaptiert!). Auch mit dem Film, an dem sie sich zum Teil ästhetisch orientiert, hat die Graphic Novel als literaturfähiges Medium manches gemein, zumal Comic und Film historisch fast gleichzeitig in das Medienensemble eingetreten sind: Wie der Aufstieg des Films durch die Adaption von Weltliteratur im 20. Jahrhundert zum anerkannten kunstfähigen Medium avancierte, ist die Graphic Novel im 21. Jahrhundert erfolgreich gewesen, indem sie sich einerseits stofflich an der Literatur orientiert hat, andererseits ästhetisch an visuellen und theatralen Kunstformen. Auch sie ist weithin narrativ und meist fiktional. In das intertextuelle Spiel mit tradierten Figuren, Motiven und Themen greift sie inzwischen ebenso wie der Film ein, etwa wenn sie Persönlichkeiten der Weltgeschichte eigenständig interpretiert oder Kanontexte – von Goethe bis Kafka – neu erzählt. An jenem Wandern der Stoffe durch die Medien, das bereits den Siegesszug der audiovisuellen Medien seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert begleitet hat, ist in unserem Jahrhundert die Graphic Novel wirkmächtig und ästhetisch eigenständig beteiligt: Sie hat sich als hybrides Medium ‚zwischen‘ den älteren sprach- und bildfähigen Medien etabliert. Dafür spricht nicht zuletzt, dass sie selber längst zum Gegenstand von Adaptionsprozessen geworden ist (um nur ein Beispiel zu nennen: die US-amerikanische Fernsehserie Happy!, nach der gleichnamigen Graphic Novel von Grant Morrison und Darick Robertson).

[…]

Rezeptionsanforderungen eines multimodalen Mediums in didaktischer Sicht

Das multimodale Potential der verwendeten Darstellungsmittel (Inhalt und Form) in Graphic Novels kann für den fremdsprachlichen Unterricht fruchtbar genutzt werden. Im Rahmen eines didaktischen Dreischritts ist eine Vielzahl an Aufgaben vor dem Lesen/Betrachten sowie zum Lese-/Sehverstehen und nach dem Lesen/Betrachten einsetzbar, um das Verständnis der Lernenden auf Text-Bildebene gezielt zu erweitern. Ein umfassendes Modell für eine Didaktik des Comics, das auch der Wende zur Kompetenzorientierung Rechnung trüge, steht bis heute aus (vgl. Kepser/Abraham 2016, 204). Zwar ist die Fähigkeit, Comics in ihrer eigenständigen Ästhetik zu analysieren, gut beschrieben (vgl. im Überblick Dolle-Weinkauff 2011, 309–314 sowie ausführlich Dittmar 2011). Nicht nur geht es, wie auch bei der Rezeption reiner Schrifttexte, um Dekodierung, Füllen von Leerstellen und sinnbezogene Hypothesenbildung; notwendig ist neben dem Erfassen comicspezifischer Textelemente auch die Entwicklung eines angemessenen Fachvokabulars für die Beschreibung der Bildebene.

Wer solches Begriffswissen im Unterricht vermittelt, muss sich allerdings klar darüber sein, dass es dabei nicht so sehr um den Erwerb deklarativen Wissens geht (das man gut ‚abprüfen‘ kann), sondern um eine Wahrnehmungs- und Beschreibungskompetenz, die „der mündlichen, schriftlichen, performativen, also kommunikativen Auseinandersetzung im Verein mit dem ästhetischen Erleben eines Comics“ (Kepser/Abraham 2016, 205) zugute kommt. In einem Gespräch über die Comiclektüre können Beobachtungen zu einzelnen visuellen Gestaltungsmitteln, zu Panelgestaltung und Bildabfolge sowie zur Offenheit der Bilder zur Sprache kommen, wobei auch die Ausgangssprachen der Lernenden berücksichtigt werden können. [...]

Eine Graphic Novel zu lesen, schließt neben der Dekodierung und ‚Übersetzung‘ einzelner Signale auf der Mikroebene auch Konstruktion von Bedeutung auf der Makroebene ein. Die Rolle der Bildelemente ist dabei durchaus ambivalent: Einerseits sind sie eine Lesehilfe, weil sie wichtige Momente der Handlung visualisieren und Emotionen der Figuren zeigen; andererseits ist ihre Funktion keineswegs nur illustrativ. Vielmehr stellen sie selber den Leserinnen und Leser nicht selten gleichsam Interpretationsaufgaben, für die Bild und Text aufeinander zu beziehen und gemeinsam auszuwerten sind. Noch einmal eine eigene Leistung ist schließlich die Versprachlichung einer solchen Bilddeutung im Gespräch über eine gelesene und gedeutete Szene.

Fremdsprache Deutsch Heft 63 (2020): Graphic Novels
Heftherausgeber: Ulf Abraham und Tristan Lay


Der Comic in Form einer längeren bildliterarischen Erzählung (Graphic Novel) hat seit der Jahrtausendwende nicht nur, aber auch im deutschen Sprachraum eine Erfolgsgeschichte mit regem Publikumsinteresse und hohen Absatzzahlen geschrieben. Er ist inzwischen etabliert als bilddominiertes Medium, das klassische Stoffe adaptiert, vor allem aber aktuelle soziale, politische und (trans-)kulturelle Realitäten packend thematisieren kann.

Während die Didaktik des muttersprachlichen Unterrichts auf diese Entwicklung längst reagiert hat, steckt im Bereich der Theorie, Empirie und Praxis von Deutsch als Fremdsprache die Auseinandersetzung damit noch in den Anfängen. Die beträchtlichen sprach-, literatur- und mediendidaktischen Möglichkeiten von Graphic Novels, und nicht zuletzt ihr landeskundliches Potenzial, harren noch der Entdeckung und Nutzung im Unterricht. In diesem Heft machen bewährte Autor*innen anhand aktueller und genreprägender Texte von teilweise sehr bekannten Comic-Künstler*innen unterrichtspraktische Vorschläge, wie Graphic Novels zum Spracherwerb, zum literarischen und kulturellen Lernen sowie zur Medienreflexion (filmische Mittel) genutzt werden können.

 

(LP)

Programmbereich: Deutsch als Fremdsprache