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Liefert Antworten auf die zentralen Fragen der Dramenanalyse: Benedikt Jeßing (Foto: Privat)
Nachgefragt bei Prof. Dr. Benedikt Jeßing

„Ein steigender Bedarf nach fachlicher Orientierung“

ESV-Redaktion Philologie
20.03.2023
Wie man ein Drama analysiert und wie sich die Gattung historisch entwickelt hat, stellt unser Autor Professor Dr. Benedikt Jeßing in einem Grundlagenwerk zur Dramenanalyse dar. Im Erich Schmidt Verlag ist nun nach acht Jahren eine Neuauflage seiner Einführung erschienen. Wir haben mit Herrn Jeßing über die Konzeption seines Buches und die Auswahl der Beispieltexte gesprochen.
Lieber Herr Professor Jeßing, die erste Auflage Ihrer Einführung in die Dramenanalyse ist bereits 2015 im Erich Schmidt Verlag erschienen. Nun publizieren Sie eine neu bearbeitete Auflage dieses Grundlagenwerks. Welche neuen Erkenntnisse gibt es zu diesem Thema?

Benedikt Jeßing: Natürlich gibt es zum Gegenstand von Drama und Theater gleichsam laufend neue Erkenntnisse – die Theorie der Literatur entwickelt sich und damit werden die Aufmerksamkeiten auch innerhalb einer Gattung neu geschärft; auch werden AutorInnen wiederentdeckt, die, wenn man sie einmal kennt, aus der Geschichte der Gattung nicht mehr wegzudenken sind. Aber bei einer Einführung in die Dramenanalyse sind eigentlich nicht so sehr die neuen Erkenntnisse zum Gegenstand, sondern der bleibende oder sogar steigende Bedarf nach fachlicher Orientierung entscheidender. Und ich vermute (und beobachte sogar), dass die Pandemie-Jahre diesen Orientierungsbedarf noch stark haben steigen lassen.

Sie haben das Buch insbesondere auf die Bedürfnisse von Studierenden der Literatur- und Theaterwissenschaften ausgerichtet und behandeln die für das Studium relevanten Textsorten. Gegliedert ist das Buch dabei in zwei große Hauptteile. Bitte erläutern Sie uns doch die Konzeption ein wenig.

Benedikt Jeßing:
Die Idee zu dieser Zweiteilung rührt aus der Wahrnehmung, dass in einer Einführung natürlich einerseits das analytische Handwerkszeug im Umgang mit dem Drama benannt, erläutert und modellhaft vorgeführt werden müsse. Andererseits aber ist ein historisch ausgerichtetes Grundwissen – über Theaterformen, Gattungspoetik und Dramenkonzepte seit Aristoteles – unabdingbar dafür, mit einem einzelnen Drama angemessen umgehen zu können. Jeder dramatische Text steht in der Tradition der Gattung und in einem exemplarischen, weiterdenkenden oder widerspruchsvollen Verhältnis zur zeitgenössischen Gattungspoetik.

Sie beschreiben den dramatischen Raum als Bedeutungsträger. Was muss man sich darunter vorstellen?

Benedikt Jeßing: Ich will das an einem Beispiel klarmachen: Lessings „Minna von Barnhelm“ spielt in einem Gasthof. Das ist ein öffentlicher Ort, Teil der Verkehrs- und Postinfrastruktur – und er bietet mit den Gastzimmern gleichzeitig auch Möglichkeiten des privaten Rückzugs. Diese gegenseitige Überkreuzung von Öffentlichkeit/Politik und Privatem, diese Überschneidung, dieses In- und Nebeneinander ist gleichsam Hauptmerkmal der Konflikte im Drama bis hin zu der amtlichen Befragung Minnas durch den Gastwirt, die öffentliche Pflicht der Erhebung von Identität, Reiseziel usw., während Minna noch im Negligé auf ihrem Zimmer ist. – Wo Drama, Akt oder Szene spielen, gehört genauso zu Sprache der künstlerischen Zeichen wie das, was die Figuren etwa sagen. Und zur Klarstellung: Die Idee stammt nicht von mir; ich greife sie nur auf!

Auszug aus: „Dramenanalyse. Eine Einführung“ 13.03.2023
Dramenanalyse – eine verständliche Grundlage
Wie liest und analysiert man ein Drama? Welche Grundbegriffe sollte man kennen und welche Analyseverfahren werden im wissenschaftlichen Umgang mit dramatischer Literatur verwendet? Wie hat sich die Gattung des Dramas historisch entwickelt? mehr …

Es handelt sich bei der Einführung ja um ein Grundlagenwerk der Germanistik – und dennoch schreiben Sie nicht nur über die deutsche Literatur(geschichte), sondern gehen auch auf die Entwicklung in beispielsweise Frankreich, England oder den Niederlanden ein. Auch unter den Beispielanalysen findet sich ein Text des griechischen Tragödiendichters Aischylos. Warum haben Sie den thematischen Bogen so weit gespannt?

Benedikt Jeßing:
Die Geschichte von Drama und Theater im deutschsprachigen Raum kann nicht isoliert betrachtet werden von den antiken Ursprüngen der dramatischen Kunst. Jede Gattungspoetik der Neuzeit schlägt den Bogen zurück zu Aristoteles und Horaz, ganz gleich ob Opitz, Gottsched, Schlegel, Lessing, Schiller oder Brecht. Theater als (z.B. höfische) Institution ist nicht verstehbar ohne wenigstens Bezüge zum französischen Hof, der italienischen Oper; Gattungsinnovationen werden aus z.B. England importiert (das bürgerliche Trauerspiel), das Humanistentheater der Renaissance kennt recht eigentlich gar keine Nationalität, sondern hat europaweit mit dem Neulatein nur eine Sprache. Usw. usf.: Wenigstens in Ansätzen müssen solche Bezüge genannt oder skizziert werden.

An zahlreichen Stellen ergänzen Sie die Theorie durch exemplarische Analysen zu Texten der (deutschsprachigen) Dramenliteratur. Nach welchen Kriterien haben Sie die Texte ausgewählt?

Benedikt Jeßing: Eines der wichtigsten Kriterien, auch wenn es scheinbar das unwissenschaftlichste ist, ist, dass der Text mir gefallen muss: Mindestens Interesse, Anteilnahme oder im besten Fall (ästhetisches) Vergnügen brauche ich, um mich mit einem Text intensiver zu befassen. Andererseits mussten, besonders im zweiten historischen Teil des Bandes, die Texte natürlich gattungsgeschichtlich exemplarisch sein und gleichzeitig einen immer anderen analytischen Aspekt illustrieren können (etwa dramatische(n) Raum oder Zeit, Figurenkonzepte oder derlei).

Dazu passend stellen wir zum Abschluss noch eine persönliche Frage: Mit welchem Werk oder Autor(en) welcher Epoche beschäftigen Sie sich selbst am liebsten und warum? Was empfehlen sie unseren Leserinnen und Lesern ganz besonders zur Lektüre?

Benedikt Jeßing:
Da ist natürlich zunächst Goethe zu nennen, zu dem ich schon sehr lange und völlig ohne Ermüdungserscheinungen arbeite. Aber die sog. Goethezeit ist, was das Drama angeht, gewissermaßen nur das Ende derjenigen Periode, mit der ich mich am liebsten befasse: der Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts (Goethe war jetzt auch nicht der größte Dramatiker – im Vergleich etwa zu Schiller oder Lessing oder Gryphius). Leseempfehlungen wechseln bei mir immer: Im Augenblick würde ich Johann Elias Schlegel empfehlen, die „Trojanerinnen“ und den „Triumph der Guten Frauen“. Das sind grandiose Texte, mit starken Frauenfiguren (und z.T. wirklich schäbigen Männern), die eigentlich für die Bühne wiederentdeckt gehören!

Vielen Dank, lieber Herr Jeßing, für dieses sehr interessante Interview!

Und wenn Sie jetzt neugierig geworden sind, mehr zu lesen, dann können Sie das Buch hier bestellen.

Zum Autor
Benedikt Jeßing ist Hochschullehrer und Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt 16. bis 18. Jahrhundert am Germanistischen Institut der Ruhr-Universität Bochum. Er ist angesehener Experte für die Literatur Goethes und der Goethezeit, forscht zur Literatur des 20. Jahrhunderts und zur Literaturtheorie. Sein Arbeitsschwerpunkt ist die universitäre Lehre und die Fachpropädeutik. Auf der Grundlage seiner Lehrerfahrung hat er zahlreiche Einführungen geschrieben (zur Neueren deutschen Literaturwissenschaft, zu Arbeitstechniken, zur Literaturgeschichte, zu Goethe).


Dramenanalyse. Eine Einführung
Von Benedikt Jeßing

Wie liest man ein Drama? Mit welchem analytischen Instrumentarium begegnet man einem dramatischen Text? Wie setzt man die eigenen Beobachtungen am Text schriftlich um? Dieses Buch führt auf verständliche Weise in alle wichtigen Analysekategorien dramatischer Texte ein.
Die Einführung gliedert sich in zwei große Teile: Im ersten werden alle bedeutsamen Beobachtungsdimensionen dramatischer Texte sowie das entsprechende analytische Instrumentarium ausführlich vorgestellt. Im zweiten Teil werden in einem historischen Durchgang die wichtigsten dramenpoetologischen Vorstellungen und Theaterkonzepte zwischen Aristoteles und der Postdramatik vorgeführt.
Sowohl zu den einzelnen Analysedimensionen, also für alle Arbeitsschritte der Dramenanalyse, als auch im gattungsgeschichtlichen Durchgang werden exemplarische Analysen zu Texten der deutschsprachigen Dramenliteratur zwischen dem 17. und 20. Jahrhundert präsentiert. Damit vermittelt der Band nicht nur die Kompetenzen zum eigenständigen wissenschaftlichen Umgang mit dramatischer Literatur, sondern stellt auch die im Studium der verschiedenen Literaturwissenschaften und der Theaterwissenschaft erforderten studentischen Textsorten vor.

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik