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Prof. Dr Ulf Abraham ist Experte für Fantastik in Literatur und Film (Foto: Universität Bamberg )
Nachgefragt bei: Professor Dr. Ulf Abraham

„Es geht um die Nutzung der lebenswichtigen Ressource Imagination: uns die Welt anders vorzustellen, als sie ist.“

ESV-Redaktion Philologie
13.09.2022
Fantastisch! Im Oktober erscheint nun – nach 10 Jahren – die zweite Auflage des Buches „Fantastik in Literatur und Film“ von Prof. Dr. Ulf Abraham im ESV. Die erste Auflage aus dem Jahr 2012 wurde in der neuen Bearbeitung durch aktuelle Diskussionen, Bibliographien und neue Titel ergänzt. In dem Buch werden verschiedene Perspektiven auf das Konzept der Fantastik dargestellt, sowohl literatur- und kulturwissenschaftliche als auch mediendidaktische. Nicht nur für Studierende der Germanistik, sondern auch für Fantastik-Interessierte und Lehrende an (Hoch-)Schulen ist dieses Buch eine Bereicherung.
Wenn Sie sich fragen, was die Fantastik in der Literatur eigentlich ausmacht, welchen Beitrag sie leistet und welche Möglichkeiten Lehrende haben, diese in den Unterricht einzubinden, ist das folgende Interview mit dem Autor interessant für Sie.

Lieber Herr Professor Abraham, die erste Auflage Ihres Buchs „Fantastik in Literatur und Film“ ist bereits 2012 im Erich Schmidt Verlag erschienen. Nun publizieren Sie eine neu bearbeitete Auflage zu diesem hoch interessanten Themengebiet. Welche neuen Erkenntnisse oder Diskussionen gibt es zu diesem Forschungsfeld?

Vier Tendenzen will ich nennen, die das augenblicklich recht dynamische Forschungsfeld kennzeichnen. Zum Ersten gewinnt die traditionell über eine Reihe wissenschaftlicher Disziplinen verteilte  Fantastikforschung seit dem Erscheinen des großartigen „interdisziplinären Handbuchs der Phantastik“ (Brittnacher & May 2013) deutlich an Kontur: Die Interessen und Perspektiven der Philologien und einiger weiterer Fächer können nun leichter überblickt und aufeinander bezogen werden. Zum Zweiten haben sich in den letzten zwanzig Jahren neue literaturwissenschaftliche Textzugänge entwickelt, die inzwischen auch auf die Fantastik angewandt werden; zwei Stichworte sind „spatial turn“ und „animal studies“. Zum Dritten erscheinen seit einiger Zeit vermehrt Artikel zur Rezeption und Vermittlung fantastischer Literatur in schulnahen Zeitschriften. Diese erreichen Lehrkräfte verschiedener Fächer, unter denen sich besonders jüngere Deutsch- und Englisch-Lehrer/-innen als aktuell sehr interessiert an fantastischen Genres zeigen. Besonders dystopische Romane und climate fiction erleben derzeit einen Boom. Indem einschlägige Texte für den Unterricht empfohlen und aufbereitet werden, erhält der Literaturunterricht neue Impulse; diese verdanken sich einer didaktische Forschung, die etwa in Dissertationen Konzepte für die Fantastikvermittlung erprobt.

Und zum Vierten rücken (in allen drei genannten Bereichen der Diskussion) neben dem Roman und der Erzählung immer häufiger auch andere Medien in den Fokus, etwa der Film, der Comic und das Computerspiel. So zeigt sich die Fantastik heute noch deutlicher als bei Erscheinen der Erstauflage als intermediales Phänomen.

Sie beschreiben die Fantastik nicht nur als Phänomen von Literatur und Kunst, sondern als „anthropologisches Grundbedürfnis“. Können Sie bitte erläutern, warum das Fantasieren für Kinder und Jugendliche von so großer Bedeutung ist?

Schon kleine Kinder üben das Imaginieren von etwas, was es im Hier und Jetzt nicht gibt, aber durchaus geben könnte, im Spiel; Spielen ist eine schöpferische Tätigkeit. Aber mit Blick auf die Krisen, in denen wir uns aktuell befinden, will ich noch etwas anderes hervorheben: Die evolutionäre Anthropologie sieht heute den Menschen als eine Gattung, die sich von anderen vielleicht gar nicht unbedingt durch höhere Intelligenz oder durch die Fähigkeit zur semiotischen Zeichenbildung unterscheidet; über beides verfügen bestimmte Tierarten womöglich auch. Ein Alleinstellungsmerkmal des homo sapiens ist aber, dass er seine Umwelt gezielter und umfassender verändert als jedes andere Wesen auf diesem Planeten. Seit etwa 1800 leben wir deshalb erdgeschichtlich im Anthropozän, bekanntlich mit inzwischen problematischen Konsequenzen (Stichwort: Klimawandel). Für eine so weitreichende Umgestaltung brauchte der Mensch Fantasie; für den Umgang mit den Konsequenzen braucht er nun noch mehr davon. Nicht nur Architekten brauchen Fantasie. Das Bedürfnis sich Dinge vorzustellen, die gerade nicht erreichbar sind oder die es (noch) nicht gibt, gehört zu unserer genetischen Ausstattung; durch die literaturfähigen Medien wird die Fähigkeit des Fantasierens gestärkt.
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Es geht aus dieser Perspektive also nicht so sehr um literarische und ästhetische Bildung als (angesichts der Herausforderungen, vor den denen wir aktuell stehen) um die Nutzung der lebenswichtigen Ressource Imagination, über die wir eigentlich alle verfügen: uns die Welt anders vorzustellen, als sie ist. Nicht nur für Heranwachsende ist das wichtig, aber sie können es, wie vieles andere auch, leichter lernen als wir Älteren.

Anhand welcher Kriterien kann man entscheiden, welche Texte zur Fantastik zählen und welche nicht? Es gibt ja durchaus Grenzfälle, die Sie auch in Ihrem Buch erwähnen. Können Sie uns bitte den Unterschied erklären zwischen fantastischen Elementen und fantastischer Literatur?

Fantastische Elemente wie etwa eine Nebenfigur ‚Wahrsagerin‘ mit möglicherweise übersinnlichen Fähigkeiten macht allein eine Erzählung nicht zur fantastischen Literatur: Bleiben Vorgänge, die sich mit den Gesetzen der Physik oder der Logik nicht vereinbaren lassen, auf eine Episode der Handlung beschränkt, so kann das Werk im Ganzen dennoch als realistisch eingestuft werden. Fantastisch ist ein Text dann, wenn entweder zusätzlich zur ‚Realwelt‘ eine zweite (sekundäre) Welt existiert, in die bestimmte Figuren hinüberwechseln können, oder die Textwelt im Ganzen eine geschlossene Welt ist, die sich durch die Existenz magischer Kräfte deutlich von der uns bekannten unterscheidet – wie etwa Tolkiens Mittelerde oder LeGuins Erdsee, um zwei Klassiker zu nennen. Daneben werden aber auch Genres zur Fantastik gerechnet, die ihre Textwelten in die Zukunft verlegen, so dass physikalisch oder technisch unerklärliche Vorgänge ihre Begründung in einem entsprechend fortgeschrittenen Stand der Zivilisation finden; oder in eine parallele Welt, in der sich vieles anders entwickelt hat, als wir es kennen. (Hier wäre ein moderner Klassiker Philip Pullmans Lyra-Trilogie). Insgesamt sind die Kriterien für die Einstufung eines Werkes als fantastisch abhängig vom jeweils vorliegenden Genre. In einer dystopischen Textwelt wie Collins‘ Tribute von Panem würde man nicht mit dem Auftauchen von Zauberern rechnen, wohl aber mit avancierten elektronischen Medien, die dazu verwendet werden die Privilegien der Elite zu sichern und alle andern zu überwachen.

Ein gängiges Klischee behauptet, dass Fantastik absichtlich realitätsferne Erzählungen erzeuge, um eine Flucht aus der wirklichen Welt zu ermöglichen. Was entgegnen Sie den Verfechtern dieses Vorurteils?

Ich würde entgegnen, das Eintauchen in eine literarische Welt beim Lesen sei unabhängig davon, ob es sich um ein Werk der Fantastik handle oder nicht, mit der Ausblendung der umgebenden Wirklichkeit verbunden. Das ist ja sozusagen die Geschäftsgrundlage der Lektüre. Bei deren Unterbrechung oder Beendigung taucht man wieder auf und versucht normalerweise, das Gelesene auf die eigene Wirklichkeit und Lebenserfahrung zu beziehen. Tut man das über längere Zeit und bei bestimmten rezipierten Genres überhaupt nicht, dann kann vielleicht von Wirklichkeitsflucht gesprochen werden, aber das geht, wie gesagt, auch ohne die Fantastik – etwa mit Krimis oder historischen Romanen. Die Behauptung der Realitätsflucht kann man jedenfalls grundsätzlich nicht nur mit angeblich fantastiktypischer Realitätsferne begründen – zumal auch offensichtlich realistisch konzipierte Erzählungen wie etwa Liebesromane sich nicht unbedingt durch Realitätsnähe auszeichnen.

Sie plädieren für mehr Fantastik im Literaturstudium und im Schulunterricht. Welche Möglichkeiten gibt es, fantastische Literatur in den Studien- oder Unterrichtsplan zu integrieren?

In den 1990er Jahren stellte die Leseforschung fest, dass die Lektürepräferenzen der Schüler/-innen sich von denjenigen ihrer Deutschlehrkräfte unterscheiden. Letztere betrachten fantastische Genres wie Fantasy, SciFi oder Dystopie teilweise bis heute als Freizeitlektüre, deren Besprechung im Unterricht nicht lohne. Das halte ich für einen Fehler. Deshalb besteht eine Möglichkeit darin, in der Lehrkräftefortbildung didaktische Konzepte für Fantastik im Unterricht anzubieten. Daraus ergeben sich weitere Möglichkeiten, etwa die Verknüpfung mit der in allen Lehr- und Bildungsplänen vorgesehenen Medienerziehung (Adaptionen fantastischer Stoffe laden zum Medienvergleich im Unterricht ein) oder die Beschäftigung mit dem Phänomen der fan fiction im Netz, die eine Plattform für literarische Texte bietet, die in Anlehnung an bekannte Autoren der Fantastik im Deutschunterricht entstehen können.

Zu guter Letzt eine ganz persönliche Frage: Welchen fantastischen Text oder Film empfehlen Sie unseren Leserinnen und Lesern ganz besonders zur Lektüre bzw. zur Ansicht?

Philip Pullmans neuen Roman Über den wilden Fluss (Originaltitel La belle Sauvage). Er liefert ein Prequel (also eine Vorgeschichte) zu seiner berühmten Lyra-Trilogie der 1990er Jahre und greift gleichzeitig das aktuelle Thema extremer Wetterereignisse auf.

Herr Abraham, vielen Dank, dass Sie sich Zeit für das Interview genommen haben!
 

Falls einige Ihrer Fragen noch unbeantwortet sind, oder dieser Beitrag ihr Interesse bezüglich der Fantastik geweckt hat, können wir Ihnen die Neuauflage „Fantastik in Literatur und Film“ als kartonierte Ausgabe im ESV uneingeschränkt empfehlen. Sie können den Band einfach hier bestellen, oder Sie fragen im Buchhandel Ihres Vertrauens nach. Die ISBN lautet: 978-3-503-21126-5.

Zum Autor
Professor Dr. Ulf Abraham lehrt Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin und gehört zu den derzeit bekanntesten Deutschdidaktikern. Er ist (Co-)Autor von Standardwerken der Literatur- und Schreibdidaktik. Einer seiner Schwerpunkte ist die Literatur und ihre Medien (bes. Film) in fachdidaktischer Perspektive.



Fantastik in Literatur und Film
Eine Einführung für Schule und Hochschule

Von Ulf Abraham

Grundlagen der Germanistik, Band 50

Das Buch stellt erstmals in einer medien- und rezeptionsorientierten Perspektive Geschichte und Gegenwart des Fantastischen in der abendländischen Literatur dar.
Es bietet damit auf überschaubarem Raum eine Einführung, die im Unterschied zu vorliegenden Spezialstudien über einzelne fantastische Genres die Herkunft und Entwicklung fantastischer Motive und Traditionsstränge an breit gestreuten Schlüsseltexten vieler Genres umfasst. Der Schwerpunkt liegt auf Texten und Adaptionen, die im Unterricht sowie in der Lehrer/-innenausbildung vorkommen.
Ohne die Vielgestaltigkeit der Tradition des Fantastischen unzulässig zu verkürzen, werden Linien ausgezogen, die von Homers „Odyssee“ bis ins 21. Jahrhundert reichen. Vorschläge für einen Einbezug der Fantastik in Literatur und Film in die Hochschullehre und den (Deutsch-)Unterricht werden so grundsätzlich wie nötig und so konkret wie möglich formuliert. Die vorliegende neu bearbeitete Auflage bezieht aktuelle Tendenzen sowohl der Fantastik selbst als ihrer Vermittlung im Unterricht ein.

„Ein besonders vielschichtiges und informatives Buch!“ (In: www.derlehrerclub.de, 8.5.2015)


(ESV/Ln)

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik