„Es ist keineswegs immer einfach, die Gründe für die Ungrammatikalität eines Satzes zu benennen.“
[...] Wichtig sind in diesem Zusammenhang die Begriffe der (sprachlichen) Kompetenz (compétence (linguistique) und des kompetenten Sprechers (locuteur compétent). Sie wurden von Noam Chomsky, dem Begründer der generativen Sprachwissenschaft, geprägt (Chomsky 1965:3f). Jeder Mensch ist Sprecher mindestens einer Muttersprache und besitzt darüber ein (unbewusstes) Wissen. Dieses Wissen besteht vor allem in der Fähigkeit, Äußerungen zu tätigen, die von anderen Sprechern als richtig oder wohlgeformt empfunden werden, und diesbezüglich Äußerungen anderer Sprecher zu beurteilen. In der Sprachwissenschaft gebraucht man hierfür die Begriffe grammatisch oder ungrammatisch (grammatical vs. non grammatical). Ein kompetenter Sprecher kann demnach Sätze seiner Muttersprache hinsichtlich ihrer Grammatikalität (grammaticalité) beurteilen. So weiß jeder Sprecher des Französischen, dass [...] Satz (4a) ein möglicher und somit grammatischer Satz des Französischen ist. Das Gleiche kann er auch für einen Satz wie (4b) bestätigen, in dem im Vergleich zu (4a) lediglich das Negationselement ne fehlt:
(4) a. Je ne sais pas.
(4) b. Je sais pas.
Der kompetente Sprecher weiß dabei auch, dass die Äußerung der beiden Sätze unterschiedlichen Bedingungen unterliegt. Ist der Kontext eher informell, tendiert ein Sprecher dazu, ne auszulassen, während er in formelleren Kontexten den Satz eher mit ne äußern wird. Auch Faktoren wie die Zugehörigkeit eines Sprechers zu einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht können eine Rolle spielen. Ein Sprecher, der aus einer eher bildungsfernen Schicht stammt, dürfte einen Satz wie (4b) häufiger verwenden als ein Sprecher mit guter Schulbildung. Es kann sogar sein, dass letzterer einen Satz wie (4b) als nicht korrekt ablehnt, weil er gelernt hat, dass die Auslassung von ne ein Phänomen der Umgangssprache ist und in der Schriftsprache und gehobenen Sprache vermieden werden sollte. Die Akzeptanz von Sätzen wie (4b) hängt somit auch davon ab, wie sehr ein Sprecher das in Schule und Gesellschaft vermittelte normgrammatische Wissen akzeptiert und für wichtig erachtet. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass ein Satz wie (4b) im sprachwissenschaftlichen Sinn ein grammatischer Satz der französischen Sprache ist. Die sprachliche Kompetenz eines Sprechers besteht außerdem in der Fähigkeit, mögliche (syntaktische) Ambiguitäten in sprachlichen Ausdrücken zu erkennen, und zwar auch dann, wenn diese nicht immer auf den ersten Blick sichtbar sind. Betrachten wir hierzu den folgenden Satz aus L’étranger:
(5) Elle a encore ri et m’a dit qu’elle avait envie de voir un film avec Fernandel. (Camus, L’étranger, 33)
Jedem (französischsprachigen) Leser dürfte sofort klar sein, dass sich in diesem Satz die (präpositionale) Wortgruppe avec Fernandel auf die (nominale) Wortgruppe un film bezieht und mit dieser zusammen eine gemeinsame syntaktische Einheit bildet. Dieses Verständnis ergibt sich für den Leser aufgrund des sprachlichen Kontextes sowie seines Wissens darüber, dass Fernandel ein Filmschauspieler war. Diese Interpretation entspricht auch der von Camus intendierten Lesart. Allerdings existiert auch eine zweite Lesart des Satzes, die jeder kompetente Sprecher des Französischen ebenfalls erkennen kann. Sie besteht darin, dass Fernandel ein Mann ist, mit dem die im Satz mit elle bezeichnete Person gerne ins Kino gehen möchte. In diesem Fall bildet avec Fernandel keine syntaktische Einheit mit un film, sondern ist vielmehr eine adverbiale Ergänzung des Verbs voir.
Auszug aus: Contact, variation and change | 26.05.2020 |
„Mit den Aussprachevarianten können auch orthographische Varianten einhergehen“ | |
Haben Sie auch schon einmal überlegt, ob es Büffet, Buffet oder Büfett heißt oder ob man Bukett oder Bouquet schreibt? Und wie man diese Wörter ausspricht? Bei Lehnwörtern aus dem Französischen ist das ja nicht immer eindeutig. Hingegen sind wir uns relativ sicher, wie wir Bulette, Serviette und Zigarette schreiben und sprechen. mehr … |
Jeder kompetente Sprecher des Französischen kann außerdem bestätigen, dass Satz (6) kein möglicher Satz der französischen Sprache ist. Er ist folglich als ungrammatisch zu klassifizieren, für dessen Kennzeichnung in der Sprachwissenschaft üblicherweise ein Asterisk (*) verwendet wird:
(6) *Je ne pas sais.
Die Gründe für diese Ungrammatikalität kann der kompetente Sprecher auch benennen: Das Negationsadverb pas steht vor dem finiten Verb. Dadurch wird eine syntaktische Regel des Französischen verletzt, wonach das Verb stets vor pas stehen muss, wenn es finit ist. Allerdings ist es für einen kompetenten Sprecher keineswegs immer so einfach, die Gründe für die Ungrammatikalität eines Satzes zu benennen. Genau hier setzt die Tätigkeit des Sprachwissenschaftlers (oder des Sprachvermittlers) ein. [...]
Wenn Sie mehr über die Syntax des Französischen erfahren oder generell tiefer in die Materie eintauchen möchten, empfehlen wir Georg A. Kaisers „Syntax des Französischen“, die im Oktober 2020 im ESV erschienen ist.
Zum Autor |
Dr. Georg A. Kaiser ist Professor für romanistische Sprachwissenschaft an der Universität Konstanz. Sein Forschungsschwerpunkt ist die (historische und moderne) Syntax der romanischen Sprachen und insbesondere des Französischen. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher wissenschaftlicher Bücher und Abhandlungen zu diesem Thema sowie Verfasser einer umfassenden Einführung in die romanische Sprachgeschichte. |
Syntax des Französischen Von Prof. Dr. Georg A. Kaiser
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Programmbereich: Romanistik