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Wolfgang Gehring war selbst Lehrer, bevor er den Weg in die Wissenschaft einschlug (Foto: privat).
Nachgefragt bei: Prof. Dr. Wolfgang Gehring

„Es wird Schüler*innen heute mehr Eigenständigkeit zugetraut“

ESV-Redaktion Philologie
24.11.2020
Das Schlagwort von ‚lebenslangem Lernen‘ betrifft nicht nur Personen, sondern auch die Wissenschaft. Auch sie generiert neue Erkenntnisse, lernt dazu. In welchen Bereichen die Fachdidaktik des Englischen beispielsweise dazugelernt hat, fragen wir unseren Autor Herrn Professor Dr. Wolfgang Gehring. Seine Einführung in dieses Feld erscheint im ESV inzwischen in der vierten Auflage und stellt vor, welche Methoden und Theorien sich für guten Englischunterricht anbieten – jenseits von überholter „Zeigefingerpädagogik“.
Lieber Herr Gehring, diesen Monat ist Ihre „Englische Fachdidaktik“ in einer neuen Auflage erscheinen, inzwischen dürfen wir uns über die vierte freuen. Wenn Sie sich an die Zeit der ersten Auflage von 1999 zurückerinnern, welche Auffassungen vom Lehren und Lernen haben sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten am stärksten gewandelt?

Die Rolle der Lehrkraft hat sich stark gewandelt. Ende der 1990er Jahre war ihre Position als Instrukteurin unangefochten, sie gab vor, was die Schüler*innen lernen sollten. Unter dem Einfluss moderner Lerntheorien setzte sich die Vorstellung von der Lehrkraft als Lernberaterin durch, die Lernende beim Lernen zur Seite steht. Von der Forschung wird heute ein integratives Rollenmodell favorisiert, das Instruktion und Schülerselbsttätigkeit miteinander verbindet. Die Lehrkraft ist Planerin und Gestalterin von Lernprozessen, sie bringt sich aktiv ein, instruiert und lässt entdecken, stößt forschendes, kritisches Lernen an, vermittelt aber auch direkt Inhalte. Am besten funktioniert das mit einem soliden Maß an Sachkompetenz, Planungs- und Gestaltungskompetenz und mit kritischer Distanz zum eigenen Unterricht. Auch das Bild von den Lernenden hat sich in den letzten 20 Jahren deutlich verändert. Es wird Schüler*innen heute mehr Eigenständigkeit zugetraut. Außerdem werden sie als individuelle Lernerpersönlichkeiten wahrgenommen, mit Stärken und Schwächen. Diese Perspektiven haben wiederum Einfluss auf die Lerntätigkeiten. Sie fördern mehr das sprachliche Handeln als das zielgerichtete Üben ausgewählter Redemittel und Fertigkeiten der älteren Konzepte. Die entscheidenden Impulse hierfür kamen von den Lehrplänen, die heute an Kompetenzen orientiert sind, nicht mehr an Lernzielen oder Richtlinien wie noch in den 1990er Jahren.


Nun ist die aktuelle Auflage völlig überarbeitet und auch um einige Schwerpunkte erweitert. Neu hinzugekommen sind beispielsweise die Kapitel „Mehrsprachigkeit“ und „Kompetenzerwerb durch die Künste“. Welche Erkenntnisse und Strategien erwarten Leser*innen in diesen Kapiteln?

Dass die Englischdidaktik sich mit Mehrsprachigkeit befasst, liegt auf der Hand. Das Unterrichtsfach Englisch ist Teil des Bildungskonzeptes aller weiterführenden Schulen, über die fremdsprachlichen Fächer Mehrsprachigkeit anzubahnen. Dazu gehört auch ein Sachunterricht, der auf Englisch oder in einer anderen Fremdsprache durchgeführt wird. Außerdem gibt es in vielen Lerngruppen mehrsprachige Schüler*innen, die neben den Schulsprachen noch Familiensprachen beherrschen. Mehrsprachigkeit ist in der Schülergeneration also schon fast zur Normalität geworden. Im Buch wird der Sachstand aufgezeigt und es werden einige Methoden dargestellt, wie man mehrsprachige Kompetenzen speziell für die Aneignung der englischen Sprache nutzen kann. Dass die Künste den Kompetenzerwerb fördern, wissen wir nicht nur aus dem Literaturunterricht. Schüler*innen, die Dialoge verfassen, sich zu einer Filmmusik äußern, Szenen schauspielerisch gestalten, Trailer produzieren, Tanzsequenzen erarbeiten oder visuell kreativ werden, handeln ganzheitlich in der Fremdsprache, mit Kopf, Herz und Hand, wie Pestalozzi das ausgedrückt hat. Dieses performative Handeln weckt auch die nicht-kognitiven Talente bei den Lernenden. Lernstoff wird leichter erinnert, weil Schüler*innen Englisch in Szenarien erproben, die für sie emotional beeindruckend sind. Auch der Beitrag, den der Umgang mit den Künsten im Englischunterricht zur kulturellen Bildung der Lernenden leistet, ist nicht zu unterschätzen. Wir wollen ja, dass Schüler*innen am kulturellen Leben teilnehmen, da ist es gut, wenn sie schon in der Schule beim Lernen möglichst oft mit den Künsten in Berührung kommen. Welche kunstnahen Konzepte in der Englischdidaktik diskutiert werden versuche ich, im Kapitel aufzuzeigen.

Auszug aus: Englische Fachdidaktik 02.12.2020
Role plays, storyboards, comics & Co. im Englischunterricht
Unterrichtsplanung und -ausgestaltung erweisen sich sowohl in der Forschung als auch in der Praxis als ein sehr vielfältiges Feld: Wie sollten die einzelnen Unterrichtseinheiten aufeinander aufbauen, damit die Schülerinnen und Schüler davon möglichst viel ‚mitnehmen‘? Wie umgehen mit mehrsprachigen Kindern? mehr …

Aktuell fordert die Corona-Pandemie unser auf Präsenzunterricht basierendes Schulsystem heraus. Sie selbst erleben das sicher analog beim Lehrbetrieb an der Universität. Von einem „Digitalisierungsschub“ ist die Rede, viele Schulen haben über den Sommer Konzepte erarbeitet, um bei erneuten Schulschließungen oder der Quarantäne einzelner Klassen auf digitale Alternativen ausweichen zu können. Zeichnen sich aus Ihrer Sicht bereits Tendenzen ab, wie diese Corona-bedingten Entwicklungen den Fremdsprachen- bzw. Englischunterricht langfristig beeinflussen könnten?

Etwas schade ist, dass es einer Pandemie bedurfte, um die Notwendigkeit einer zügigen Digitalisierung unserer Schulen ins politische Bewusstsein zu rücken. Corona scheint den Digitalisierungsprozess jetzt aber zu beschleunigen. Ich bin optimistisch, dass es bald gelungen sein wird, flächendeckend Schulen mit Tablets auszustatten und Lernplattformen einzurichten, auf die alle Schulen problemlos Zugriff haben. Dann sind die wichtigsten Grundvoraussetzungen erfüllt, um digitale Lernprozesse im Klassenzimmer zu verstetigen. Einige Bundesländer waren in diesem Bereich schon sehr aktiv, auch weil sie Entscheidungsverfahren verschlankt haben. Langfristig profitiert der Englischunterricht von den aktuellen Erfahrungen mit digitalen Lernangeboten, die sich ja ständig verbessern. Schon jetzt ist digital mehr Lernen möglich, als Internetrecherchen durchzuführen. Die Vielfalt, die ich bei meiner Überarbeitung des Medienkapitels kennengelernt habe, fand ich durchaus beachtlich. Es gibt Programme, mit denen Schüler*innen Lernvideos oder Filmclips produzieren können. Auch um eine multimediale Präsentation vorzubereiten, muss man keine Computerexpertin mehr sein. Mit einfach zu handhabender Software können Lernende selbst audiale, audiovisuelle, sequenzielle oder hybride Texte herstellen. Wer ein Smartphone hat, kann mit einem großen Teil der Programme arbeiten. Die Schüler*innen können sich an Klassen und Schulblogs beteiligen, sich interaktiv in einer Schulpartnerschaft einbringen oder Informationen kodieren. Auf dem Wunschzettel vieler Lehrkräfte dürften Lehrmedien stehen, die das digitale Potenzial für eine systematische Umsetzung der Curricula ausschöpfen. Da ist noch Luft nach oben.

 
In Ihrem Buch finden sich viele Beispiele für Aufgabenstellungen und die Nutzung von Medien, wie Sie sie gerade schon angesprochen haben, einschließlich hilfreicher Links zu passenden digitalen Angeboten. Hängen Lehrkräfte oft zu sehr am Lehrbuch und „klassischen“ Medien, wie der Lektüre und dem gelegentlichen Film(-ausschnitt)?

Lehrkräfte sind Expert*innen für das Sprachenlernen, sie wollen mit starken Argumenten von neuen Lehrmaterialien überzeugt werden. Veränderungen machen viel Arbeit, es muss sich demnach lohnen, den Unterricht auf neue Materialien umzustellen. Das Lehrbuch ist zwar seit jeher Leitmedium des Englischunterrichts: 60 Prozent der Lehrkräfte an der Grundschule und fast 90 Prozent der Sekundarstufen-Lehrkräfte arbeiten damit. Das bedeutet aber nicht, dass nur das Englischbuch im Unterricht eingesetzt wird. Weder verhindert es Medienvielfalt, noch unterbindet es planerische Kreativität. Dies zeigen nicht zuletzt Unterrichtsentwürfe in Fachzeitschriften. Da werden Vermittlungsideen sehr kreativ mit lehrbuchunabhängigen Materialien umgesetzt. Viele dieser Ressourcen sind digital verortet. Unterrichtsmedien, die didaktisch und methodisch gelungen sind, setzen sich im Englischunterricht auch durch. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass sie das Lehrbuch und seine Begleitmedien verdrängen werden. Dafür bietet es einfach zu viele Vorteile.


Sie haben nach dem Staatsexamen selbst einige Jahre als Lehrer unterrichtet und sich schließlich für die Hochschulkarriere entschieden. Haben Sie in der Zeit als Lehrer besonders positive oder negative Erfahrungen gemacht, die Sie in Ihren späteren akademischen Schwerpunkten und Forschungen geprägt haben?

Meine Erfahrungen als Lehrer haben definitiv mein Verständnis von Englischdidaktik geprägt. Es ist dezidiert auf das interkulturell-kommunikative Lehren und Lernen in einem heterogenen Umfeld ausgerichtet. Schrecklich fand ich damals die Zeigefingerpädagogik, die in den Lehrbuchtexten der 1980er Jahren mitschwang, die einfallslose Aufbereitung kultureller Themen und die ideenarmen Aktivierungsvorschläge. Und die keineswegs neue Erkenntnis, dass Schüler*innen ganz unterschiedliche Lernbedingungen mitbringen, wurde weitgehend ignoriert. Daher ist Lehrwerkanalyse zu einem meiner Forschungsschwerpunkte geworden. Ein zweiter Schwerpunkt sind Planungsprozesse von Englischunterricht. Dieses Erkenntnisinteresse steht in Verbindung zu meinem ursprünglichen Beruf, weil die Unterrichtsplanung eben zum Kerngeschäft von Lehrkräften gehört. Ich wollte mehr darüber erfahren, wie Praktiker*innen Unterricht planen, von welchen Konzepten sie sich leiten lassen, welche didaktischen Trends sie wahrnehmen etc. In den Kapiteln zur Planung und zur Analyse von Unterrichtsentwürfen habe ich daher nicht nur grundsätzliche Entscheidungsbereiche thematisiert. Es war mir auch wichtig, Planungsfelder zu beschreiben und Kriterien darzustellen, mit denen man die Felder wissenschaftlich untersuchen kann.

Vielen Dank für das Interview, Herr Gehring!


Zum Autor
Dr. Wolfgang Gehring ist Professor für Englische Fachdidaktik an der Universität Oldenburg, nach Stationen an den Universitäten Würzburg, Jena und der PH Schwäbisch Gmünd. Er ist Autor zahreicher Veröffentlichungen zur Englischen Fachdidaktik unter Einschluss der Theorie der Fremdsprachendidaktik sowie der Lehr- und Lernforschung.

Englische Fachdidaktik
von Prof. Dr. Wolfgang Gehring

Der Band vermittelt die Grundlagen der englischen Fachdidaktik und regt zur forschenden Auseinandersetzung mit den zentralen Herausforderungen des Englischunterrichts an.
Die Kapitel befassen sich mit Theorien zum Fremdsprachenerwerb, mit Problemen der Lehr- und Lernplanung sowie mit Fragen der Unterrichtsvorbereitung und -durchführung. Sie skizzieren praktische Verfahren beim Aufbau von Sprachwissen sowie sprachlichem Können und gehen dabei z. B. auch auf Lern- und Aneignungsbedingungen, Spracherwerb durch die Künste, Sprachsensibilität, Mehrsprachigkeit, Inklusion und kulturelle Bildung ein.
In jedem Kapitel gibt es englischsprachige Erläuterungen zentraler fachdidaktischer Begriffe und Konzepte.

Zahlreiche Beispiele und Planungshinweise unterstützen Studierende der Anglistik, Englischlehrkräfte im Referendariat und in der Weiterbildung sowie Quereinsteiger zusätzlich bei der Entwicklung professioneller didaktisch-methodischer Handlungskompetenzen.
Die Neuauflage ist vollständig überarbeitet worden und enthält zahlreiche farbige Infokästen mit Zusammenfassungen und Hinweisen.

 

(ESV/MD)

Programmbereich: Anglistik und Amerikanistik