Sie haben folgende Möglichkeiten:
  1. zum Login.
  2. zur Navigation.
  3. zum Inhalt der Seite.

Regen zum Gedichtelesen an: Prof. Dr. Ralf Hertel und Prof. Dr. Peter Hühn (Fotos: privat)
Nachgefragt bei: Prof. Dr. Hertel und Prof. Dr. Hühn

„Gedichte eröffnen uns eine Innensicht ihrer Epoche“

ESV-Redaktion Philologie
23.11.2021
Im Erich Schmidt Verlag erscheint neu ein Band, in dem Gedichte vom 16. bis ins 21. Jahrhundert vorgestellt und in ihrem jeweiligen historischen Kontext analysiert werden. Wir haben mit den Autoren Prof. Dr. Ralf Hertel und Prof. Dr. Peter Hühn gesprochen.
Die Begeisterung für Gedichte und ihre Rezeption von Prof. Dr. Ralf Hertel und Prof. Dr. Peter Hühn ist in der Beantwortung unserer Fragen deutlich spürbar! Nähere und weitere Einblicke in die Welt der Gedichte bietet ihr neues Werk English Poetry in Context: From the 16th to the 21st Century. Viel Spaß beim Lesen!

Welche Bedeutung hat Lyrik heutzutage?

Ralf Hertel / Peter Hühn: Das Schöne ist: Lyrik lebt. Eigentlich könnte man ja meinen, dass das Schreiben, Lesen und Anhören von Gedichten etwas Altmodisches wäre. Weit gefehlt: Immer wieder überrascht uns Lyrik mit neuen, hochaktuellen Ausdrucksformen. Der ergreifendste Moment bei der Amtseinführung Joe Bidens als amerikanischer Präsident gehörte der jungen Lyrikerin Amanda Gorman, die mit ihrer Lyrik Millionen Zuschauer berührte. Dub poetry und die beliebten Poetry Slams bezeugen die Lebendigkeit und Unmittelbarkeit von Lyrik in der Aufführung. Rap und Hip Hop zeigen, wie man mit Sprachrhythmus, -tempo und dem kreativen Spiel mit Reimen Lebensgefühl auch heute noch vermitteln kann. Gerade in der britischen Gesellschaft ist Lyrik sehr präsent, in Aktionen wie dem alljährlichen ‚National Poetry Day‘ und den verbreiteten und häufigen Lyriklesungen in Pubs. Noch immer gibt es dort das angesehene Amt des ‚Poet Laureate‘, des offiziellen Hofdichters, in das immer ein weitbekannter Gegenwartsdichter gewählt wird, dessen Veröffentlichungen in der Öffentlichkeit sehr wohl wahrgenommen werden.
 
Was hebt Gedichte von anderen literarischen Gattungen ab?

Ralf Hertel / Peter Hühn: Bei den lyrischen Gedichten, die wir versammelt haben, fällt natürlich ihre Kürze im Vergleich zu anderen Gattungen wie Roman oder Drama auf. Dies führt zu einer spürbaren Verdichtung – jedes Wort zählt. Das fördert das Gespür und Verständnis für sprachliche Nuancen, und dadurch gewinnt oft die formale Ebene an Gewicht – Gedichte sagen sehr viel mit sehr wenigen Worten; zugleich sagen sie mehr, als es die einzelnen Worte selbst auf der Ebene des Inhalts tun – durch ihren Zusammenklang, den Rhythmus, den sie erzeugen, die Gedankenbewegung, der wir nachspüren.

Warum ist es so wichtig, Gedichte im Kontext ihrer Zeit zu untersuchen?

Ralf Hertel / Peter Hühn: Gedichte eröffnen uns eine Innensicht ihrer Epoche. Sie bieten uns die Chance, eine vergangene Epoche auf eine viel intimere Weise zu erfahren als beispielsweise durch das Studium von historischen Fakten. Dabei erzeugen Gedichte oft nicht so sehr fiktionale Welten wie das etwa Romane tun. Vielmehr kehren Lyriker oft ihr Innerstes nach außen, verleihen ihrer Subjektivität Ausdruck, vermitteln eigene Erfahrungen und Empfindungen wie Trauer, Freude, Liebe, Zweifel und Erkenntnis. Das ist das Schöne, geradezu Bewusstseinserweiternde an ihnen: Sie zeigen uns nicht, wie eine bestimmte Epoche ausgesehen haben muss; sie lassen uns nachempfinden, wie es sich angefühlt haben mag, damals zu leben. Das geschieht nicht nur über das, was im Gedicht gesagt wird, sondern gerade bei Gedichten ganz entscheidend auch über die Form. Die Bewegung und Struktur des Gedankengangs, die Sprache in ihrem Rhythmus, ihren Eigenheiten, all das ermöglicht uns eine Erfahrung anderer Zeiten – auch anderer Kulturen – jenseits rein rationalen Wissens und macht uns die Ähnlichkeit oder auch die Andersartigkeit unserer eigenen Erfahrungen bewusst.
 
Welche Empfehlung würden Sie Studierenden geben, die sich bisher „nicht so für Gedichte interessieren“?

Ralf Hertel / Peter Hühn: Probieren Sie es aus – lesen Sie! Lesen Sie laut, für sich allein oder auch für Freunde – Gedichte funktionieren oft über Rhythmus, Melodie, unerwartete Brüche. Nehmen Sie auch mal eine Gedichtsammlung mit, auf die Zugfahrt, ins Wartezimmer beim Arzt – Gedichte sind kurz und ideale Begleiter für unterwegs. Gedichte gewinnen mit jeder neuen Lektüre. Sie sind portable Auszeiten, mit denen wir uns auch mal zwischendurch aus dem Alltag ausklinken können. Und wenn Sie ein Gedicht berührt: Nehmen Sie sich Zeit, spüren Sie dem Klang nach, der Gedankenbewegung, den Brüchen im Lesefluss – dann kommt das Interesse daran, wie so etwas funktioniert, von alleine.

Neu erschienen: „English Poetry in Context: From the 16th to the 21st Century“ 23.11.2021
The Power of Poetry
Wann haben Sie zuletzt in einem Gedichtband gelesen? Vielleicht gestern? Vor einigen Tagen, Wochen, Jahren? Im Studium? Noch nie? Nun, dann wird es aber Zeit! Ein Blick in das umfassende und spannend ausgearbeitete Werk „English Poetry in Context: From the 16th to the 21st Century“ lohnt sich. mehr …

Gibt es einen Dichter/eine Dichterin, den/die Sie besonders hervorheben wollen? Z. B. jemanden, der/die in früheren Werken weniger Beachtung gefunden hat?

Ralf Hertel / Peter Hühn: Manche Dichterinnen, etwa Mary Wroth und Charlotte Smith, haben in früheren Lyrikgeschichten eher wenig Beachtung gefunden – hier werden auch sie in Einzelinterpretationen vorgestellt. Außerdem sind Autoren dabei, die eher nicht primär als Lyriker wahrgenommen werden: John Milton zum Beispiel, der für seine großen Versepen bekannt ist, aber auch Jonathan Swift, Thomas Hardy und D. H. Lawrence, die man eher mit ihren Romanen in Verbindung bringt. Ein genauer Blick auf ihre Gedichte zeigt aber, wie sehr sie auch in der Lyrik zu Hause waren. Manche, wie Thomas Hardy oder Robert Graves, sahen sich primär als Lyriker und schrieben Romane, um sich das Schreiben von Gedichten zu finanzieren.

Welche Gedichte behandeln Sie in Ihrem Band und wie haben Sie die Auswahl getroffen?

Ralf Hertel / Peter Hühn: Unsere Auswahl umfasst lyrische Gedichte vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Dadurch wollen wir einen breiten Überblick bieten, der es Lesenden erlaubt, historische Entwicklungslinien nachzuverfolgen. Aus praktischen Gründen liegt der Fokus dabei auf Gedichten britischer und irischer Autoren – die nordamerikanische Lyrik oder jene der ehemaligen Kolonien wären jeweils eigene Bände wert. Das heißt aber nicht, dass unser Blick nicht immer wieder auch über die britischen Inseln hinausgeht. So berücksichtigen wir amerikanische Dichter und Dichterinnen wie Ezra Pound, H. D. oder T. S. Eliot, die nach England kamen und dort die modernistische Lyrik entscheidend geprägt haben. Mit Derek Walcott und John Agard finden sich auch Dichter aus der Karibik wieder, deren Gedichte den großen Einfluss der ehemaligen Kolonien auf die neuere Lyrik in Großbritannien erkennen lassen.
Viele der Gedichte sind Klassiker, und wir hoffen, dass unsere Leserinnen und Leser gute Bekannte darunter finden; unser Buch soll sich auch für den Einsatz in der Schule eignen. Andere sind hoffentlich auch regelmäßigen Lyriklesenden Neuentdeckungen. Es bieten sich immer wieder, besonders etwa im Barock, in der Romantik und der Moderne fruchtbare Vergleiche zu deutschen Gedichten aus derselben Epoche an.  

Zum Abschluss eine persönliche Frage: Was ist Ihr ganz persönliches Lieblingsgedicht und warum?

Ralf Hertel: Eigentlich immer das, das ich gerade lese. Vor allem dann, wenn ich es mir genau ansehe und die erste spontane Ergriffenheit der Bewunderung dafür weicht, wie es seine Wirkung mit sprachlichen Mitteln in nur wenigen Zeilen so entfaltet, dass sich dahinter eine ganze Welt auftut. Ein ganz besonderes Faible habe ich seit einiger Zeit für Auden, der in seinen Gedichten vielseitig ist wie kaum ein anderer.

Peter Hühn: Shakespeares Sonette: wegen der mehrschichtigen Formulierungskunst von Empfindungen, Erfahrungen und Einstellungen; man entdeckt immer wieder neue Implikationen und Deutungsmöglichkeiten.

Vielen Dank für das Interview und die Tipps zur Lektüre von Gedichten!

Die Autoren
Ralf Hertel is professor of English Literature at the University of Trier. He has published widely on poetry, for instance a study on dance and modernist poetry („Tanztexte und Texttänze: Der Tanz im Gedicht der europäischen Moderne“, 2002) and essays on W. H. Auden and John Agard.

Peter Hühn is professor (retired since 2005) of English Literature at the University of Hamburg. He has published widely on poetry, especially „Geschichte der englischen Lyrik“, 2 vols. (1995), „The Narratological Analysis of Lyric Poetry: Studies in English Poetry from the 16th to the 20th Century“ (with J. Kiefer, 2005), „Europäische Lyrik seit der Antike“ (with H. Hillmann, 2005), „Facing Loss and Death: Narrative and Eventfulness in Lyrik Poetry“ (with B. Goerke, H. du Plooy, S. Schenk-Haupt, 2016).

English Poetry in Context: From the 16th to the 21st Century
Von Ralf Hertel und Peter Hühn

“English Poetry in Context” offers an accessible, comprehensive survey of the genre from the early modern period to the present day. Situating close readings of selected poems within their larger literary and historical contexts, it is an ideal starting point for students, teachers and other readers looking for a book that maps out the field of English poetry. Whether you are interested in a comprehensive overview or in in-depth case studies of your favourite poems, “English Poetry in Context” will cater for your demands.
Proceeding chronologically and discussing both canonical and less canonical poets, “English Poetry in Context” provides concise surveys of the periods discussed, biographical information on individual poets, case studies of their poems as well as suggestions for further reading. The book invites readers to look closely at what the poetic text, both in form and content, reveals about the context in which it was written, and to make individual poems and their larger historical contexts reflect upon each other.

Programmbereich: Anglistik und Amerikanistik