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Dr. Eva Stubenrauch und Julia Mierbach eröffnen ein neues Verständnis von ‚Gegenwart‘ (Fotos: Privat)
Nachgefragt bei Julia Mierbach und Dr. Eva Stubenrauch

„‚Gegenwart‘ scheint im Laufe der Jahrhunderte immer mehr Bedeutungen dazu gewonnen, aber nur sehr wenige abgelegt zu haben“

ESV-Redaktion Philologie
19.05.2023
Referenz, Darstellungsfigur, räumliche Präsenz, Ausdruck für das Hier und Jetzt – die Gegenwart ist ein wahres Multitalent, wenn es um vielfältige Bedeutungen eines Begriffes geht. Bislang wurden diese jedoch nur wenig differenziert von der literaturwissenschaftlichen Forschung wahrgenommen. Das soll sich jetzt ändern.
In neun Beiträgen überschreiten Autoren und Autorinnen die Grenzen der Gegenwart als bloßen Zeitbegriff und erforschen seine untypische Entwicklung in historischen, literarischen und akustischen Dimensionen. Aber was genau kann man jetzt von einem so wandelbaren Begriff erwarten? Wir haben die Herausgeberinnen gefragt:

Liebe Frau Mierbach, liebe Frau Stubenrauch, Sie schreiben in Ihrer Einführung zum neuen Beiheft der Zeitschrift für deutsche Philologie mit dem Titel „Gegenwartskonzepte 1750–1800“, der Begriff der ‚Gegenwart‘ habe verschiedene Bedeutungsmöglichkeiten während der Jahrhunderte geradezu „aufgesogen“. Was bedeutet das?


Eva Stubenrauch: Wie alles andere verändern sich auch Begriffe im Wandel der Zeit. Unsere These ist eine begriffs- und konzeptgeschichtliche, die sich auf die Veränderungen von ‚Gegenwart‘ über den Zeitraum mehrerer Jahrhunderte bezieht.
Die allermeisten Begriffe in unserem Sprachgebrauch haben erst seit der Sattelzeit um 1800 die Bedeutung, in der wir sie heute kennen. Alte Bedeutungen gingen verloren, neue kamen hinzu. Im Falle des Begriffs ‚Gegenwart‘ war die semantische Entwicklung aber überraschend untypisch: ‚Gegenwart‘ scheint im Laufe der Jahrhunderte immer mehr Bedeutungen dazu gewonnen, aber nur sehr wenige abgelegt zu haben.
Daher steht uns heute ein sehr reichhaltiger Gegenwartsbegriff zur Verfügung. ‚Gegenwart‘ kann für ein Gefühl der sinnlichen oder geistigen Präsenz stehen, die bloße Anwesenheit einer Sache oder Person meinen, oder auch – in der neueren Semantik – ‚die Gegenwart‘ im Sinne der heutigen Zeit bedeuten. Es ist typisch und deshalb in gewissem Sinne nachvollziehbar, dass sich die begriffsgeschichtliche Forschung vor allem auf die Bedeutungen konzentriert hat, die neu hinzukamen.
Ein solcher Ansatz übersieht jedoch die Vielschichtigkeit des Begriffs; uns war es wichtig, im Beiheft das reichhaltige Bedeutungsspektrum zu untersuchen. Perspektivisch legen wir so den Grundstein, um ‚Gegenwart‘ in zukünftigen Forschungen im Hinblick auf diese anderen konzeptuellen Dimensionen operationalisieren zu können.

Das Heft ist in drei Abschnitte unterteilt: Gegenwart als Darstellungsideal, Gegenwart als Darstellungsfigur und Gegenwart als Kopräsenz. Welche neuen Perspektiven auf die Gegenwartsthematik lassen sich von den Beiträgen erwarten?

Julia Mierbach: In der Forschung hat man sich bisher eigentlich nur für eine einzige der vielen Bedeutungen von Gegenwart intensiv interessiert – für Gegenwart im Sinne der ‚heutigen Zeit‘. Im Band haben wir deshalb die vielen anderen Semantiken und Pragmatiken unter die Lupe genommen.
Im ersten Abschnitt werden Positionen in der Historiografie, der Literatur und der Kunst beleuchtet, die einfordern, dass ihre Gegenstände so dargestellt werden sollen, als stünden sie gegenwärtig und lebendig vor Augen. Insbesondere für Gattungen und Disziplinen, die eine kollektive oder individuelle Entwicklung darstellen wollten, wurden solche künstlerischen Techniken zur wichtigen Überzeugungsstrategie, die die ‚Gegenwart‘ für alle sinnlich wahrnehmbar machten.
Im zweiten Abschnitt werden Positionen untersucht, die Gegenwart als physiologisches, akustisches oder kognitiv-psychologisches Konzept verstehen. ‚Gegenwart‘ gelingt oder scheitert hier in ihrer Darstellung als Sinnlichkeit, Bewegungsprozess oder Illusionstechnik.
Der dritte Abschnitt widmet sich mit der Kopräsenz einer spezifischen Nuance des Konzepts, und zwar der gleichzeitigen Anwesenheit. Gegenwart meint hier das Zusammensein einer Gruppe am gleichen Ort zur gleichen Zeit, zum Beispiel im Theater oder beim mündlichen Erzählen, wie es in der Romantik hochgeschätzt wird. Diese Art von Gegenwart ist aus Sicht des Bandes eine der Wurzeln des neueren Begriffs der Zeitgenossenschaft.

Auszug aus „Gegenwartskonzepte 1750–1800. Eine kulturwissenschaftliche Revision“ 11.05.2023
Die Gegenwart und wo sie zu finden ist
Was bedeutet eigentlich der Begriff ‚Gegenwart‘ - und ab wann wurde er in unserem heutigen Verständnis gebraucht? Liest man bei Wikipedia nach, so findet man folgende Erläuterung: „Gegenwart ist eine Bezeichnung für ein nicht genau bestimmtes Zeitintervall zwischen vergangener Zeit (Vergangenheit) und kommender, künftiger Zeit (Zukunft). (...) Der Begriff Gegenwart ist in der deutschen Sprache bereits im Mittelhochdeutschen belegt, damals allerdings nur in der Bedeutung von ‚Anwesenheit‘. Erst im 18. Jahrhundert erfolgte eine Bedeutungsausweitung auf eine Zeitbezeichnung.“ mehr …

Das 18. Jahrhundert ist eine wichtige Zeit für das Gegenwartskonzept. Welchen Schwerpunkt setzen die Beiträge bei den zu analysierenden literarischen Texten?

Eva Stubenrauch: Wir legen den Fokus auf das 18. Jahrhundert, weil hier die zeitliche Bedeutung von Gegenwart zu den anderen Semantiken hinzukommt. Und genau dieser Punkt bildet auch den Schwerpunkt der Textanalysen: Uns kommt es darauf an, wie die räumlichen, zeitlichen und darstellungsbezogenen Semantiken miteinander interagieren und in welchen Verhältnissen sie zueinanderstehen.
Dabei revidieren wir die herkömmliche Sichtweise der Forschung, dass die nicht-zeitlichen Semantiken weniger bedeutend oder gar veraltet seien. Stattdessen zeigen wir die konstitutive Funktion letzterer für unseren heutigen Begriff auf.
Denkt man das weiter, können wir nur mit dieser erweiterten Perspektive den vielfältigen Wirkungsweisen gerecht werden, die die Herstellung von ‚Gegenwart‘ in der Literatur und in anderen Künsten und Kommunikationskontexten bis heute haben kann: von atmosphärischen und emotionalisierenden Verfahren der ökokritischen Literatur über mediale Strategien der Immersion im Film bzw. Computerspiel oder präsentische Erlebnisse bei Konzerten und politischen Reden bis hin zu der Frage, welcher kollektiven Erinnerung oder Zukunftsprognose wir Glauben schenken und Gewichtung beimessen.

Musik, Töne, Stimme. Auch eine akustische Dimension wird im Beiheft thematisiert. Inwiefern ergänzt diese die neuen Verständnisweisen von Gegenwart?

Julia Mierbach: Das Akustische ist in Bezug auf Gegenwart bisher kaum thematisiert worden. Das Akustische zeigt aber besonders deutlich, dass ‚Gegenwart‘ – sei sie zeitlich oder räumlich konnotiert – ganz eng mit Darstellungsverfahren und Erfahrungsdimensionen zusammenhängt. Wenn wir zum Beispiel mit verbundenen Augen einem Bauchredner zuhören, sind wir wahrscheinlich überzeugt davon, dass wir zwei Personen vor uns haben, nicht eine. Die Gegenwart der Stimmen simuliert also eine Realität, die es ontologisch so nicht gibt.
Diese Art von Gegenwärtigkeit – als lebendig wirkende Immersion – haben im 18. Jahrhundert viele Künstler und Wissenschaftler im Sinn, wenn sie von Gegenwart sprechen. Gemeint ist nicht ‚die‘ Gegenwart als Anwesenheit einer Sache oder Person, sondern eine bestimmte Erfahrungsweise von Realität.
Noch heute verwenden wir den Begriff der Gegenwart in diesem Sinne. Wenn wir etwa von „unserer krisengeschüttelten Gegenwart“ sprechen, dann tun wir zwar so, als meinten wir eine faktische Realität. In Wahrheit aber überspringen wir die konkrete Referenz auf eine Sache und beschwören eher ein Gefühl, das uns als Gemeinschaft einer Generation, eines Landes, einer politischen Gruppe insofern miteinander verbindet, als auf einen unbestimmten, gemeinsamen Erfahrungshorizont verwiesen wird.

Wie kam es zu der Entstehung des Beihefts, können Sie uns dazu etwas erzählen?

Eva Stubenrauch: Am Thema „Gegenwart“ haben wir als Mitglieder des DFG-Graduiertenkollegs Gegenwart/Literatur an der Universität Bonn geforscht.
Dabei ist uns ausgehend von unseren Dissertationen zur Ordnung der Zukunft (Eva Stubenrauch) und Figuren der Reihenbildung (Julia Mierbach) und der uns verbindenden Perspektive auf die Verfahrensweise von Texten klar geworden, dass wir mit unserem Verständnis von „Gegenwart“ als Zeitbegriff an Grenzen stoßen und viele ästhetische, rhetorische und verfahrenstechnische Dimensionen in Literatur, Theorie und anderen Künsten nicht erfassen können.
Deshalb schlagen wir vor, Gegenwart zusätzlich zur Zeitdimension als Figur der Darstellung, Bildgebung und Referenz zu verstehen und sie in dieser umfassenden Weise für zukünftige Forschungsprojekte zu profilieren. Der Forschungszusammenhang des Graduiertenkollegs war für uns also sehr produktiv, weil er uns auf die Idee brachte, diesen unterschätzten Semantiken und Techniken zum einen – wie im Beiheft – historisch, zum anderen aber auch systematisch genauer nachzugehen.

Wir danken Ihnen für dieses anregende Interview, liebe Frau Mierbach und liebe Frau Stubenrauch. Wenn Sie als Leserinnen und Leser jetzt neugierig geworden sind, dann können Sie das Buch hier bestellen.

Zu den Autorinnen
Julia Mierbach ist als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bonn tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Neuere Deutsche Literatur, Transdisziplinäre Theoriegeschichte sowie Digitalität und Sicherheit. Ihr Promotionsprojekt trägt den Titel „Die Reihe. Verfahrensgeschichte einer Denkfigur“.

Eva Stubenrauch ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin. In ihrem Habilitationsprojekt erforscht sie die Genealogie und Topik literaturtheoretischer Denk- und Schreibmuster des 20. Jahrhunderts. Weitere Forschungsschwerpunkte sind Zukunftsordnungen seit 1800 (Dissertation), Politische Theorie und Populärkultur.

Gegenwartskonzepte 1750-1800
Von Julia Mierbach, Eva Stubenrauch
Mit Beiträgen von Christiane Frey, Daniel Fulda, Paul Labelle, Julia Mierbach, Elisa Ronzheimer, Bettina Schlüter, Julia Soytek, Eva Stubenrauch, Stefan Willer

Die These der Verzeitlichung der historischen Kategorien Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der ‚Sattelzeit‘ dominiert seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und bis heute die Gegenwarts(literatur)forschung. Diese betrachtet das späte 18. Jahrhundert zumeist als Trennscheibe zwischen einem ‚alten‘ räumlichen und einem ‚neuen‘ zeitlichen Gegenwartsbegriff.
Übersehen wurde dabei, dass das vermeintlich naivere, vormoderne Gegenwartskonzept keineswegs bloß räumlich gemeint war, sondern erheblich komplexere Semantiken implizierte, die von der Ästhetik bis in die Metaphysik ausgreifen. Nicht untersucht wurden bislang zudem unterschiedliche Relationsformen von Raum und Zeit sowie Wissenskontexte und Darstellungsverfahren, die die moderne Gegenwart diesseits und jenseits der Kategorien Raum und Zeit modellierten.
Der Band vermisst das Feld der Gegenwartskonzepte im 18. Jahrhundert in diesem Sinne grundlegend neu und rekonstruiert Leitparadigmen und Transformationsgeschichten, die sich bis heute auswirken.


Zeitschrift für deutsche Philologie
Herausgeber: Norbert Otto Eke, Michael Elmentaler, Udo Friedrich, Eva Geulen, Monika Schausten, Hans Joachim Solms
Redaktion: Clara Fischer, Alina Kornbach, Christiane Krusenbaum-Verheugen, Johanna Tönsing

Die von Ernst Höpfner und Julius Zacher im Jahr 1868 gegründete, seit 1954 (mit Band 73) vom Erich Schmidt Verlag betreute Zeitschrift für deutsche Philologie (ZfdPh) erscheint jährlich in vier Heften und einem Sonderheft wechselnder thematischer Orientierung, die von zwei Redaktionen verantwortet werden: Ältere deutsche Literatur/Sprachgeschichte (Köln/Halle) und Neuere deutsche Literatur (Berlin/Paderborn).

Um dem sich wandelnden Selbstverständnis des Fachs und einem erweiterten Philologie-Begriff gerecht zu werden, deckt die Zeitschrift für deutsche Philologie mit ihrem regelmäßigen Wechsel der disziplinären Ausrichtung der Hefte und Sonderhefte (1. und 3. Heft: Ältere deutsche Literatur/Sprachgeschichte; 2. und 4. Heft: Neuere deutsche Literatur; Sonderheft jährlich wechselnde Redaktionsverantwortung) sachlich und methodisch ein breites Spektrum der germanistischen Grundlagen- und Spezialforschung ab. Dies erfolgt in Abhandlungen, Miszellen, Diskussionen, Rezensionen und Tagungsberichten.

Mit ihren Beiträgen aus den Bereichen der Sprachgeschichte und philologischen Texterschließung, Literaturgeschichte und Poetik/Rhetorik, Texttheorie und Kulturwissenschaft steht sie für eine Germanistik, die auf der Basis einer disziplinären Identität zugleich in die aktuellen Theoriediskussionen eingebunden ist. Aus diesem Grund sind internationale germanistische Beiträge ebenso erwünscht wie - vor allem in den thematisch orientierten Sonderheften - Aufsätze aus anderen sprach- und literaturwissenschaftlichen Disziplinen.

Diese Zeitschrift bietet Ihnen

  • sachlich und methodisch ein breites Spektrum der germanistischen Grundlagen- und Spezialforschung
  • in regelmäßigem Wechsel der disziplinären Ausrichtung zur Älteren deutschen Literatur/Sprachgeschichte (Hefte 1 und 3) und zur Neueren deutschen Literatur (Hefte 2 und 4) aktuelle Fachbeiträge renommierter in- und ausländischer Autoren
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Programmbereich: Germanistik und Komparatistik