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Prof. Dr. Wolfgang Sellert hat sich bleibende Verdienste für die Aufarbeitung des Aktenbestandes des Kaiserlichen Reichshofrats erworben. (Foto: privat)
Nachgefragt bei: Prof. Dr. Wolfgang Sellert

„Geplant ist die Erschließung der gesamten Serie der ‚Antiqua‘ des RHR bis spätestens 2025“

ESV-Redaktion Ln
04.05.2022
Drei Regalkilometer mit Zehntausenden von Akten und Amtsbüchern: diese Quellen zur Tätigkeit des Kaiserlichen Reichshofrats (RHR), die im Österreichischen Staatsarchiv, Abt. Haus-, Hof- und Staatsarchiv, lagern, werden seit 2007 in einem einzigartigen deutsch-österreichischen Kooperationsprojekt erschlossen. Insgesamt sind seit 2009 bereits 11 Bände der Akten des RHR erschienen; soeben wurde der 6. Band der Serie „Antiqua“ im Druck vorgelegt.
Sie, lieber Herr Professor Sellert, sind der hauptverantwortliche Herausgeber dieses großartigen Erschließungsprojekts. Bitte berichten Sie unseren Leserinnen und Lesern doch zunächst einmal etwas Grundsätzliches zum Aufgabengebiet des RHR.

Wolfgang Sellert:
Der RHR gehörte zusammen mit dem Reichskammergericht (RKG), der römischen Rota, dem Parlement de Paris, dem englischen Court of King’s Bench, dem Hof van Holland, dem Großen Rat von Mechelen, den königlichen Gerichtshöfen in Dänemark und Norwegen sowie mit dem Stockholmer Hofgericht zu den europäischen Höchstgerichten des Ancien Régime. Die geographische Zuständigkeit des RHR erstreckte sich auf das gesamte Heilige Römische Reich Deutscher Nation, d. h. auf ein Gebiet, das 18 Staaten des heutigen Europas umfasst. Dieses Gebiet reichte von der italienischen Mittelmeerküste (Reichsitalien) bis nach Polen und von den Niederlanden bis an die Grenze Ungarns.

Hauptaufgabe des RHR war ebenso wie die des 1495 auf Initiative der deutschen Reichsstände gegründeten RKG die Friedenswahrung im Reich, d. h. Rechts- und Sozialkonflikte der verschiedensten Art durch Verfahren und Recht aus der Welt zu schaffen, anstatt sie gewaltsamer Selbstjustiz zu überlassen.  Auch wenn die jurisdiktionellen Kompetenzen der beiden Reichsgerichte grundsätzlich gleich waren, besaß der RHR eine Sonderstellung. Durch seine Nähe zum kaiserlichen Hof hatte er ein größeres politisches Gewicht als das zunächst in Frankfurt a. M., sodann in Speyer und zuletzt in Wetzlar tagende RKG. Außerdem war der RHR nicht nur Justizorgan, sondern auch politisches Beratungs-, Verwaltungs- und Regierungsorgan des Monarchen.

Hinzu kam, dass der RHR die ausschließliche Zuständigkeit in Lehensangelegenheiten und in Verfahren hatte, in denen es um den Bestand kaiserlicher Privilegien ging. Darüber hinaus war das Verfahren am RHR flexibler und im Allgemeinen schneller als dasjenige am RKG.

Wie kam es überhaupt dazu, dass dieses bedeutsame archivalische Erbe zur europäischen Rechtsprechung – im Gegensatz  zum Material des Reichskammergerichts – so lange unerschlossen bleiben konnte?

Wolfgang Sellert: Die Ursachen der zurückgesetzten Behandlung des RHR haben ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert. Während man damals das RKG als ein von kaiserlichen Einwirkungen unabhängiges Gericht, als „Bewahrer der Rechtseinheit in Deutschland“, als „Bollwerk des gesamten deutschen Rechtszustandes“, als „Kleinod der deutschen Verfassung“ oder ganz allgemein als Symbol der „Teutschen herbrachten Libertät und Freyheit“ lobte, wurde der RHR im Zeichen kleindeutscher und vornehmlich preußisch-protestantischer Nationalstaatsideologie als Machtinstrument des Kaisers abgetan, womit dieser „seinen dominierenden Einfluß im Reich zu behaupten“ gewusst habe. Noch 1921 hat der Rechtshistoriker Hans Fehr den RHR tendenziös als ein von „durchtriebenen Jesuitenköpfen“ inspiriertes „willfähriges Organ des Kaisers“ bewertet, das der „schlimmste Feind der evangelischen Sache“ gewesen sei. 

Zur Versachlichung der Diskussion trugen spätestens die seit den 1960er Jahren von meinem Frankfurter akademischen Lehrer Adalbert Erler angeregten Arbeiten über den RHR und nicht zuletzt das 1967 erschienene wegweisende Werk Karl Otmar Frh. v. Aretins „Heiliges Römisches Reich“ bei. Für v. Aretin war das Alte Reich vorrangig eine durch die Reichsjustiz gesicherte Friedens- und Rechtsordnung, wobei er die Funktion des RHR als „oberstes Verwaltungs- und Verfassungsgericht des Reiches“ hervorhob, das „in zahlreichen Fällen Unrecht abgestellt, gesühnt oder verhindert“ habe und ein „Hindernis für die Ausbildung des schrankenlosen Absolutismus“ gewesen sei.

Man hatte also die historische Bedeutsamkeit des RHR erkannt. Doch was musste passieren, um den im Archiv schlummernden Aktenschatz zu heben?

Wolfgang Sellert: Nachdem das wissenschaftliche Interesse an der höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich mit dem Nachfolger meines Lehrers Bernhard Diestelkamp weitere Impulse erhalten und auf sein Betreiben die Inventarisierung der Akten des RKG große Fortschritte gemacht hatte, rückte auch eine Erschließung der Akten des RHR in den Mittelpunkt. Dies galt umso mehr, als sich gezeigt hatte, dass erst mit einer Aktenerschließung auch die Forschungsintensität zur Höchstgerichtbarkeit Fahrt aufnimmt. 

Angesichts der Aktenfülle kam zunächst ein Pilotprojekt in Betracht. Dazu schienen die sog. „Alten Prager Akten" (APA) –  eine kleinere Aktenserie von 213 archivalischen Einheiten (Kartons) mit insgesamt etwa 6000 Einzelakten – als geeignet. Die zunächst mit Mitteln der Volkwagenstiftung 1999 begonnene Inventarisierung dieses Bestandes war derart vielversprechend,  dass sie zur Erschließung einer weiteren Aktenserie, nämlich der sog. Antiqua mit 1084 archivalischen Einheiten und ca. 16.000 Einzelakten, herausforderte.

Ein entsprechender Antrag auf finanzielle Unterstützung wurde von der Union der deutschen Akademien befürwortet und 2006 das bei der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen auf 18 Jahre angesiedelte Langzeitprojekt „Die Erschließung der Akten des Kaiserlichen Reichshofrats“  etabliert.

Der im Österreichischen Staatsarchiv aufbewahrte Quellenbestand mit mehr als 75.000 Akten besteht, wie Sie schon sagten, aus verschiedenen Aktenserien. Darunter befinden sich die genannten Serien der „Alten Prager Akten“ (APA) und der „Antiqua“. Worin besteht der Unterschied zwischen diesen beiden Serien?

Wolfgang Sellert: Die RHR-Akten wurden Ende des 18. Jahrhunderts vom Registrator der Reichskanzlei Nikolaus Wolf neu geordnet und in mehrere Serien unterteilt. Die „Antiqua“ dokumentieren die Tätigkeit des RHR hauptsächlich im 17. Jahrhundert. Sie schließen an die überwiegend aus dem 16. Jahrhundert stammenden „APA“ an. Letztere sind ein Sonderbestand, weil sie aus der Prager Regierungszeit Kaiser Rudolfs II. (1576–1612) stammen und erst zwischen 1771 und 1773 nach Wien gebracht wurden. 

Die Erschließung der Akten im Wiener Staatsarchiv obliegt mehreren wissenschaftlichen Mitarbeitern vor Ort, die sich durch die Aktenberge arbeiten. Wie kann man sich diese Arbeit vorstellen und was waren die besonderen Herausforderungen während der Corona-Pandemie?

Wolfgang Sellert: Die Erschließungstätigkeit orientiert sich an den 14 bewährten Verzeichnungskategorien der sog. „Frankfurter Grundsätze“, die 1978 zur Erschließung der RKG-Akten entwickelt worden sind. Diese Grundsätze wurden für die Erschließung der RHR-Akten modifiziert und angepasst.

Danach werden von den Mitarbeitern aus den oft viele hundert Seiten umfassenden Akten folgende Inhalte ermittelt: Die beteiligten Parteien, die Antragsteller und Antragsgegner, die Anwälte, der Verfahrensgegenstand, der Verfahrensverlauf einschließlich der Vorinstanzen und der dazugehörigen Aktenstücke wie Schriftsätze, gerichtliche Entscheidungen, Appellationen, Beweisstücke, darunter z. B. Lagepläne, Karten, Zeichnungen, Druckerzeugnisse, Gutachten, Flugblätter, ärztliche Atteste und Stammverzeichnisse usw.

Zu den zeitaufwendigen Arbeiten gehören außerdem die für jeweils jeden Erschließungsband anzufertigenden 5 Register, darunter vor allem das Personen- und Ortsregister sowie das Sachregister.

Leider hat die Corona-Pandemie zu erheblichen Einschränkungen der Erschließungstätigkeit dadurch geführt, dass das Archiv wegen der sog. „Lockdowns“ wiederholt schließen musste oder aus Hygienemaßnahmen nicht alle Mitarbeiter gleichzeitig im Archiv arbeiten durften. Hinzu kam, dass einer der Mitarbeiter trotz Impfung an Corona erkrankte und in Quarantäne gehen musste. Da die Erschließungsarbeit der Mitarbeiter an den Zugang der Akten im Archiv gebunden ist, war ein Ausweichen auf das Home Office nicht möglich. Nach alledem wird sich das für 2024 geplante Ende der Erschließung um etwa ein Jahr verschieben.

Die ersten Vorarbeiten zur Akten-Erschließung haben also bereits im Jahr 1999 begonnen. Im Jahr 2004 haben die Österreichische Akademie der Wissenschaften, das Österreichische Staatsarchiv sowie die Akademie der Wissenschaften in Göttingen einen Kooperationsvertrag über die Förderung zur Erschließung der Reichshofratsakten geschlossen. Seit 2006 wird das Projekt, wie Sie berichten, finanziell im Rahmen des Akademienprogramms mit Mitteln des Bundes und des Landes Niedersachsen gefördert. 
2007 erschien der erste Band im Druck. Nun, im Jahr 2022, liegen insgesamt 11 Bände vor – ein großartiges Ergebnis, auf das Sie und die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sehr stolz sein können. Ganz abgesehen davon, dass Ihnen erst kürzlich für Ihre Verdienste um die Aufarbeitung des Aktenbestandes des RHR das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse verliehen wurde. Bitte geben Sie uns einen Ausblick auf die weiteren Planungen, lieber Herr Professor Sellert.

Wolfgang Sellert: Geplant ist die Erschließung der gesamten Serie der „Antiqua“ bis spätestens 2025, d. h. es ist noch mit etwa vier Erschließungsbänden zu rechnen. Dann werden ca. 13% des Gesamtbestandes der Judizialakten erschlossen sein.

Eine vorläufige Bilanz zur Reichshofratsforschung soll auf der wegen Corona in den September 2023 verschobenen Tagung in Wien „Der Kaiserliche Reichshofrat. Wirkungsbereiche und Wandlungsprozesse eines herrschernahen Ratskollegiums in der Frühen Neuzeit“ gezogen werden.

Wie es nach Abschluss der Erschließung der „Antiqua“  weitergehen soll, ist offen. Immerhin hat die Wissenschaftliche Kommission der Union der deutschen Akademien in ihrer Beurteilung vom August 2021 die Umsetzung von etwaigen Folgeprojekten empfohlen.

Wir wünschen Ihnen weiterhin eine gute Hand und viel Durchhaltevermögen für dieses großartige Projekt und danken Ihnen herzlich für das aufschlussreiche Interview, lieber Herr Professor Sellert.

Die Akten des Kaiserlichen Reichshofrats (RHR)
Der Reichshofrat übte gemeinsam mit dem Reichskammergericht im Namen des Kaisers die Höchstgerichtsbarkeit im Heiligen Römischen Reich aus. Er fungierte darüber hinaus als oberster Lehnshof, als Beratungsgremium des Reichsoberhaupts und als Administrationsorgan der kaiserlichen Reservatrechte in Standeserhebungs- und Privilegienangelegenheiten. Das archivalische Erbe des Reichshofrats wird durch das Österreichische Staatsarchiv, Abteilung Haus-, Hof- und Staatsarchiv, in Wien verwahrt. Der Bestand erstreckt sich auf rund 1,3 Regalkilometer mit Zehntausenden von Akten und Amtsbüchern, die hochkarätige Quellen zur Geschichte Mitteleuropas in der Frühen Neuzeit enthalten.
Seit 2007 wird dieser einzigartige Bestand im Rahmen eines deutsch-österreichischen Kooperationsprojekts unter der Federführung der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen verzeichnet (www.reichshofratsakten.de). Diese Grundlagenarbeit eröffnet weitreichende Perspektiven für innovative Forschungen aus nahezu allen Bereichen der Rechtsgeschichte und der Geschichtswissenschaft. Mit den „Alten Prager Akten“ und den „Antiqua“ konzentriert sich das Erschließungsprojekt derzeit auf zwei Aktenserien, die schwerpunktmäßig die Tätigkeit des Reichshofrats im 16. und 17. Jahrhundert dokumentieren.


Programmbereich: Rechtsgeschichte