Goethes „Faust“ postkolonial gelesen
Zu behaupten, Goethes „Faust“-Dramen speisten sich aus einer dialektischen Grundspannung, die außergewöhnlich lange ihrer – allerdings nicht hegelianischen – Aufhebung harrt, entspricht einer Banalität: denn nach Fausts anfänglichem Tauschhandel mit dem Teufel, dem eine Serie von moralischen und kriminellen Fehltritten folgt, wird der neuzeitliche Gelehrte nach 12.111 Versen schließlich dennoch christlicher Gnade teilhaftig. Die dem Drama durch männliche Wunschfantasien und luziferische Magie eingeschriebene Bruchstelle, dem „Unbehagen an der Kultur“ zu entkommen, enthält eine Reihe von weiteren strukturierenden Spannungen bis hin zu Widersprüchen; wobei sich die vom Autor intendierten von solchen, die einer genauen Lektüre geschuldet sind, unterscheiden. Ein erster solcher ungewollten Widersprüche ergibt sich aus der Rezeptionsgeschichte der beiden ungleichen Stücke. Obwohl „Faust II“ in thematischem Betreff wie auch poetischem Gestaltungswillen den gewichtigeren der beiden Dramenteile ausmacht, ist er der bei Weitem unbekanntere Teil geblieben.
Dessen dramatischer Verlauf speist sich weniger aus den Gegenpolen der beiden männlichen Protagonisten als vielmehr aus dem weit aufgeschlagenen Panorama an thematischen Verhandlungen, wodurch der dramatische Stoff zugunsten epischer Breite verdrängt wird. Während im ersten Akt eine ökonomische Krise innerhalb des spätmittelalterlichen deutschen Reiches durch neuzeitlich inflationäres Papiergeld gelöst zu werden verspricht, wird, unabhängig von jenen Vorgängen, im zweiten Akt ein künstlicher Mensch, der Homunkulus, in einer Retorte gezüchtet. Im dritten Akt gelingt es Faust zunächst, eine Beziehung mit der sagenumwobenen Helena einzugehen, aus der hoffnungsvoll ihr Sohn Euphorion hervorgeht. Jedoch stürzt der Jüngling im Flug zu Tode, woraufhin Helena „verschwindet“ (F, S. 384). Derart enttäuscht will Faust im vierten Akt Feudalherr werden und träumt von Landgewinnung. Und da die im ersten Akt initiierte Geldentwertung eine politische Krise und in Folge einen militärischen Konflikt zwischen dem rivalisierenden Kaiser und Gegenkaiser auslöste, erhält Faust als kriegsentscheidender Ratgeber des angestammten Kaisers gewonnenes Meeresgebiet zum Lehen. Letzteres verwandelt Faust im fünften Akt sein Herrschaftsgebiet zu einer vermeintlich friedlich-prosperierenden Hafensiedlung, abermals auf die verwerfliche Beihilfe seitens des Teufels angewiesen. Doch wie stets unbefriedigt und maßlos, will Faust, obwohl alt geworden und erblindend, ein noch größeres Siedlungsprojekt, bevor ihn bei diesem Vorhaben der Tod ereilt.
Selbst ein dermaßen geraffter Aufriss des thematischen Spektrums von „Faust II“, das Michael Jaeger zu Recht als „moderne Zeit- und Geschichtstragödie“ einordnet, verdeutlicht, wie sehr Goethe darauf angewiesen blieb, aus dieser konzeptionellen Vielheit und Komplexität dank ästhetischer Mittel eine dramatische Einheit entstehen zu lassen. Dafür bediente er sich vor allem zweierlei Verfahren: Zum einen verleihen die beiden Gegenspieler Faust und Mephisto, obwohl changierend zwischen Ideenträgern und psychologisch realistischen Charakteren, dem Grundkonflikt Kontinuität, und zum anderen suggeriert die durchgehend gereimte Sprache eine klangliche Verbunden- und Gesamtheit. Und während die Figurenkonstellation der beiden Gegenspieler stets den Widerspruch, das ironisch Gebrochene, als bestimmende Signatur der Handlungsverläufe garantiert, sorgt die gebundene Sprache für eine durchgehend formell-ästhetische Einheit. Zu Recht hat daher Adorno auf die ungewollte Diskrepanz hingewiesen, dass das Bemühen nach der Autonomie einer dichterischen Sprache dem Wunsch nach kommunikativer Mitteilung anhand der enormen Themenpalette in die Quere kommt. Ulrich Gaier hingegen legitimiert die multiplen möglichen Lesarten des Dramas als Beweis für dessen Poetizität, die ihr Autor intendierte.
Nachfolgend unternehme ich eine postkoloniale Lektüre, die durch ein close reading sich der Frage stellt, inwiefern weitere Widersprüche, gewollte und ungewollte, im vierten und fünften Akt des zweiten Teils von „Faust“ erkennbar werden, wenn zweifach die Landgewinnung als Fausts Projekte thematisiert wird. Zwei Widersprüche werde ich dabei herausarbeiten. Als Erstes verdeutliche ich, dass Fausts Eigentum zwar durch neuzeitliche Damm- und Kanalbauten urbar gemachtes Land markiert, es jedoch in seiner politisch-sozialen Struktur althergebrachten Feudalstrukturen angehört. Und obwohl die neue Kolonie unter Fausts Herrschaft am modernen Kolonialhandel partizipiert und von ihm profitiert, konzentriert sich Goethes Blick auf die inneren Strukturen von Fausts Herrschaftsgebaren. Letzteres führt zu einem zweiten Widerspruch: Faust, der Kolonialherr, will nicht nur durch unlautere Mittel ein „Luginsland“ (F, V. 11 344) für sich selbst, sondern er visiert ein zweites noch größeres Kolonialprojekt an, einen „Welt-Besitz“ (F, V. 11 242). Die Vorstellung dieses Großprojektes bereitet ihm ein „Vorgefühl“ (F, V. 11 585) höchsten Glücks, da er meint, „auf freiem Grund mit freiem Volk zu stehn“ (F, V. 11 580), ohne jedoch vorher den Freiheitsbegriff semantisch hinreichend ausgefüllt zu haben. Diese Lücke füllend, erläutere ich, dass Fausts avisierte Freiheit letztlich darin besteht, dass seine Untertanen ökonomisch frei agieren können und dadurch letztendlich am inhumanen System einer kapitalistischen Wirtschaft und auch am Raubbau von Überseekolonien teilnehmen können.
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„Land in Sicht!“ Herausgegeben von: Prof. Dr. Michaela Holdenried, Dr. des Anna-Maria Post Die Beiträge des Bandes beleuchten verschiedene Szenarien und Praktiken von Landnahme und deren literarische Inszenierung in einem historischen Bogen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Die Bandbreite reicht von europäischen Gründungsmythen wie dem des Riesen Teuton über Christoph Kolumbus’ „Entdeckung“ der Neuen Welt und deren literarischer Verarbeitung bis hin zu postmodernen Re-Lektüren der deutschen Kolonialgeschichte. In der Zusammenschau wird deutlich, dass Landnahmen nur vordergründig Territorialisierungsprozesse sind, die mithilfe ritualisierter Praktiken des räumlichen Ordnens Herrschaft über Land stabilisieren. Die Mechanismen sind in Wirklichkeit viel komplexer, besonders wenn man eine metaphorische Qualität des Begriffes und eine symbolische Dimension der Praktiken annimmt. Diese vollziehen Landnahme nicht nur faktisch (etwa durch das Einrammen von Grenzpflöcken), sondern initiieren begleitende Prozesse der Imagination und stoßen das Durchexerzieren von Landnahmeszenarien im Diskurs an. Erst so entsteht ein stimulierendes, rechtfertigendes und programmatisches Narrativ der Landnahme. Eine literaturwissenschaftliche Analyse der Praktiken und Verwendungsweisen des Landnahme-Begriffs liegt damit auf der Hand, blieb in der bisherigen postkolonialen Auseinandersetzung allerdings bisher aus. Der Band schließt daher eine gravierende Forschungslücke im Bereich der postkolonialen Literaturwissenschaft. |
Programmbereich: Germanistik und Komparatistik