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Rainer Eppelmann: Ohne die Erinnerung wachzuhalten, können wir die Gegenwart nicht verstehen. (Foto: Bundesstiftung Aufarbeitung)
Nachgefragt bei Rainer Eppelmann

„Hier sitzt einer, der sich als Gewinner fühlt“

Redaktion Stiftung&Sponsoring
05.10.2020
Rainer Eppelmann, Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, im Gespräch mit Erich Steinsdörfer, Herausgeber der Zeitschrift Stiftung&Sponsoring.
S&S: Was bedeutet es für Sie persönlich, dass Ost- und Westdeutschland dieses Jahr seit 30 Jahren wieder vereint sind?

Rainer Eppelmann: Ich muss vor dem Hintergrund antworten, dass wir ja nicht nur vereinigt sind, sondern unter Berücksichtigung, wie wir vereinigt worden sind, nach zwei Weltkriegen. Wir haben eine Revolution in der DDR begonnen, wie andere Völker zum Teil schon vor uns in Polen oder Ungarn oder Tschechien – ebenfalls Länder, die letztlich unter der Oberherrschaft der Sowjetunion gewesen sind – als Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges.

Und auf einmal war die Zeit reif, und es kam zur Revolution in den mittel- und osteuropäischen Ländern, die unter sowjetischem Herrschaftsbereich waren. Und am Ende waren wir eins, ohne dass ein Schuss gefallen ist. Wir hatten keine „normale“ rebellische, blutvergießende Revolution, bei der Menschen, die man loswerden wollte, umgebracht worden sind, sondern bei uns ging’s ab ohne einen einzigen Schuss. So dass ich also nicht nur froh bin, dass wir wieder vereint sind, sondern auch über die fast völlig gewaltfreie Art und Weise.

„Wenn wir überhaupt eine Chance haben, dann nur gewaltfrei.”

Diese Revolution, sie entstand aus den Kirchen heraus, weil sie praktisch der einzige Veranstaltungsfreiraum waren, den die staatlichen Stellen in der DDR zugelassen haben. Wer sich also wünschte: „Ich will meine Gedanken äußern können, ich möchte hören, wie der, der mir gegenübersitzt, darüber denkt. Und wir wollen dann überlegen, finden wir das in Ordnung oder was müssten wir verändern?“ – das ging konkret zu DDR-Zeiten nur im Rahmen einer gottesdienstlichen Veranstaltung. Und uns war wichtig: Das alles muss ohne jede Gewalt passieren – einmal, weil es etwas mit unserer Grundüberzeugung zu tun gehabt hat. Und zum zweiten, weil wir wussten, überall da, wo auch mit Mitteln der Gewalt DDR-Bürger, Bürger der Volksrepublik Ungarn, Tschechien oder Polen versucht haben, ihre Lebensbedingungen radikal zu verändern, sind sie immer mit Gewalt niedergeschlagen worden. Und das wollten wir nicht erneut probieren. Uns war klar, wenn wir überhaupt eine Chance haben, dann nur gewaltfrei.

Und darum bin ich ungeheuer froh darüber, dass es nicht nach einem fürchterlichen Bruderkrieg zur Einheit Deutschlands gekommen ist, sondern unter Berücksichtigung günstiger Bedingungen. Dass es Gorbatschow gegeben hat, dass die DDR einschließlich der Sowjetunion ökonomisch praktisch zahlungsunfähig gewesen ist – das hat alles wesentlich dazu beigetragen. Ich habe mich so manches Mal in der DDR gefragt – ich war ja verheiratet und hatte damals vier Kinder: „Welchen Sinn hat das, was du hier machst? Wieder ins Gefängnis?“ Denn nach außen schien sich ja nicht viel zu verändern. Ich merkte zwar immer wieder mal, wir bekommen ein klein bisschen mehr Freiheit für das, was wir sagen oder machen wollen, weil wir nicht zu brutal und zu schnell, sondern vorsichtig unsere Handlungsmöglichkeiten immer weiter ausgebaut haben. Aber ich habe zu der Zeit nicht von der Deutschen Einheit geträumt. Ich wusste doch, 450.000 sowjetische Soldaten stehen bei uns, die die Sowjetunion nicht zurücknimmt. Von daher war das schon ein Wunder – und hier sitzt jetzt einer, der sich als Gewinner fühlt.

S&S: Welche Hoffnungen der euphorisch-rasanten Zeit nach 1989 haben sich erfüllt und welche nicht? In welchen Bereichen sind die Unterschiede zwischen Ost und West immer noch am ausgeprägtesten Ihrer Meinung nach?

Rainer Eppelmann: Friedliche Revolution in der DDR, deutsche Vereinigung – da wuchsen natürlich Hoffnungen, ungeheuer, ins Unermessliche. Und wir stellen heute, 30 Jahre später, fest, wir haben eine Menge geleistet, aber nicht alle Träume und nicht alle Hoffnungen sind Wirklichkeit geworden. Und das war nicht Schuld oder Versagen, sondern so mancher Traum war absurd. Ein ganz verrücktes Beispiel: Sich etwa vorzustellen, 30 Jahre später sind die ehemaligen DDR-Bürger in der Lage, genauso viel zu vererben wie die Bürger der Bundesrepublik Deutschland, die es seit den 1950er Jahren dank eines starken ökonomischen Aufschwungs zu Wohlstand brachten. Da brauchen wir noch viele Jahre einer sehr erfolgreichen ökonomischen Entwicklung, wenn da mal ein Ausgleich kommen soll. Wer gedacht hat, das passiert in kürzester Zeit, der war ein bisschen gutgläubig – man überschätzte die eigenen Möglichkeiten und unterschätzte die Größe und Kompliziertheit der Aufgabe.

„Wir waren Menschen, die unter sehr unterschiedlichen Bedingungen leben mussten.”

Was man zudem nicht vergessen darf: Wir waren Menschen, die unter sehr unterschiedlichen Bedingungen leben mussten. Die einen in einer Demokratie nach dem Willen der westlichen Siegermächte USA, England, Frankreich, die anderen nach dem Willen des großen Stalin und mit Einverständnis von Walter Ulbricht in einer Diktatur, von der sich beide eingestanden: „Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.“ Das heißt, wir Deutschen – auch heute noch, zumindest die, die das zu erheblichen Teilen miterlebt haben – sind ganz unterschiedlich sozialisiert worden. Es gibt eine Fülle von Dingen, die selbstverständlich ganz tief in uns drin sind. Einige der ehemaligen DDR-Bürger haben versucht, ihre Biografie und ihr bisheriges Leben irgendwo in eine Ecke zu stellen, dass es möglichst alle vergessen, in der Hoffnung, so ist alles vorbei. Und sie haben irgendwann leidvoll feststellen müssen: „Geht nicht. Das ist ja in dir drin.“ Hinzu kommt, dass andere neugierig sind. „Was hast du eigentlich gemacht? Du warst zwar kein Held – von wem kann man das verlangen – aber warst du wenigstens anständig?“ Das wird ein Problem bleiben, solange es Menschen gibt, die sehr unterschiedliche Lebenserfahrungen gemacht haben – die einen in der Demokratie und die anderen in der Diktatur. Ich glaube, jene haben recht, die sagen: Die Zeit, bis wir da sind, dass wir alle über eine gleiche Grunderfahrung verfügen, wird so lange dauern wie die DDR gedauert hat – also geschätzt drei Generationen. Da sind wir noch mitten drin.

Rainer Eppelmann
Rainer Eppelmann, Jahrgang 1943, ist seit ihrer Gründung 1998 ehrenamtlicher Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Nach dem Studium der Evangelischen Theologie war er von 1974 bis 1989 Pfarrer in der Berliner Samariterkirchengemeinde im Ostberliner Bezirk Friedrichshain und gleichzeitig Kreis-Jugendpfarrer. In den 1980er-Jahren engagierte sich Eppelmann in der DDR-Opposition, u. a. mit seinen als legendär geltenden „Bluesmessen“ für Jugendliche. Im Februar 1982 riefen er und Robert Havemann im „Berliner Appell“ zur Abrüstung in Ost und West auf. Das „Ministerium für Staatssicherheit“ plante die Ermordung des oppositionellen Pfarrers, mehrere Anschläge schlugen fehl.

Nach der Wiedervereinigung war Eppelmann von 1990 bis 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages. Von 1992 bis 1998 war er Vorsitzender beider Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestags zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Er ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen. Für seine Verdienste wurde Rainer Eppelmann mehrfach ausgezeichnet, u. a. 2009 mit dem Preis „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ und 2019 mit dem Großen Bundesverdienstkreuz.


S&S: Wie kann wirkungsvolle Stiftungsarbeit dazu beitragen, drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung, das Bewusstsein in ganz Deutschland für die Folgen des Einigungsprozesses zu schärfen?


Rainer Eppelmann: Die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur hat inzwischen mehrere tausend Projekte finanziert, aus denen etwa Bücher, Filme und Ausstellungen entstanden sowie Archive angelegt worden sind zu Menschen, die damals lebten und als Zeitzeugen ihr Leben beschreiben oder von ihrem Unrecht berichten. Wir führen eine Messe durch, einmal im Jahr in Suhl, bei der wir mit Pädagogen und Bildungspolitikern zusammenkommen und uns vernetzen. Um letztlich zu erreichen, dass die Erfahrung aus Diktatur und Demokratie seit dem Zweiten Weltkrieg lebendig erhalten bleibt für uns alle. Weil uns klar ist, ohne die Erinnerung wachzuhalten, die Erinnerung zu dokumentieren, können wir die Gegenwart nicht verstehen und wüssten gar nicht, in welche Richtung mit Blick auf die Zukunft wir gescheiter- oder vernünftigerweise laufen müssen.

Und für mich ist das immer wieder ein Aha-Erlebnis festzustellen, dass junge Menschen – entgegen aller öffentlich vertretenen Meinung – nicht sagen, das interessiert mich alles gar nicht, sondern sie hören interessiert zu, wenn man ihnen erzählt, wie der Alltag in der Diktatur war, wenn ihnen deutlich wird: „Verdammt noch mal, heute in der Demokratie habe ich ja viel mehr Chancen, Möglichkeiten, trotz aller Langeweile, trotz allem Ärger über Ungerechtigkeit oder dass manches lange dauert.“

S&S: Lassen Sie uns zum Abschluss in die Zukunft schauen. Stiftungseigene Digitalformate wie der Podcast „Auf der Mauer, auf der Lauer“, Online-Dossiers zu Solidarność oder Webinare zur Geschichte der Treuhand sind gut aufbereitet und anschauliche Einstiege in das Thema DDR. Glauben Sie, dass das Wissen über das Unrechtsregime DDR auf diese Weise adäquat an die nachfolgenden Generationen weitergegeben werden kann?

Rainer Eppelmann: Wir sollten die Chancen nutzen, die wir als Gesellschaft haben, um das, was uns wesentlich zu sein scheint für die Weiterentwicklung der Demokratie, möglichst breit an die Menschen heranzutragen. Wir arbeiten ja gerade deswegen auch eng mit Lehrerinnen und Lehrern und denen, die Lehrpläne erstellen, zusammen.

„Es geht nicht ohne Bildung.”

Ich glaube, es geht nicht ohne Bildung. Und die Inhalte müssen auf eine geeignete Art und Weise angebracht werden, z. B. durch Zeitzeugenberichte. Um der Jugend zu vermitteln: Wir müssen uns anstrengen, wir müssen uns engagieren. Damit das, was wir heute als völlig normal erleben, nicht morgen wieder exotisch wird.

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(ESV, cv/uw)

Programmbereich: Management und Wirtschaft