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Temperatur in Arbeitsstätten (Foto: Ian Schneider/unsplash.com)
Praxisfall

Hitzigkeiten um die Behindertenwerkstatt

Thomas Wilrich
10.06.2016
Zur zulässigen Raumtemperatur und 26°C-Regelung in Arbeitsstätten – und warum es dem Arbeitsschutz entscheidend auf die Gefährdungsbeurteilung ankommt.
Das Verwaltungsgericht (VG) Dresden hatte am 3. Februar
2016 über folgenden Fall zu entscheiden [1]:

Sachverhalt:

Der Betreiber einer Arbeitsstätte für Menschen mit Behinderung hielt häufig bei Außentemperaturen von <+ 26 °C eine Raumtemperatur von + 26 °C nicht ein. Es gab Beschwerden wegen zu hoher Raumtemperaturen in den Arbeitsräumen – insbesondere der Eltern einiger Beschäftigter.

Der Betreiber legte vor
- 2010 eine vom TÜV erstellte Gefährdungsbeurteilung mit „dem Ergebnis, dass keine akuten Gesundheitsgefährdungen bestünden“ und
- 2011 Maßnahmepläne u. a. mit den „organisatorischen Maßnahmen: zeitlich begrenzte Lüftung der Räume in den Nachtstunden, rechtzeitiges Schließen der Fenster in den Morgenstunden, rechtzeitige Verschattung der Fenster, Einsatz der vorhandenen Splittgeräte für die Abwärme produzierenden Maschinen, kostenlose Bereitstellung von kalten Getränken für die Beschäftigten“.

Nach zahlreichen Messungen durch den Betreiber und die Landesdirektion Sachsen und Besprechungen mit der Arbeitsschutzbehörde erließ diese schließlich eine Anordnung und verpflichtete den Betreiber, „die Beschäftigung in den Arbeitsräumen der Kartonagenabteilungen zu unterbrechen, falls in diesen eine Raumtemperatur von + 26 °C, bei einer Außentemperatur von <+ 26 °C, überschritten wird“.

Die Behörde begründete die Angemessenheit der Anordnung auch damit, dass sie
  - „das einzige Mittel ist, die Gesundheit der Mitarbeite nicht dauerhaft zu gefährden“: „denn organisatorisch und technische Maßnahmen hätten nicht dazu geführt dass die Innenlufttemperatur hätte gesenkt werden können“, und
- „keine unverhältnismäßigen Nachteile entstünden“: nach Art. 3 Abs. 3 GG „überwiege der Schutz der Behinderten die Interessen des Arbeitgebers (finanzieller Verlust), die dieser an der Aufrechterhaltung der Produktion während der erhöhten Innentemperaturen habe“.  

Art. 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) lautet: Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

Urteil:

Rechtsgrundlage für die Anordnung der Arbeitsschutzbehörde ist § 22 Abs. 3 Nr. 1 ArbSchG. Aber „aus § 3a Abs. 1 ArbStättV i.V.m. Nr. 3.5 des Anhangs zur ArbstättV i.V.m. Nr. 4.2. Abs. 3 der ASR A 3.5 ist keine Verpflichtung des Klägers zur Einhaltung der Innenraumtemperatur auf nicht > + 26° C bei einer Außentemperatur < + 26° C mit der Konsequenz entnehmen, dass anderenfalls die Räume als Arbeitsräume ungeeignet sind und die Beschäftigung in diesen Räumen zu unterbrechen ist“. Die Klage ist daher begründet. Das VG hebt den Bescheid auf.

Auszug aus dem Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG)

§ 22 Befugnisse der zuständigen Behörden

(3) Die zuständige Behörde kann im Einzelfall anordnen,

1. welche Maßnahmen der Arbeitgeber und die verantwortlichen Personen oder die Beschäftigten zur Erfüllung der Pflichten zu treffen haben, die sich aus diesem Gesetz und den auf Grund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen ergeben,

2. welche Maßnahmen der Arbeitgeber und die verantwortlichen Personen zur Abwendung einer besonderen Gefahr für Leben und Gesundheit der Beschäftigten zu treffen haben.

Die Bedeutung Technischer Regeln

Nach § 3a Abs. 1 ArbStättV hat der Arbeitgeber Technische Regeln für Arbeitsstätten (ASR) zu „berücksichtigen“. Das VG sagt: „Hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales eine ASR gemäß § 7 Abs. 4 im Gemeinsamen Ministerialblatt bekannt gegeben, dann wird diese ASR zur normenkonkretisierenden Verwaltungsvorschrift mit Außenwirkung und ist als solche auch von den Gerichten zu beachten“.


Auszug aus der Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV)

§ 3 Gefährdungsbeurteilung

(1) Bei der Beurteilung der Arbeitsbedingungen nach § 5 des Arbeitsschutzgesetzes hat der Arbeitgeber zunächst festzustellen, ob die Beschäftigten Gefährdungen beim Einrichten und Betreiben von Arbeitsstätten ausgesetzt sind oder ausgesetzt sein können. Ist dies der Fall, hat er alle möglichen Gefährdungen der Gesundheit und Sicherheit der Beschäftigten zu beurteilen. Entsprechend dem Ergebnis der Gefährdungsbeurteilung hat der Arbeitgeber Schutzmaßnahmen gemäß den Vorschriften dieser Verordnung einschließlich ihres Anhangs nach dem Stand der Technik, Arbeitsmedizin und Hygiene festzulegen. Sonstige gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse sind zu berücksichtigen.

§ 3a Einrichten und Betreiben von Arbeitsstätten

(1) Der Arbeitgeber hat dafür zu sorgen, dass Arbeitsstätten so eingerichtet und betrieben werden, dass von ihnen keine Gefährdungen für die Sicherheit und die Gesundheit der Beschäftigten ausgehen. Dabei hat er den Stand der Technik und insbesondere die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales nach § 7 Abs. 4 bekannt gemachten Regeln und Erkenntnisse zu berücksichtigen. Bei Einhaltung der im Satz 2 genannten Regeln und Erkenntnisse ist davon auszugehen, dass die in der Verordnung gestellten Anforderungen diesbezüglich erfüllt sind. Wendet der Arbeitgeber die Regeln und Erkenntnisse nicht an, muss er durch andere Maßnahmen die gleiche Sicherheit und den gleichen Gesundheitsschutz der Beschäftigten erreichen.

(2) Beschäftigt der Arbeitgeber Menschen mit Behinderungen, hat er Arbeitsstätten so einzurichten und zu betreiben, dass die besonderen Belange dieser Beschäftigten im Hinblick auf Sicherheit und Gesundheitsschutz berücksichtigt werden.

Anhang Anforderungen an Arbeitsstätten nach § 3 Abs. 1
3.5 Raumtemperatur

(1) In Arbeits-, Pausen-, Bereitschafts-, Sanitär-, Kantinen- und Erste-Hilfe-Räumen, in denen aus betriebstechnischer Sicht keine spezifischen Anforderungen an die Raumtemperatur gestellt werden, muss während der Arbeitszeit unter Berücksichtigung der Arbeitsverfahren, der körperlichen Beanspruchung der Beschäftigten und des spezifischen Nutzungszwecks des Raumes eine gesundheitlich zuträgliche Raumtemperatur bestehen.

(2) Fenster, Oberlichter und Glaswände müssen je nach Art der Arbeit und der Arbeitsstätte eine Abschirmung der Arbeitsstätten gegen übermäßige Sonneneinstrahlung ermöglichen.
Auszug aus dem Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG)

§ 22 Befugnisse der zuständigen Behörden

(3) Die zuständige Behörde kann im Einzelfall anordnen,

1. welche Maßnahmen der Arbeitgeber und die verantwortlichen Personen oder die Beschäftigten zur Erfüllung der Pflichten zu treffen haben, die sich aus diesem Gesetz und den auf Grund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen ergeben,

2. welche Maßnahmen der Arbeitgeber und die verantwortlichen Personen zur Abwendung einer besonderen Gefahr für Leben und Gesundheit der Beschäftigten zu treffen haben.

Gesundheitlich zuträgliche Raumtemperaturen

Konkret zur hier einschlägigen ASR sagt das VG: „Was unter einer ‚gesundheitlich zuträglichen Raumtemperatur‘ im Sinne des Anhangs 3.5 der ArbStättV zu verstehen ist, bestimmt Nr. 4.2. Abs. 3 der ASR A.3.5 Raumtemperatur. Danach soll die Lufttemperatur in Arbeitsräumen und den in Absatz 4 genannten Räumen + 26° C nicht überschreiten. Bei Außentemperaturen über + 26° C gilt Nr. 4.4. Damit wird deutlich, dass die Regelung in Nr. 4.2. Abs. 3 für Außentemperaturen unter + 26° C Gültigkeit beansprucht“.

Keine Vermutungswirkung durch Einhaltung der Technischen Regel

Zwar: „Vorliegend hat der Kläger aufgrund der bereits zitierten Messungen im Kartonagenbereich eine Raumtemperatur von + 26 °C bei einer Außentemperatur von < + 26 ° C in der Zeit von Mai bis September in der Vergangenheit häufig nicht eingehalten, so dass die Vermutung des § 3a Abs. 1 Satz 3 ArbStättV nicht zu seinen Gunsten eingreift“.

Aber „Nr. 4.2. Abs. 3 der ASR A 3.5 stellt keine Verpflichtung des Arbeitgebers im Sinne einer Sollvorschrift dar, die in der Regel einzuhalten ist und von der nur ausnahmsweise abgewichen werden kann. Nach Auffassung des Gerichts handelt es sich hierbei vielmehr um eine Obliegenheit des Arbeitgebers, deren Befolgung in seinem eigenen Interesse liegt“:

ASR enthält keine verbindliche Obergrenze der Raumtemperatur

Das VG Dresden ist also der Ansicht, dass die 26°C keine verbindliche Obergrenze der Raumtemperatur darstellen – und begründet das sehr ausführlich „aus dem Regelungssystem der ASR A 3.5“ und der „Zielsetzung und Struktur der Arbeitsschutzvorschriften“:

„Die ASR A 3.5 sehen bei erhöhten Lufttemperaturen im Arbeitsbereich ein gestuftes Regelungssystem vor, dessen unterste Stufe die Bestimmung in Nr. 4.2. Abs. 3 bildet. Bei einer Erhöhung der Raumtemperatur über + 26° C sind im Falle der Sonneneinstrahlung durch Fenster, Oberlichter und Glaswände zunächst diese Bauteile mit geeigneten Sonnenschutzsystemen auszurüsten (vgl. Nr. 4.3. Abs. 2 ASR A 3.5). Steigt die Außentemperatur über + 26° C und die Raumtemperatur über + 26° C sollen zusätzliche Maßnahmen z.B. nach Tabelle 4 ergriffen werden. Kann das Arbeiten bei besonderen Arbeitsbedingungen (z.B. schwerer körperlicher Arbeit etc.) zu einer Gesundheitsgefährdung führen, ist über weitere Maßnahmen anhand einer angepassten Gefährdungsbeurteilung zu entscheiden (vgl. Nr. 4.4 Abs. 1 ASR A 3.5.). Erst bei Überschreiten der Lufttemperatur im Raum von + 30° C und einer Außentemperatur von > + 26° C müssen wirksame Maßnahmen gemäß Gefährdungsbeurteilung (siehe Tabelle 4) ergriffen werden. Wird die Lufttemperatur im Raum von + 35 ° C überschritten, so ist der Raum für die Zeit der Überschreitung ohne technische oder organisatorische Maßnahmen oder persönliche Schutzausrüstung, wie bei Hitzearbeit, nicht als Arbeitsraum geeignet (vgl. Nr. 4.4. Abs. 3 ASR A 3.5).

Daraus folgt, dass sich aus der ASR A 3.5 eine Verpflichtung des Arbeitgebers erst bei Erreichen der Schwellenwerte der Lufttemperatur im Raum von mehr als + 30° C bzw. mehr als + 35° C und nicht bereits bei einer Lufttemperatur von > + 26° C entnehmen lässt.

Dass die Vorgabe von + 26° C in Nr. 4.2 Abs. 3 ASR A 3.5 keine verbindliche Obergrenze der Raumtemperatur darstellt, ergibt sich zudem aus Zielsetzung und Struktur der Arbeitsschutzvorschriften. So bestimmt § 3a Abs. 1 Satz 4 ArbStättV, dass für den Fall, dass der Arbeitgeber die Regeln und Erkenntnisse (hier der Nr. 4.2 Abs. 3 ASR A 3.5) nicht einhält, er nach eigenem Ermessen für einen gleichwertigen Schutz seiner Mitarbeiter sorgen muss. Dem dienen die hier vom Kläger in Auftrag gegebene Gefährdungsbeurteilung zu Arbeitsumgebungsfaktoren gemäß § 5 ArbSchG und die späteren Maßnahmepläne. Die Gefährdungsbeurteilung gilt als Kernstück des betrieblichen Arbeitsschutzes, weil sie die Basis für alle Arbeitsschutzmaßnahmen des Arbeitgebers nach § 3 Abs. 1 ArbSchG bildet. Sie ist Kennzeichen des modernen Arbeitsschutzrechts, das weitgehend darauf verzichtet, typische Schutzmaßnahmen zwingend gesetzlich festzulegen, und stattdessen auf eine eigenverantwortliche Prüfung und Festlegung durch den Arbeitgeber setzt. Dabei soll die Gefährdungsbeurteilung einen effektiven Arbeitsschutz gewährleisten, der auf die konkreten Verhältnisse im Betrieb abgestimmt ist“.

Ergebnis: „Vor diesem Hintergrund“ lässt sich aus Nr. 4.2. Abs. 3 ASR A 3.5 „eine durchsetzbare Verpflichtung zur Einhaltung der Innenraumtemperatur auf nicht > + 26° C bei einer Außentemperatur < + 26° C mit der Konsequenz, dass anderenfalls die Räume als Arbeitsräume ungeeignet sind und die Beschäftigung in diesen Räumen zu unterbrechen ist, lässt sich Nr. 4.2. Abs. 3 ASR A 3.5 nicht entnehmen.

Zwar kann der Beklagte im Rahmen seiner Befugnisse nach § 22 Abs. 3 ArbSchG bei schweren Mängeln in der Gefährdungsbeurteilung, die nach Aufforderung nicht behoben werden, einschreiten und zur Abwendung einer Gefahr ggf. sogar die weiteren Arbeiten bis zur Festlegung der notwendigen Schutzmaßnahmen untersagen. Eine solche Situation liegt hier jedoch nicht vor. Denn es ist weder eine konkrete Gefahrensituation erkennbar, noch wurden Mängel in der Gefährdungsbeurteilung gerügt. Auch kann der Beklagte grundsätzlich die Grundpflichten des § 3 ArbSchG per Anordnung nach § 22 Abs. 3 Satz 1 ArbSchG durchsetzen. Hierfür ist aber eine andere Anordnung als die vorliegend verfügte erforderlich“.

Übrigens: Das VG stellt klar, dass die Behörde dem Kläger die Rechtsanwaltskosten erstatten muss, denn die hier relevanten „Rechtsfragen überstiegen vor dem Hintergrund des Vollzugs des Arbeitsschutzgesetzes und der Arbeitsstättenverordnung sowie der zugehörigen ASR A 3.5 ohne weiteres den Rahmen, der von einem juristisch nicht ausgebildeten Beteiligten übersehen werden kann“.


Auszug aus der Technische Regeln für Arbeitsstätten Raumtemperatur (ASR A3.5)

4 Raumtemperaturen

4.1 Allgemeines

(1) Der Arbeitgeber hat bereits beim Einrichten der Arbeitsstätte darauf zu achten, dass die baulichen Voraussetzungen an den sommerlichen Wärmeschutz nach den anerkannten Regeln der Technik (nach geltendem Baurecht) gegeben sind.

(2) Eine gesundheitlich zuträgliche Raumtemperatur liegt vor, wenn die Wärmebilanz (Wärmezufuhr, Wärmeerzeugung und Wärmeabgabe) des menschlichen Körpers ausgeglichen ist.

(3) Die Wärmeerzeugung des Menschen ist abhängig von der Arbeitsschwere. Die Wärmeabgabe ist abhängig von der Lufttemperatur, der Luftfeuchte, der Luftgeschwindigkeit und der Wärmestrahlung. Sie wird durch die Bekleidung beeinflusst.

(4) Für die meisten Arbeitsplätze reicht die Lufttemperatur zur Beurteilung, ob eine gesundheitlich zuträgliche Raumtemperatur vorhanden ist, aus. Arbeitsplätze mit hoher Luftfeuchte, Wärmestrahlung oder Luftgeschwindigkeit müssen gesondert betrachtet werden. Dann sind diese Klimagrößen zusätzlich einzeln oder gegebenenfalls nach einem Klimasummenmaß zu bewerten.

(5) An Arbeitsplätzen mit erheblichem betriebstechnisch bedingten Wärmeeinfluss mit Belastungen durch Lufttemperatur, Luftfeuchte, Luftgeschwindigkeit, Wärmestrahlung, Arbeitsschwere oder Bekleidung ist im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung zu prüfen, ob und welche technischen, organisatorischen oder personenbezogenen Maßnahmen erforderlich sind und ob Hitzearbeit vorliegt.

4.2 Lufttemperaturen in Räumen

(1) In Arbeitsräumen muss die Lufttemperatur in Abhängigkeit von der Arbeitsschwere und Körperhaltung mindestens den Werten in Tabelle 1 entsprechen, wobei diese Lufttemperatur während der gesamten Arbeitszeit zu gewährleisten ist.

(2) Werden die Mindestwerte nach Tabelle 1 in Arbeitsräumen auch bei Ausschöpfung der technischen Möglichkeiten nicht erreicht, ist der Schutz gegen zu niedrige Temperaturen in folgender Rangfolge durch zusätzliche

- arbeitsplatzbezogene technische Maßnahmen (z. B. Wärmestrahlungsheizung, Heizmatten),
- organisatorische Maßnahmen (z. B. Aufwärmzeiten) oder
- personenbezogene Maßnahmen (z. B. geeignete Kleidung)
sicher zu stellen.

Tabelle 1: Mindestwerte der Lufttemperatur in Arbeitsräumen

Überwiegende Körperhaltung    Arbeitsschwere   
   leicht mittel schwer
Sitzen  +20 °C   +19 °C  -
Stehen, Gehen  +19 °C   +17 °C  +12 °C 

Üblicherweise reichen für die Klassifizierung der Arbeitsschwere die Angaben aus Tabelle 2 aus.

Tabelle 2: Arbeitsschwere

Arbeitsschwere  Beispiele
leicht
leichte Hand-/Armarbeit bei ruhigem Sitzen bzw. Stehen verbunden mit gelegentlichem Gehen
mittel mittelschwere Hand-/Arm- oder Beinarbeit im Sitzen, Gehen oder Stehen
schwer schwere Hand-/Arm-, Bein- und Rumpfarbeit im Gehen oder Stehen

(3) Die Lufttemperatur in Arbeitsräumen und den in Absatz 4 genannten Räumen soll +26 °C nicht überschreiten. Bei Außenlufttemperaturen über +26 °C gilt Punkt 4.4.

4.4 Arbeitsräume bei einer Außenlufttemperatur über +26 °C

(1) Wenn die Außenlufttemperatur über +26 °C beträgt und unter der Voraussetzung, dass geeignete Sonnenschutzmaßnahmen nach Punkt 4.3 verwendet werden, sollen beim Überschreiten einer Lufttemperatur im Raum von +26 °C zusätzliche Maßnahmen, z. B. nach Tabelle 4, ergriffen werden. In Einzelfällen kann das Arbeiten bei über +26 °C zu einer Gesundheitsgefährdung führen, wenn z. B.:

- schwere körperliche Arbeit zu verrichten ist,
- besondere Arbeits- oder Schutzbekleidung getragen werden muss, die die Wärmeabgabe stark behindert oder
- hinsichtlich erhöhter Lufttemperatur gesundheitlich Vorbelastete und besonders schutzbedürftige Beschäftigte (z. B. Jugendliche, Ältere, Schwangere, stillende Mütter) im Raum tätig sind.

In solchen Fällen ist über weitere Maßnahmen anhand einer angepassten Gefährdungsbeurteilung zu entscheiden.

(2) Bei Überschreitung der Lufttemperatur im Raum von +30 °C müssen wirksame Maßnahmen gemäß Gefährdungsbeurteilung (siehe Tabelle 4) ergriffen werden, welche die Beanspruchung der Beschäftigten reduzieren. Dabei gehen technische und organisatorische gegenüber personenbezogenen Maßnahmen vor.

Tabelle 4: Beispielhafte Maßnahmen
 
Beispielhafte Maßnahmen
a) effektive Steuerung des Sonnenschutzes (z. B. Jalousien auch nach der Arbeitszeit geschlossen halten)
b) effektive Steuerung der Lüftungseinrichtungen (z. B. Nachtauskühlung)
c) Reduzierung der inneren thermischen Lasten (z. B. elektrische Geräte nur bei Bedarf betreiben)
d) Lüftung in den frühen Morgenstunden
e) Nutzung von Gleitzeitregelungen zur Arbeitszeitverlagerung
f) Lockerung der Bekleidungsregelungen
g) Bereitstellung geeigneter Getränke (z. B. Trinkwasser) 

Fazit:

Entscheidend ist nicht die (sklavische) Anwendung technischer Regeln. Das stellt auch § 3a Abs. 1 Satz 4 ArbStättV klar: „Wendet der Arbeitgeber die Regeln und Erkenntnisse nicht an, muss er durch andere Maßnahmen die gleiche Sicherheit und den gleichen Gesundheitsschutz der Beschäftigten erreichen“. Die Technischen Regeln (ASR) sind nach § 3a Abs. 1 Satz 2 ArbStättV auch „nur“ zu „berücksichtigen“. Auch die Technischen Regeln Betriebssicherheit sind zu „berücksichtigen“ (§ 4 Abs. 3 BetrSichV) – und hier stellt der Verordnungsgeber klar, dass dies „die Möglichkeit offen lässt, von einer TRBS abzuweichen“[2].

Entscheidend ist eine – dem Ziel des möglichst guten Arbeits- und Gesundheitsschutzes Rechnung tragende, aber auch vernünftige – Gefährdungsbeurteilung: sie ist das „Kernstück des betrieblichen Arbeitsschutzes“ und die „die Basis für alle Arbeitsschutzmaßnahmen des Arbeitgebers“. Das ist eben der der „moderne Arbeitsschutz“, der „weitgehend darauf verzichtet, typische Schutzmaßnahmen zwingend gesetzlich festzulegen, und stattdessen auf eine eigenverantwortliche Prüfung und Festlegung durch den Arbeitgeber setzt“ – „abgestimmt auf die konkreten Verhältnisse im Betrieb“.

Anmerkungen
[1] Az. 4 K 802/12.
[2]  BR-Drs. 400/14 (Beschluss) v. 28.11.2014, S. 3; vgl. hierzu Thomas Wilrich, Praxisleitfaden BetrSichV – mit 20 Gerichtsurteilen, VDE-Verlag 2015, 11.3.
 
 
Der Autor
Rechtsanwalt Prof. Dr. Thomas Wilrich ist tätig rund um die Themen Produktsicherheit, Produkt- und Führungskräftehaftung und Arbeitsschutz einschließlich der entsprechenden Betriebsorganisation, Vertragsgestaltung und Strafverteidigung. Er ist an der Fakultät Wirtschaftsingenieurwesen der Hochschule München zuständig für Wirtschafts-, Arbeits-, Technik- und Unternehmensorganisationsrecht und Fachbuchautor zur Betriebssicherheitsverordnung (BetrSichV), zum Produktsicherheitsgesetz (ProdSG) sowie Arbeitsschutzmanagement und Unfallversicherungsrecht. 


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Das Arbeitsschutzrecht verlangt kein Nullrisiko, sondern dass Gefährdungen nach dem Stand der Technik und unter verantwortungsvoller Abwägung der Sicherheitsinteressen und – vorsichtiger – Berücksichtigung der Wirtschaftlichkeit so gering wie möglich sind. Es geht also nicht um die Gewährleistung absoluter, sondern ausreichender Sicherheit. Was ausreicht, ist eine schwierige Wertungsfrage und verantwortungsvolle Entscheidung.

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Erscheint im Juli 2016!


Programmbereich: Arbeitsschutz