Sie haben folgende Möglichkeiten:
  1. zum Login.
  2. zur Navigation.
  3. zum Inhalt der Seite.

Beleuchtet Hörbuch und Hörspiel aus wissenschaftlicher Perspektive: Peter Klotz (Foto: Privat)
Nachgefragt bei Prof. Dr. Peter Klotz

„Hörspiel und Hörbuch entfalten eine eigene Ästhetik durch ihren Performanz-Charakter“

ESV-Redaktion Philologie
11.02.2022
Hörspiele und Hörbücher eröffnen sensibilisierten Zuhörerinnen und Zuhörern neue Welten. Seit der Erfindung des Radios entstanden zunächst Hörspiele, gefolgt von Hörbüchern, und seit einigen Jahrzehnten gewinnen auch Podcasts an Aufmerksamkeit. Diesen Phänomenen widmet sich ein neu im Erich Schmidt Verlag erschienener Band in einem historischen Querschnitt. Wir haben mit dem Autor Prof. Dr. Peter Klotz gesprochen, der sein Hauptaugenmerk auf die Faktoren legt, die Literatur zur Performance werden lassen.
Lieber Herr Klotz, Sie haben pünktlich zum anstehenden 100-jährigen Jubiläum des Hörspiels mit Ihrem Band eine neue Überblicksdarstellung zu Hörbuch und Hörspiel veröffentlicht. Vor welche Herausforderungen hat es Sie gestellt, über Literatur zu schreiben, die gehört werden muss, um vollständig erfasst zu werden?

Peter Klotz: Hörspiele zu hören, war in meiner Jugend und meinem frühen Erwachsenenalter selbstverständlich, und zwar keineswegs nur für mich. Wir waren fasziniert und wollten keinen Sendetermin verpassen, sogar in den Ferien nicht – das ging dann über Mittelwelle. Das verebbte in meinen mittleren Jahren, aber eine Sehnsucht blieb wohl bestehen. Und genau daran habe ich zunächst angeknüpft und mich wieder an dieses mediale Genre herangearbeitet. Dann bin ich in seine Geschichte eingestiegen, und da war viel Versäumtes nachzuholen, aber damit setzte auch die Freude an Entdeckungen und Wiederentdeckungen ein. Die eigentlichen Herausforderungen waren aber nicht diese Arbeiten, sondern die nicht nur theoretischen Überlegungen, was denn das Hörspiel eigentlich ausmacht, worin seine eigenartige Faszination steckt. Als Germanist, der ich ja auch bin, brauchte ich erst einmal so etwas wie Mut, den literarischen Text ein Stück weit aus dem Zentrum der Auseinandersetzung zu rücken. Also kritisierte ich erst einmal meine eigenen Lesefähigkeiten, dann nahm ich meine Begeisterung für Theater und Film hinzu, und schließlich erinnerte ich mich an die Oralität mittelalterlicher Literatur. Hinzu kam, dass ich das wunderschöne Erlebnis hatte, die Begeisterung und Zufriedenheit unserer Tochter zu erleben, wenn ich für sie jahrelang Gute-Nacht-Geschichten erzählte, auch noch, als sie schon eine recht gute Leserin war. Da war dann der vorhin angesprochene Mut zum Losschreiben da, und mit ihm der eigentliche Leitgedanke für mein Buch: Literatur braucht Aufführung. Zwar wird auch ein gelesenes Stück Literatur zu einer Art mentaler Aufführung, aber das ist nicht die Performanz, die Hörspiel und Hörbuch in sich tragen. Die verschiedenen Stimmen mit ihren Ausdruck-Valeurs werden zu Zeichen, ebenso die Geräusche. Dies so zu erfahren, bedeutete für mich nicht nur eine Hinwendung zum spezifischen Zeichencharakter der Stimmen und Geräusche, sondern ganz besonders auch zum Hören, das die Rezeption von Literatur auf ganz eigene Weise dynamisch macht und formt. Immer mehr bin ich in meiner Arbeit dazu gekommen, dass dieses Hören dem Hören von Musik ganz nahekommt. Stimmen, Geräusche, Musik und Stille werden zu einem Zeichenensemble, das für etwas Eigenes steht, noch dazu in unserem lauten Zeitalter. Ein Teil der Herausforderung, solch ein Buch zu machen, war, mir selbst eine Art Hör-Erziehung zu verpassen, um sensibler zu werden und um gewissermaßen komplexer zuzuhören. Und daraus ergab sich dann die Struktur des Buches, das nicht nur die Geschichte skizziert, nicht nur über Stücke spricht, sondern das auch die Technik, die Geräusche und vor allem die Stimmen ernst nimmt und so das Hören thematisiert. Dies alles deshalb, weil Hörspiel und Hörbuch eine eigene Ästhetik gerade durch ihren Performanz-Charakter entfalten. Außerdem mag ich die intime Nähe, die das akustisch-auditive Medium hat.

Sie bezeichnen Hörspiel und Hörbuch als „performative Literatur“. Was verstehen Sie unter diesem Begriff?

Peter Klotz: Literatur ist ein kognitives, mentales und mit Affekten durchsetztes Konstrukt, das sich medial in verschiedenen Formen realisiert: immer schon als orale Literatur, dann verschriftet und geschrieben, dann als Schauspiel und als Film und schließlich als Hörspiel und als Hörbuch. Das Wort „performativ“ sagt es eigentlich: Literatur wird vor allem durch das Formen, durch das produktive und rezeptive Gestalten zur Literatur. Die Inhalte sind erst einmal sprachlich gefasst (beim O-Ton-Hörspiel ist das natürlich ganz anders), aber durch die mediale Form erfahren sie eine weitere Gestaltung, und dadurch ist das gesendete oder abgespielte Hörspiel oder Hörbuch mehr als der Text. In Hörspiel und Hörbuch wird Literatur unmittelbar performativ, zu einer geistig und affektiv erfahrbaren Aufführung, der man sich stellen kann, wahrscheinlich noch mehr als einem gelesenen Text. Es ist wie mit der Musik: die Notation muss aufgeführt werden, um zu tönen. Im Zusammenhang mit Lyrik weiß man das eigentlich schon immer, und bei Texten in gebundener Sprache und bei gut formulierten Texten ist es ebenso.

Auszug aus: „Hörspiel und Hörbuch – Literatur als Performance“ 09.02.2022
Hörspiel und Hörbuch sind mehr als gesprochene Literatur
Wenn Sie bereits einmal in den Genuss eines Hörbuchs bzw. Hörspiels gekommen sind, wissen Sie, wie entspannend es sein kann, diesem Klangkunstwerk zu lauschen. Gerade zur kalten Jahreszeit ist es eine schöne Vorstellung, es sich mit einer warmen Tasse Tee auf der Couch gemütlich zu machen und die Ohren zu spitzen. Doch erst, wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit auf die Details der literarischen Gestaltung richten, können Sie den vertonten Text in seiner Gänze erfassen. Diesem Ansatz folgt auch unser Autor Peter Klotz, der einen wissenschaftlichen Blick auf die Inszenierung von Literatur als umfassendes Hörereignis wirft. mehr …

Wenn ein Hörbuch mehr ist als vorgelesene Literatur, was ist dieses „Mehr“?

Peter Klotz: Ein Hörbuch ist im gerade erwähnten Sinne gestaltete Literatur. Sprecher und Sprecherinnen erarbeiten mit Regie und Technik eine „Aufführung“, eben eine Performance von Literatur, die übrigens in gewissem Maße vereindeutigt – was Ambiguitäten natürlich einschließt. Das Akustisch-Gestalthafte gibt den Texten auf diese sie spezifizierende Weise eine Kontur, der sich die Hörer und Hörerinnen ganz konkret stellen können und die vielleicht auch die je eigenen Rezeptionsmöglichkeiten von Texten übersteigt oder auch verbessert. In jedem Fall ist eine solche Performance mental, kognitiv und affektiv anregend, selbst dann, wenn sie abgelehnt wird. Es gilt, sich darüber klar zu sein, dass man nicht immer ein guter Leser ist. Es ist aber so, dass gerade das Gestalthafte faszinieren kann, und so wird man in einen Text beziehungsweise eigentlich in das Performative gewissermaßen hineingezogen. – Schlussendlich zählt, ob man das mag, ob man offen ist für andere Sichtweisen und kulturelle Erfahrungen, die zu Erlebnissen werden können. In all dem steckt das „Mehr“, nach dem Sie fragen.

Was verstehen Sie unter „Theater im Kopf“?

Peter Klotz: Was ich unter „Theater im Kopf“ verstehe, habe ich im Zusammenhang mit Performance ein Stück weit schon gesagt. Nur, ich würde heute nicht mehr von „Theater“ sprechen: das trifft zwar einerseits ein bisschen zu, aber andererseits ist Theater, ist Schau(!)-Spiel etwas ganz anderes. Sehen und Hören und Theater-Atmosphärisches verbinden sich ja auf eigene Weise und schaffen das Faszinosum „Theater“. Auch verweist der beliebte Begriff des „Kopftheaters“ zu sehr auf relativ konventionelle Hörspiele beziehungsweise auf Dramenadaptionen. – Hörspiele sind aber nun seit langem Hörereignisse eigenen Rechts bzw. eigen-artiger Gestalt. Wenn ich diesen Begriff aber doch mögen soll, dann mit Bezug auf das Hin- und Zuhören: Hören stellt einen eigenen mentalen Zugang dar, etwa im Unterschied zum Schauen. Hören schafft Nähe, gelegentlich mentale und affektive Intimität. Da passt der Bezug zum Kopf und zur eigenen Leiblichkeit sehr gut. Theater ist etwas Schönes, Anderes.

Sind Hörspiel und Hörbuch heutzutage nicht eher Randerscheinungen?

Peter Klotz: Die Antwort kann nur ein klares JEIN sein. Einerseits ja, weil Hörspiel und Hörbuch relativ wenig öffentliche und kulturelle Aufmerksamkeit erfahren, andererseits mehr und mehr: nein. Die technische Entwicklung hat über die iPhones zu einer alltäglichen Hörbereitschaft allerorten geführt, und die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben sich gerade über die Podcasts tragende Möglichkeiten geschaffen, die sich gewissermaßen selbst immer mehr ausbauen. Hinzu kommt, dass einige große Tageszeitungen in regelmäßigen Abständen Hörbücher und Hörspiele in ihren Feuilletons besprechen. Die Rundfunkanstalten tun ein Übriges: sie verweisen auf diese medialen Genres in ihren Programmzeitschriften, der Deutschlandfunk z. B. monatlich, der Bayerische Rundfunk über seine Hörspielabteilung mit einem halbjährlichen Programmheft, das aufwendig gestaltet ist.
Anmerken möchte ich noch, dass ich seit meiner Arbeit an meinem Buch mehr und mehr Leute, ganz besonders auch junge Leute befragt habe, wie sie’s denn mit Hörbuch und Hörspiel halten. Die Antworten waren positiv und lebendig, immer auch unter Einschluss des Anhörens von Podcasts. In dem Zusammenhang fiel mir auf, dass die positive Nutzung des Hörmediums wieder durch alle Bildungsschichten geht. Das hängt nicht zuletzt mit dem mittlerweile großen Angebot der Streaming-Dienste, einiger Verlage und sogenannter Hörspiel-Pools der Rundfunkanstalten zusammen. All das freut mich, wenn ich das anfügen darf.

Zu guter Letzt, wie schätzen Sie die zukünftige Entwicklung der Hörbuch- und Hörspielbranche ein?

Peter Klotz: Von „Branche“ würde ich nur mit Bezug auf Streaming-Dienste und Verlage sprechen. Sie werden durchaus florieren, weil die iPhones und die Geräte im Auto sowie das „Küchenradio“ gute Voraussetzungen für das Nebenbei-Hören schaffen. Wichtiger sind aus meiner Sicht die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten mit ihren Hörspielabteilungen, die übrigens nicht immer so heißen, sowie kulturell engagierte Verlage. Eine eigene Beachtung verdient die Bauhaus-Hochschule in Weimar und die privat-vernetzten „Hörspiel-Macher“. Von ihnen geht eine besondere kulturelle Lebendigkeit aus, denn sie besetzen diese „kleine Sparte“ als wichtige Impulsgeber, die an den Grenzen von Literatur und darüber hinaus experimentieren. Das gilt übrigens auch für die Slam Poetry, die gelegentlich als Hörbuch und/oder im Podcast aufscheint. Damit ist ein offener Bereich angesprochen, für den die Podcasts gegenwärtig in ihrer Vielfalt ein gutes Beispiel sind.
Besonders wichtig ist mir, darauf hinzuweisen, dass die finanziellen Potenziale, die beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk (noch?) bestehen, kulturelle Freiheiten schaffen, die spannende und wunderschöne kreative Möglichkeiten ebenso bereithalten, wie sie kulturelle Kontinuität gewährleisten, indem sie ältere Hörspiele und Autorenlesungen im Programm haben. Das ist Mäzenatentum im allerbesten Sinne.
Für unvergänglich halte ich das Bedürfnis, Literatur immer mal wieder hören zu wollen, um sich so auf sie einzulassen. Erlebnisse, die in der Kindheit beginnen und die wir alle immer wieder brauchen. Gerade das hat uns auch die Gegenwart recht klar gezeigt.

Herzlichen Dank für Ihre Antworten!


Der Autor
Peter Klotz hatte die Professur für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur in Bayreuth inne. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Sprachreflexion, Grammatik, Schreiben und vor allem in der funktionalen Verbindung von Sprachwissen und Literaturrezeption sowie besonders in textbezogener Pragmatik.
Im ESV liegen von ihm schon die Bücher „Beschreiben. Grundzüge einer Deskriptologie“ (2013), „Modifizieren. Aspekte pragmatischer und sprachlicher Textgestaltung“ (2017) und „Werten. Zur Praxis mentaler, pragmatischer und sprachlicher Orientierung“ (2019) vor.

Hörspiel und Hörbuch – Literatur als Performance
Autor: Prof. Dr. Peter Klotz

Hörspiele, Hörbücher und Podcasts sind längst nicht mehr Randerscheinungen der kulturellen Szene. Seit der Erfindung des Radios entstanden sie als neue technische und literarische Möglichkeiten: so das Hörspiel 1923 in England, 1924 in Deutschland. In den letzten Jahrzehnten ist das Hörbuch mehr und mehr hinzugekommen, während sich der Podcast zunehmend als wichtiges, auch literarisches audiophones Experimentierfeld erweist.
Hörspiele, Hörbücher und Podcasts sind gestaltete „Aufführungen“ literarischer Texte. Für ihre Zuhörerinnen und Zuhörer können sie zu intensiven Hörerlebnissen und Hörerfahrungen werden, wenn sie sich denn auf dieses Hören einlassen. Peter Klotz gibt in seiner Darstellung einen historischen Überblick und konzentriert sich dann vor allem auf jene wesentlichen Elemente, die Literatur zur Performance werden lassen: Stimme, Geräusch, Musik und Tontechnik. Anhand von Beispielen bespricht er sowohl Hörspiel und Hörbuch als auch genreverwandte Formen wie Podcasts und Poetry Slams. So entsteht eine fundierte Basis für alle, die sich mit diesen literarischen Formen und Medien befassen oder sie einfach nur besser genießen und verstehen wollen.
Das Buch ist eine motivierende Einstimmung für das anstehende 100-jährige Jubiläum des Hörspiels.

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik