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Ein Hörereignis der besonderen Art: Hörspiel und Hörbuch (Foto: Syda Productions – stock.adobe.com)
Auszug aus: „Hörspiel und Hörbuch – Literatur als Performance“

Hörspiel und Hörbuch sind mehr als gesprochene Literatur

ESV-Redaktion Philologie
09.02.2022
Wenn Sie bereits einmal in den Genuss eines Hörbuchs bzw. Hörspiels gekommen sind, wissen Sie, wie entspannend es sein kann, diesem Klangkunstwerk zu lauschen. Gerade zur kalten Jahreszeit ist es eine schöne Vorstellung, es sich mit einer warmen Tasse Tee auf der Couch gemütlich zu machen und die Ohren zu spitzen. Doch erst, wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit auf die Details der literarischen Gestaltung richten, können Sie den vertonten Text in seiner Gänze erfassen. Diesem Ansatz folgt auch unser Autor Peter Klotz, der einen wissenschaftlichen Blick auf die Inszenierung von Literatur als umfassendes Hörereignis wirft.
Lesen Sie im folgenden Auszug aus dem neu im Erich Schmidt Verlag erschienenen Band „Hörspiel und Hörbuch – Literatur als Performance“ mehr über die besondere Inszeniertheit literarischer Texte in Hörbüchern und -spielen.

5.4 Adaptionen narrativer Literatur

[…]

Wenn es denn eine ideale Erzählweise für eine Hörspiel- oder auch Hörbuchadaption gibt, dann ist es die des inneren Monologs. In einer die Psyche aufdeckenden Weise, so von Sigmund Freud bestätigt, hat dies Arthur Schnitzler getan. „Leutnant Gustl“ und „Fräulein Else“ sind wohl die bekanntesten Beispiele. Die Hörspielversion von Fräulein Else (1953) durchbricht häufiger als das schriftliche Original den inneren Monolog durch die Stimmen der anderen Protagonisten, aber nichtsdestotrotz ist das Szenische in sehr zurückhaltender Weise realisiert. Es mag sich für Puristen hier mehr als bei anderen Texten die Frage stellen, ob die Inszeniertheit nicht ein zu starker Eingriff in die Erzählung ist, da die ja auf den stream of consciousness konzentriert worden ist. Andererseits bleibt Else so sehr im Vordergrund, dass der Grundduktus Schnitzlers erhalten bleibt; das lässt sich etwa da ablesen, wo das Dialogische beständig vom reflektierenden inneren Monolog durchsetzt ist, also etwa bei der zentralen Begegnung Dorsday/Else. Die Ungeheuerlichkeit des Begehrens Dorsdays und die aufkeimende Phantasie Elses finden hier durchaus eine adäquate, wenn nicht gar steigernde Gestaltung. Wenn denn kritische Distanz gesucht wird, dann ist es das bekannte Argument der (zu?) sinnenhaften Festlegung durch die Gestaltung. Aber eine solche Haltung muss sich fragen lassen, wie wohl die vielen individuellen Leseprozesse ablaufen, deren „Verlebendigungen“, wenn es denn zu ihnen kommt, auch nicht unbedingt adäquater sein werden als die professionell gestalteten Performances. – Wie schon bei der Gestaltung von Goethes Novelle spricht auch hier Käthe Gold die zentrale Figur, und so wird deutlich, wie stark Vorstellungen bzw. Vorstellbarkeit soziokulturell und historisch bestimmt sind, auch und gerade durch den jeweiligen Zeitgeist. Andererseits sind soziale Ordnung, sittliche Normen und alles, was dazu gehört, den Heutigen so fern, dass diese akustische und stimmliche Patina nicht stören, sondern Teil des Hörtextes werden. Noch anders gesagt, eine heutige Inszenierung müsste wohl auch stärkere Eingriffe in die Handlung bzw. in die Konstellation vornehmen, wenn sie denn Gegenwartsbezüge herstellen wollte.

Nachgefragt bei Prof. Dr. Peter Klotz 11.02.2022
„Hörspiel und Hörbuch entfalten eine eigene Ästhetik durch ihren Performanz-Charakter“
Hörspiele und Hörbücher eröffnen sensibilisierten Zuhörerinnen und Zuhörern neue Welten. Seit der Erfindung des Radios entstanden zunächst Hörspiele, gefolgt von Hörbüchern, und seit einigen Jahrzehnten gewinnen auch Podcasts an Aufmerksamkeit. Diesen Phänomenen widmet sich ein neu im Erich Schmidt Verlag erschienener Band in einem historischen Querschnitt. Wir haben mit dem Autor Prof. Dr. Peter Klotz gesprochen, der sein Hauptaugenmerk auf die Faktoren legt, die Literatur zur Performance werden lassen. mehr …

Von ganz anderer Art ist, um durch die Beispiele ein wenig die Extreme auszuloten, Max Frischs Montauk in der Inszenierung von Leonhard Koppelmann (2011). Er formuliert im Booklet der CD seine Herangehensweise, die deshalb interessieren muss, weil er das Wie der Inszenierung herausstellt:

Inszeniert habe ich das Stück fast wie ein Feature, eine Dokumentation. Ein O-Ton-Stück ohne O-Töne, darin akustische Dias, Geräuschmontagen, die hyperrealistische Sounddokumente darstellen, aber eben darstellen und nicht sind. Im Kontrast dazu stehen die Klangflächen und Kompositionen des Schweizer Ausnahme-Perkussionisten Fritz Hause, als sinnliche Entsprechung des Lyrisch-Poetischen in Frischs Erzählung. […] Der in der Erzählung eingeschriebenen Mehrstimmigkeit und Zweisprachigkeit haben wir versucht in der Realisation zu entsprechen: Im Ich-Erzähler findet sich eine größere Privatheit, das Schweizerische klingt zart durch, die repräsentative Gefasstheit tritt hinter eine vermeintliche Unmittelbarkeit zurück. In der auktorialen Erzählung hingegen arbeitet Ueli Jäggi ganz aus der Weltübersicht und literarischen Gewandtheit des Autors. In den kurzen dialogischen Fetzen dann herrscht amerikanisches Englisch vor und dokumentiert die Ich-Verlorenheit des Autors an fremdem Ort und in seltsam entrücktem Handlungsbezug, manchmal fast satirisch. Der amerikanischen Sprecherin Monica Gillette gelingt es in ihrem Hörspieldebüt, die Figur der Lynn trotz ihrer skizzenhaften Anlage zu einem Zentrum zu machen und zum Kontrapunkt von Marianne, gesprochen von Susanne-Marie Wrage. Zusammen mit dem von Thomas Sarbacher gespielten Uwe Johnson hat sich hier ein Ensemble konstituiert, das sich eben auch am Dokumentarisch-Dramatischen abarbeitet. Wie geht man mit dem Dokument in der Dramatisierung um? Das haben wir uns während unserer Arbeit ständig gefragt.
(Koppelmann 2011 im Booklet-Interview der Hörspiel-CD auf Seite 3 und 4)

Die Gestaltung dieser Erzählung als „Hörspiel“ ist von besonderer Art, und zwar dadurch, wie die drei Handlungsebenen zu einem akustischen, in sich differenten Kontinuum werden. Frisch erzählt seine Begegnung mit der Journalistin Lynn in New York, in sein Bewusstsein schieben sich Momente und Auseinandersetzungen mit seiner Frau Marianne, und er arbeitet sich noch einmal an seiner Beziehung zu Ingeborg Bachmann ab. Überdies werden über den Erzähltext des Buches hinaus die Briefwechsel von Marianne Frisch und Uwe Johnson sowie die von Max Frisch und Uwe Johnson insoweit herangezogen und ins „Spiel“ integriert, als sie sowohl mit der Veröffentlichung von Montauk zu tun haben als auch die Befindlichkeit insbesondere Mariannes thematisieren. Die Geschlossenheit der Gestaltung liegt in der unaufgeregten Sprechweise aller Protagonisten, in der sehr sparsamen Verwendung von szenischen Geräuschen, in der ganz eigenen bzw. eigenartigen Verbindung von Geräusch und Musik, so dass nicht immer klar auszumachen ist, ob das nun eher Musik oder eher Geräusch ist. Diese Ton-/Geräuschcollage begleitet die Stimmung der jeweiligen Handlung, ein wenig sie verfremdend und dabei doch auch eigenständig – sie „braucht“, sie verdient eine eigene, besondere Aufmerksamkeit. Diese Collage ist relativ häufig von einem Rhythmus geprägt, den unterschiedliche Instrumente aufklingen lassen und den man nicht (nur) simplifizierend auf verrinnende Zeit projizieren kann, sondern oft auch wie ein beharrendes Klopfen, was selbst wieder Fragen aufwirft.

Ein anderes, auch wieder literarisch-performatives Wagnis ist eine Hörspielproduktion der Erzählung Ein ganzes Leben von Robert Seethaler. Das Buch ist ein markanter Erfolg geworden. Im Zusammenhang hier fügt es sich gut, dass es neben dem Buch nicht nur das Hörbuch, gelesen von Ulrich Matthes (s. u. in Kap. 6), gibt, sondern auch das Hörspiel, das es zu einer ausführlichen Besprechung in der FAZ gebracht hat. Dies ist auf seine Weise bemerkenswert, weil es zwar regelmäßig in dieser Zeitung eine Feuilletonseite „Hörbuch“ gibt, aber nicht eine Seite „Hörspiel“; wohl aber werden bei den täglichen Programmhinweisen für die Medien Fernsehen und Hörfunk die Hörspiele eigens aufgeführt. Wenn also ein eigener Feuilletontext für ein Hörspiel erscheint, dann weist dies auf ein kulturelles Ereignis hin, wie es sonst nur Filmen, Theater- und Opernaufführungen sowie Ausstellungen zukommt.

[…]

Sie sind neugierig, wie es weitergeht? Der Titel erscheint im Februar 2021 und kann hier vorbestellt werden.

Der Autor
Peter Klotz hatte die Professur für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur in Bayreuth inne. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Sprachreflexion, Grammatik, Schreiben und vor allem in der funktionalen Verbindung von Sprachwissen und Literaturrezeption sowie besonders in textbezogener Pragmatik.
Im ESV liegen von ihm schon die Bücher „Beschreiben. Grundzüge einer Deskriptologie“ (2013), „Modifizieren. Aspekte pragmatischer und sprachlicher Textgestaltung“ (2017) und „Werten. Zur Praxis mentaler, pragmatischer und sprachlicher Orientierung“ (2019) vor.

Hörspiel und Hörbuch – Literatur als Performance
Autor: Prof. Dr. Peter Klotz

Hörspiele, Hörbücher und Podcasts sind längst nicht mehr Randerscheinungen der kulturellen Szene. Seit der Erfindung des Radios entstanden sie als neue technische und literarische Möglichkeiten: so das Hörspiel 1923 in England, 1924 in Deutschland. In den letzten Jahrzehnten ist das Hörbuch mehr und mehr hinzugekommen, während sich der Podcast zunehmend als wichtiges, auch literarisches audiophones Experimentierfeld erweist.
Hörspiele, Hörbücher und Podcasts sind gestaltete „Aufführungen“ literarischer Texte. Für ihre Zuhörerinnen und Zuhörer können sie zu intensiven Hörerlebnissen und Hörerfahrungen werden, wenn sie sich denn auf dieses Hören einlassen. Peter Klotz gibt in seiner Darstellung einen historischen Überblick und konzentriert sich dann vor allem auf jene wesentlichen Elemente, die Literatur zur Performance werden lassen: Stimme, Geräusch, Musik und Tontechnik. Anhand von Beispielen bespricht er sowohl Hörspiel und Hörbuch als auch genreverwandte Formen wie Podcasts und Poetry Slams. So entsteht eine fundierte Basis für alle, die sich mit diesen literarischen Formen und Medien befassen oder sie einfach nur besser genießen und verstehen wollen.
Das Buch ist eine motivierende Einstimmung für das anstehende 100-jährige Jubiläum des Hörspiels.

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik