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Vorlesen spielt auch für den Schrifterwerb eine Rolle (Foto: Dan Race/stock.adobe.com)
Auszug aus: „Sprachdidaktik Deutsch“

Interaktives Vorlesen mit Kindern als Vorbereitung für den Deutschunterricht

ESV-Redaktion Philologie
15.08.2022
Schon im frühen Alter bemerken Kinder überall im Alltag „Spuren von Schriftlichkeit“ – sei es auf Straßenschildern, Verpackungen, auf Bildschirmen oder beim Einblick in die schuli­sche Welt älterer Geschwister. Das macht neugierig und stellt eine große Motivation dar, endlich auch lesen zu lernen. Inwiefern jedoch schon sogenannte „Vorlesegespräche“ prägend sind und unterstützend wirken können, was den folgenden Schriftspracherwerb betrifft, erklären Prof. Dr. Wolfgang Steinig und Prof. Dr. Hans-Werner Huneke unter anderem in ihrer bewährten Einführung in die „Sprachdidaktik Deutsch“. In diesem Monat erscheint bereits die sechste Auflage, stark bearbeitet und erweitert, im Erich Schmidt Verlag.
Untermauert durch zahlreiche Beispiele aus der Unterrichtspraxis vermittelt das Buch theoretisch fundierte Inhalte, Ziele und Voraussetzungen von Lernprozessen und Unterricht im Deutschen als erster und zweiter Sprache. Darüber hinaus beleuchten sie auch die geschichtlichen Hintergründe und bieten damit eine einmalige Kombination aus geschichtlicher Perspektive, Praxisbezügen und theoretischen Grundlagen in Bezug auf die Sprachdidaktik. Das Werk eignet sich zur Unterrichtsvorbereitung, in Schulpraktika, zur Bearbeitung von Forschungsfragen, als Hilfe für Klausuren und mündliche Prüfungen sowie als Kompendium und Nachschlagewerk. Durch die anschaulichen Beispiele ist es jedoch auch für Leser/-innen relevant, die sich generell für die sprachliche Entwicklung von Kindern und Jugendlichen interessieren – wie ein exklusiver Einblick in den Text zum bereits angesprochenen Thema Vorlesen demonstrieren vermag:

Bücherlesen

Kinder, die in einem Industrieland aufwachsen, begegnen der Schriftkultur nicht erst mit dem Beginn des schulischen Lesenlernens. Dehn/Hüttis-Graff (2013) schildern anschaulich, bei welchen Gelegenheiten Schriftlichkeit in das Bewusst­sein der erst gut einjährigen Katharina tritt: Sie bringt Erwachsenen eine Zeitung zum Lesen und imitiert auch selbst das Lesen, indem sie das Papier eine Zeit lang wie diese hält, sie folgt einer fiktiven Reiseroute auf einer Landkarte mit dem Finger und verfällt in einen besonderen, etwas eintönigen Singsang des ‚Erzählens‘, wenn sie ein Bilderbuch in die Hand bekommt. Im Straßenbild, auf Verpackungen aller Art, zu Hause, auf Bildschirmen, beim Einblick in die schuli­sche Welt älterer Geschwister – in vielen Bereichen ihrer Umwelt begegnen schon Kleinkinder den Spuren von Schriftlichkeit. Vielfältige literacy events (Bar­ton 2008) gehören zu ihrem Alltag. Jerome Bruner (2002) und Petra Wieler (1995 und 1997) haben gezeigt, dass vor allem das Vorlesen von Bilderbüchern und von altersgemäßen Texten eine promi­nente Rolle bei der Begegnung mit Schriftlichkeit spielt. Wenn kleinen Kindern vorgelesen wird, ist dies typischerweise in ein Gespräch eingebettet. Diese Vorle­segespräche folgen, so lässt sich beobachten, sehr häufig charakteristischen Interaktionsroutinen.
 
Ein Grundmuster für den Ablauf eines solchen Gesprächs:

1. Aufruf (Schau!)
2. Frage (Was ist das?)
3. Bezeichnung (Das ist ein X.)
4. Rückmeldung (Ja! Du hast Recht!)                                           (nach Bruner 2002)

Solche Interaktionsroutinen (Bruner spricht auch von Formaten einer Handlung) sind wie ein Geländer oder ein Gerüst, das von Vorlesenden in unterschiedlicher Weise genutzt wird. Manche, so haben Schneider (1994) und Wieler (1997) beobachtet, weichen kaum von der Textvorlage ab, unterbrechen ihr Vorle­sen selten mit Bemerkungen und ermöglichen kaum kommentierende Gesprächs­einschübe. Sie nehmen wenig Rücksicht auf Zwischenfragen und den Verstehens­horizont des Kindes. Andere hingegen passen sich unterstützend und flexibel an die Verstehensbemühungen des Kindes an. Dazu ein Beispiel zu dieser Form inter­aktiven Vorlesens: Eine 15-jährige Gymnasiastin (G) liest einem 5-jährigen Mäd­chen (M) aus dem Kinderbuch „Irgendwie Anders“ von Cave/Riddel (2010) vor.

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(Hinweise zum Verständnis des Transkriptes: * – kurze Pause; ** – etwas längere Pause; der Vorlesetext ist kursiv.)
(1)     G:   also guck mal * wir haben hier so’n buch mitgebracht * und das heißt
                irgendwie
(2)            anders **
(3)     M:   hm **
(4)     G:   und das geht um den kleinen kerl hier ** also da lebt er irgendwo *
(5)     M:   ich glaub hier hinten. [zeigt]
(6)     G:   ja das ist möglich * mal gucken ** also da sitzt er auf seinem sessel *
(7)     M:   komischer sessel
(8)     G:   gell * mit so flicken * ist schon ganz alt *
(9)     M:   der ist ganz komisch *
(10)   G:   ja da wohnt er **
(11)   M:   da da is da ist dessen kind da * da wohnt vielleicht jemand anders *
(12)   G:   ja genau * vielleicht ** wolln mal schaun ** also hier steht
               auf einem hohen berg wo der wind pfiff lebte ganz allein und ohne einen
               einzigen
freund irgendwie anders **
(13)   M:   heißt der?
(14)   G:   ich glaube * ja hm *
(15)   M:   so heißt der glaub ich
(16)   G:   hm [zustimmend] also der wohnt da oben * hier ist er dann in seiner
                wohnung ** da is
(17)         der sessel * 
                er wusste dass er irgendwie anders war denn alle fanden das * wenn er
                sich zu ihnen setzen wollte oder mit ihnen spazieren gehen oder mit
                ihnen spielen wollte dann sagten sie immer *
(18)   G:   was können die wohl sagen * guck mal * wenn die da so stehen? **
(19)   M:   die magen den vielleicht nicht weil er so komisch aussieht
(20)   G:   ja **
                tut uns leid du bist nicht wie wir * du bist irgendwie anders * du gehörst
                nicht dazu *
(21)   M:   ja ich glaub auch * die mögen den nicht […]

Die Jugendliche ist bemüht, das Kind zu aktivieren, und fordert es mehrfach zu Vermutungen und Deutungen auf. Sie geht auf die Annahmen des Kindes in den Zeilen (5), (11), (13) und (19) ein, sie kommentiert aber zunächst nur zurückhal­tend aus eigenem Wissen und bestätigt erst nach der Lektüre. Sie unterstützt das Kind also beim Aufbau von Sinnerwartungen, in die Beobachtungen an den Bil­dern und am Text ebenso einfließen können wie eigene Lebenserfahrungen, hier etwa in taktvoller und zurückhaltender Weise eigene Erfahrungen mit Ausgren­zung. Die eigentliche Textlektüre kann so als funktional erlebt werden, weil sie zur Vereindeutigung beiträgt. Kinder können in solchen Situationen Erfahrungen mit der symbolgestützten Vermittlung von gedanklichen Inhalten im Medium Text machen. Sie werden dazu aufgefordert und darin unterstützt, diese Inhalte an ihre individuellen Wis­sens- und Erfahrungsräume anzuschließen. Dabei können sie beispielsweise ler­nen, zwischen zwei Bewusstseinsebenen zu unterscheiden, der „Landschaft der Handlung“ und der „Landschaft des Bewusstseins“. Astington (nach der Überset­zung von Wieler 1995) zeigt dies am Beispiel des Märchens „Des Kaisers neue Kleider“:

In der einen Landschaft arbeiten die Weber fleißig; der Kaiser und seine Höflinge beobach­ten sie. In der anderen Landschaft geben die Weber nur vor, fleißig zu arbeiten; jeder der Beobachter weiß von sich selbst, dass er nichts sieht, aber jeder von ihnen glaubt zugleich, die anderen sähen etwas Wundervolles […]. Beide Landschaften werden im Märchen geschildert. Aber die zweite Landschaft ist bereits eine Repräsentation oder Vorstellung; es ist die Vorstellung der fiktiven Figuren von der fiktiven Wirklichkeit. Wer das Märchen verstehen oder genießen will, muss beide ‚Landschaften‘, die der ‚Handlung‘ und die des ‚Bewusstseins‘, gleichzeitig verstehen. Genau das ist es, was Kinder frühestens im Alter von vier Jahren zu leisten vermögen.

Vorlesegespräche sind geeignet, Kindern immer komplexere Merkmale schriftge­stützter Kommunikation zu vermitteln. Die geschilderten Beispiele zeigen, dass die frühen Erfahrungen von Kindern mit Schriftlichkeit zu einem erheblichen Teil ihren Ort in der Familie haben. Schriftlichkeit und der Gebrauch davon haben aber in Familien eine ganz unterschiedliche Bedeutung, z. B. in Abhängig­keit von der Schichtzugehörigkeit. Das so hilfreiche flexible Gerüst im Vorlesege­spräch scheint z. B. typisch für die Mittelschicht zu sein. Bezeichnenderweise ist S im obigen Beispiel Schülerin eines Gymnasiums. Dass Kinder aus schriftfernen Elternhäusern mit weniger günstigen Voraussetzungen in den schulischen Schrifterwerb gehen, ist vor diesem Hintergrund plausibel. Auch wenn umfas­sende empirische Belege für solch einen Zusammenhang noch ausstehen (Dehn/Sjölin 1996), spricht doch alles dafür, hier eine kompensatorische Aufgabe von Kindergarten und Schule zu sehen. Der Unterricht darf sich nicht auf die ‚technischen‘ Teilaspekte des Lesens beschränken, er muss sich auf den Umgang mit Schriftlichkeit im umfassenden Sinn beziehen, und zwar im Interesse aller Kinder.

Die Herausgeber
Wolfgang Steinig ist emeritierter Professor für Germanistik/Sprachdidaktik an der Universität Siegen. Zuvor Lektor in einem Schulbuchverlag und Lehrer an beruflichen Schulen in Baden-Württemberg. Lehrtätigkeit an Universitäten in Wales (Bangor), den Niederlanden (Twente/Enschede), Griechenland (Saloniki), der LMU in München und an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Forschungen zur Soziolinguistik, zu Deutsch als Fremdsprache, zum Schreiben und zur Sprachevolution.

Hans-Werner Huneke: Studium der Fächer Deutsch und Geschichte, Referendariat am Gymnasium und an der Hauptschule, Lehrer (Primarstufe, Sekundarstufen I und II), Dozent an der Universität Coimbra (Portugal) und an den Pädagogischen Hochschulen Heidelberg und Ludwigsburg, seit 2003 Professor für deutsche Sprache und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg, 2015–2022 Rektor der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Arbeitsgebiete: Sprachdidaktik, Schriftspracherwerb, Didaktik, Deutsch als Fremdsprache.


Sprachdidaktik Deutsch
Herausgegeben von: Wolfgang Steinig und Hans-Werner Huneke

Die seit über 20 Jahren bewährte Einführung in die Sprachdidaktik erscheint in stark überarbeiteter und erweiterter sechster Auflage. Die Neuauflage wurde vor allem in Passagen zum digitalen Lernen, zum Zuhören und zum forschenden Lernen erweitert.
Das Buch vermittelt Inhalte, Ziele und Voraussetzungen von Lernprozessen und Unterricht im Deutschen als erster und zweiter Sprache. Im Zentrum stehen die Kernbereiche mündlicher und schriftlicher Kommunikation sowie Mehrsprachigkeit, Grammatik und Sprachreflexion. Dabei werden unterschiedliche wissenschaftliche Positionen erörtert, auch aus geschichtlicher Perspektive.
Das Buch führt nicht nur in das Studium für das Lehramt Deutsch ein; es bietet darüber hinaus Unterstützung bei der Unterrichtsvorbereitung, in Schulpraktika, zur Bearbeitung von Forschungsfragen, als Hilfe für Klausuren und mündliche Prüfungen sowie als Kompendium und Nachschlagewerk. Die Leserinnen und Leser erhalten eine theoretische Fundierung, die mit zahlreichen Beispielen aus der Unterrichtspraxis und der sprachlichen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen veranschaulicht wird. Grundlagen zur Unterrichtsplanung, eine Übersicht hilfreicher Arbeitsmaterialien, Lektüreempfehlungen nach jedem Kapitel, ein Glossar und ein Sachindex machen das Buch zu einem nützlichen Begleiter für das gesamte Studium und Referendariat in allen Schularten, aber auch für Deutsch-Lehrkräfte, die ihre didaktischen und methodischen Positionen am aktuellen fachlichen Diskussionsstand überprüfen möchten.

„Dass dieser ‚Klassiker‘ nun schon in der fünften Auflage vorliegt, beweist den Erfolg des sprachdidaktischen Einführungskonzepts von Huneke und Steinig. Dieser Erfolg ist neben der profunden Fachkenntnis, die stets den Praxisbezug im Blick hat, auch der guten Lesbarkeit des Textes zu verdanken, die andere Sprach-Didaktiken absurderweise oft schmerzlich vermissen lassen.“

Andrea Bies in: Information Deutsch als Fremdsprache (Info DaF), 44 (2–3)/2017

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik