Interaktives Vorlesen mit Kindern als Vorbereitung für den Deutschunterricht
Bücherlesen
Kinder, die in einem Industrieland aufwachsen, begegnen der Schriftkultur nicht erst mit dem Beginn des schulischen Lesenlernens. Dehn/Hüttis-Graff (2013) schildern anschaulich, bei welchen Gelegenheiten Schriftlichkeit in das Bewusstsein der erst gut einjährigen Katharina tritt: Sie bringt Erwachsenen eine Zeitung zum Lesen und imitiert auch selbst das Lesen, indem sie das Papier eine Zeit lang wie diese hält, sie folgt einer fiktiven Reiseroute auf einer Landkarte mit dem Finger und verfällt in einen besonderen, etwas eintönigen Singsang des ‚Erzählens‘, wenn sie ein Bilderbuch in die Hand bekommt. Im Straßenbild, auf Verpackungen aller Art, zu Hause, auf Bildschirmen, beim Einblick in die schulische Welt älterer Geschwister – in vielen Bereichen ihrer Umwelt begegnen schon Kleinkinder den Spuren von Schriftlichkeit. Vielfältige literacy events (Barton 2008) gehören zu ihrem Alltag. Jerome Bruner (2002) und Petra Wieler (1995 und 1997) haben gezeigt, dass vor allem das Vorlesen von Bilderbüchern und von altersgemäßen Texten eine prominente Rolle bei der Begegnung mit Schriftlichkeit spielt. Wenn kleinen Kindern vorgelesen wird, ist dies typischerweise in ein Gespräch eingebettet. Diese Vorlesegespräche folgen, so lässt sich beobachten, sehr häufig charakteristischen Interaktionsroutinen.
Ein Grundmuster für den Ablauf eines solchen Gesprächs:
1. Aufruf (Schau!)
2. Frage (Was ist das?)
3. Bezeichnung (Das ist ein X.)
4. Rückmeldung (Ja! Du hast Recht!) (nach Bruner 2002)
Solche Interaktionsroutinen (Bruner spricht auch von Formaten einer Handlung) sind wie ein Geländer oder ein Gerüst, das von Vorlesenden in unterschiedlicher Weise genutzt wird. Manche, so haben Schneider (1994) und Wieler (1997) beobachtet, weichen kaum von der Textvorlage ab, unterbrechen ihr Vorlesen selten mit Bemerkungen und ermöglichen kaum kommentierende Gesprächseinschübe. Sie nehmen wenig Rücksicht auf Zwischenfragen und den Verstehenshorizont des Kindes. Andere hingegen passen sich unterstützend und flexibel an die Verstehensbemühungen des Kindes an. Dazu ein Beispiel zu dieser Form interaktiven Vorlesens: Eine 15-jährige Gymnasiastin (G) liest einem 5-jährigen Mädchen (M) aus dem Kinderbuch „Irgendwie Anders“ von Cave/Riddel (2010) vor.
Nachgefragt bei Prof. Dr. Hans-Werner Huneke und Prof. Dr. Wolfgang Steinig | 24.08.2022 |
„Mit Angeboten zum digitalen Fernunterricht während der Pandemie hat sich der Umgang mit Computer und Internet deutlich verändert“ | |
„Wenn es um deutsche Sprache im Unterricht geht, ist man mit einer besonderen Fragestellung konfrontiert: Man glaubt, seine Sprache zu kennen, denn Sprache ist das Medium, in dem wir uns ständig bewegen. Wir sind mit ihr so vertraut wie ein Fisch mit dem Wasser. Aber genau deshalb ist es nicht leicht, sich auf Sprache bewusst einzulassen und sich mit ihr kritisch auseinanderzusetzen“, schreiben Wolfgang Steinig und Hans-Werner Huneke in ihrem Buch „Sprachdidaktik Deutsch“, das in diesem Monat in der 6. Auflage im Erich Schmidt Verlag erscheint. mehr … |
(Hinweise zum Verständnis des Transkriptes: * – kurze Pause; ** – etwas längere Pause; der Vorlesetext ist kursiv.)
(1) G: also guck mal * wir haben hier so’n buch mitgebracht * und das heißt irgendwie |
(2) anders ** |
(3) M: hm ** |
(4) G: und das geht um den kleinen kerl hier ** also da lebt er irgendwo * |
(5) M: ich glaub hier hinten. [zeigt] |
(6) G: ja das ist möglich * mal gucken ** also da sitzt er auf seinem sessel * |
(7) M: komischer sessel |
(8) G: gell * mit so flicken * ist schon ganz alt * |
(9) M: der ist ganz komisch * |
(10) G: ja da wohnt er ** |
(11) M: da da is da ist dessen kind da * da wohnt vielleicht jemand anders * |
(12) G: ja genau * vielleicht ** wolln mal schaun ** also hier steht auf einem hohen berg wo der wind pfiff lebte ganz allein und ohne einen einzigen freund irgendwie anders ** |
(13) M: heißt der? |
(14) G: ich glaube * ja hm * |
(15) M: so heißt der glaub ich |
(16) G: hm [zustimmend] also der wohnt da oben * hier ist er dann in seiner wohnung ** da is |
(17) der sessel * er wusste dass er irgendwie anders war denn alle fanden das * wenn er sich zu ihnen setzen wollte oder mit ihnen spazieren gehen oder mit ihnen spielen wollte dann sagten sie immer * |
(18) G: was können die wohl sagen * guck mal * wenn die da so stehen? ** |
(19) M: die magen den vielleicht nicht weil er so komisch aussieht |
(20) G: ja ** tut uns leid du bist nicht wie wir * du bist irgendwie anders * du gehörst nicht dazu * |
(21) M: ja ich glaub auch * die mögen den nicht […] |
Die Jugendliche ist bemüht, das Kind zu aktivieren, und fordert es mehrfach zu Vermutungen und Deutungen auf. Sie geht auf die Annahmen des Kindes in den Zeilen (5), (11), (13) und (19) ein, sie kommentiert aber zunächst nur zurückhaltend aus eigenem Wissen und bestätigt erst nach der Lektüre. Sie unterstützt das Kind also beim Aufbau von Sinnerwartungen, in die Beobachtungen an den Bildern und am Text ebenso einfließen können wie eigene Lebenserfahrungen, hier etwa in taktvoller und zurückhaltender Weise eigene Erfahrungen mit Ausgrenzung. Die eigentliche Textlektüre kann so als funktional erlebt werden, weil sie zur Vereindeutigung beiträgt. Kinder können in solchen Situationen Erfahrungen mit der symbolgestützten Vermittlung von gedanklichen Inhalten im Medium Text machen. Sie werden dazu aufgefordert und darin unterstützt, diese Inhalte an ihre individuellen Wissens- und Erfahrungsräume anzuschließen. Dabei können sie beispielsweise lernen, zwischen zwei Bewusstseinsebenen zu unterscheiden, der „Landschaft der Handlung“ und der „Landschaft des Bewusstseins“. Astington (nach der Übersetzung von Wieler 1995) zeigt dies am Beispiel des Märchens „Des Kaisers neue Kleider“:
In der einen Landschaft arbeiten die Weber fleißig; der Kaiser und seine Höflinge beobachten sie. In der anderen Landschaft geben die Weber nur vor, fleißig zu arbeiten; jeder der Beobachter weiß von sich selbst, dass er nichts sieht, aber jeder von ihnen glaubt zugleich, die anderen sähen etwas Wundervolles […]. Beide Landschaften werden im Märchen geschildert. Aber die zweite Landschaft ist bereits eine Repräsentation oder Vorstellung; es ist die Vorstellung der fiktiven Figuren von der fiktiven Wirklichkeit. Wer das Märchen verstehen oder genießen will, muss beide ‚Landschaften‘, die der ‚Handlung‘ und die des ‚Bewusstseins‘, gleichzeitig verstehen. Genau das ist es, was Kinder frühestens im Alter von vier Jahren zu leisten vermögen.
Vorlesegespräche sind geeignet, Kindern immer komplexere Merkmale schriftgestützter Kommunikation zu vermitteln. Die geschilderten Beispiele zeigen, dass die frühen Erfahrungen von Kindern mit Schriftlichkeit zu einem erheblichen Teil ihren Ort in der Familie haben. Schriftlichkeit und der Gebrauch davon haben aber in Familien eine ganz unterschiedliche Bedeutung, z. B. in Abhängigkeit von der Schichtzugehörigkeit. Das so hilfreiche flexible Gerüst im Vorlesegespräch scheint z. B. typisch für die Mittelschicht zu sein. Bezeichnenderweise ist S im obigen Beispiel Schülerin eines Gymnasiums. Dass Kinder aus schriftfernen Elternhäusern mit weniger günstigen Voraussetzungen in den schulischen Schrifterwerb gehen, ist vor diesem Hintergrund plausibel. Auch wenn umfassende empirische Belege für solch einen Zusammenhang noch ausstehen (Dehn/Sjölin 1996), spricht doch alles dafür, hier eine kompensatorische Aufgabe von Kindergarten und Schule zu sehen. Der Unterricht darf sich nicht auf die ‚technischen‘ Teilaspekte des Lesens beschränken, er muss sich auf den Umgang mit Schriftlichkeit im umfassenden Sinn beziehen, und zwar im Interesse aller Kinder.
Die Herausgeber |
Wolfgang Steinig ist emeritierter Professor für Germanistik/Sprachdidaktik an der Universität Siegen. Zuvor Lektor in einem Schulbuchverlag und Lehrer an beruflichen Schulen in Baden-Württemberg. Lehrtätigkeit an Universitäten in Wales (Bangor), den Niederlanden (Twente/Enschede), Griechenland (Saloniki), der LMU in München und an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Forschungen zur Soziolinguistik, zu Deutsch als Fremdsprache, zum Schreiben und zur Sprachevolution. Hans-Werner Huneke: Studium der Fächer Deutsch und Geschichte, Referendariat am Gymnasium und an der Hauptschule, Lehrer (Primarstufe, Sekundarstufen I und II), Dozent an der Universität Coimbra (Portugal) und an den Pädagogischen Hochschulen Heidelberg und Ludwigsburg, seit 2003 Professor für deutsche Sprache und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg, 2015–2022 Rektor der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Arbeitsgebiete: Sprachdidaktik, Schriftspracherwerb, Didaktik, Deutsch als Fremdsprache. |
Sprachdidaktik Deutsch Herausgegeben von: Wolfgang Steinig und Hans-Werner Huneke Die seit über 20 Jahren bewährte Einführung in die Sprachdidaktik erscheint in stark überarbeiteter und erweiterter sechster Auflage. Die Neuauflage wurde vor allem in Passagen zum digitalen Lernen, zum Zuhören und zum forschenden Lernen erweitert. |
Programmbereich: Germanistik und Komparatistik