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Dipl.-Geograph Julian Reif über aktuelle Trends und Entwicklungen im Tourismus. (Foto: FH Westküste)
Nachgefragt bei Julian Reif

Julian Reif: „Touristen sind immer die anderen“

(ESV-Redaktion/ConsultingBay)
04.03.2020
Kaum etwas sorgt unter Freunden, Kollegen und Bekannten für so viel Gesprächsstoff wie das Thema Reisen und Urlaub.
Im Jahr 2019 wurden von den Deutschen knapp 71 Millionen Urlaubsreisen (Dauer von 5 Tagen oder länger, Quelle: FUR Reiseanalyse) unternommen. Insgesamt gaben sie dabei rund 73,1 Milliarden Euro für ihre Urlaubsreisen aus. Die ESV-Redaktion sprach darüber mit Julian Reif, Herausgeber des Buches „Tourismus und Gesellschaft, Kontakte – Konflikte - Konzepte“, das neu in der Reihe Schriften zu Tourismus und Freizeit erschienen ist.

Herr Reif, wie hat sich die gesellschaftliche Relevanz des Reisens in den letzten Jahren und Jahrzehnten verändert?

Julian Reif: Urlauber erzählen gerne von ihren Erlebnissen zu Hause, und gleichsam sind Empfehlungen von Verwandten und Bekannten – trotz Internet – eine sehr wichtige Informationsquelle für den eigenen Urlaub. Es ist also kein Wunder, dass das Thema einen großen Gesprächsstoff liefert.

In der Gesellschaft wurde Reisen häufig mit einem gewissen Prestige verbunden, so zum Beispiel bei der Grand Tour des Adels im 18. Jahrhundert. Auch wenn heutzutage im Gegensatz zu damals die große Mehrheit der Bevölkerung reisen kann und es auch tut, setzt sich dies fort. Mobilität wird in unserer Gesellschaft nach wie vor überwiegend positiv konnotiert – besonders wenn es um außergewöhnliches und häufiges Reisen geht. Gleichwohl zeichnet sich vor dem Hintergrund der mobilitätsbedingten ökologischen Auswirkungen ein Gegentrend ab. So werden etwa Fernreisen oder häufige Flugreisen zunehmend auch ambivalent betrachtet.

Soziale Distinktion durch Reisen

Aus Sicht der Reisenden nimmt das Reisen noch eine andere Rolle ein: die der sozialen Distinktion. Urlauber versuchen sich durch ihre Reiseziele und Urlaubsart zu profilieren und andere Urlauber von sich zu distanzieren. Wenn ich meinem Gesprächspartner erzähle, dass ich einen zweiwöchigen Urlaub auf den Malediven verbracht habe, darf ich nach wie vor mit einer gewissen Anerkennung rechnen. Auch während des Urlaubs spielt dieser Wunsch nach Distinktion eine starke Rolle: Touristen sind immer die anderen. Erstaunlicherweise – so unsere Forschungsergebnisse – ist jedoch das Image des Touristen in Deutschland besser als gedacht und dies trotz der medialen Overtourism-Debatte. Diese Haltung ist gleichwohl auch weiterhin den gesellschaftlichen Veränderungen unterworfen.

Was gibt es für Urlaubertypen und wie haben die sich verändert?

Julian Reif: Natürlich spielt seit Aufkommen des Massentourismus in den 60er- und 70er-Jahren der Pauschalurlaub eine besondere Rolle. Immer noch 45 Prozent der längeren Urlaubsreisen der Deutschen im Jahr 2019 werden als Pauschal- bzw. Bausteinreise gebucht. Gleichwohl gelten eine Diversifizierung der Nachfrage sowie Spezialisierungen auf der Angebotsseite als prägend für den modernen Tourismus. Die spätestens im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts stattfindende Pluralisierung der Gesellschaft spiegelt sich natürlich auch im Tourismus wider: Neue Angebote kommen hinzu und Nischen-Interessen werden bedient. Ehemals homogenere Nachfrager differenzieren zunehmend in neue Segmente und Fragmente. Abenteuertourismus oder LGBTQ-Tourismus können hier als nur zwei Beispiele genannt werden. Daneben entsteht ein hybrider Tourist, der sich im Zeitverlauf für unterschiedliche Reisestile und Urlaubsarten interessiert und diese auch gerne ausprobiert. Verstärkt wird dieses Phänomen durch den Trend hin zu Kurz-Urlaubsreisen.

Einerseits ist Tourismus weltweit für viele Orte eine wichtige Einkommensquelle, andererseits führt die Übernutzung zu sozialen und ökologischen Konflikten. Welche Herausforderungen und Lösungskonzepte gibt es?

Julian Reif: Der Tourismus ist in der Tat eine wichtige Einkommensquelle. Er trägt zum Beispiel bundesweit mit einem direkten Anteil von knapp 4 Prozent zur gesamten Bruttowertschöpfung des Landes bei.

Tourismus hat Bruttowertschöpfung wie Maschinenbau

Damit ist die Tourismusbranche vergleichbar mit dem Maschinenbau in Deutschland. Das wird oft unterschätzt. Es darf aber auch nicht verschwiegen werden, dass es dort, wo der Tourismus sich stark konzentriert, beispielsweise auf manchen Inseln oder in Städten, auch negative ökonomische Wirkungen geben kann. Zu nennen sind hier zum Beispiel Preissteigerungen.

Overtourism zielt auch auf soziale Aspekte und urbane Räume ab

Die ökologischen Wirkungen des Tourismus werden bereits seit langer Zeit diskutiert. Neu ist lediglich die Dominanz im Diskurs auf die Auswirkungen auf das Klima, was jedoch nicht zwingend mit dem Tourismus zusammenhängt, sondern mit der gesamtgesellschaftlichen Debatte zu diesem Thema einhergeht. Der soziale Aspekt in der Overtourism-Diskussion hingegen ist neu und auch der starke Fokus auf die urbanen Räume. In der Vergangenheit ging es dabei eher um die sozialen Aspekte des Tourismus in Entwicklungsländern.

Was für Dubrovnik gut ist, muss nicht auch für Venedig gelten

Es gibt also die Herausforderung, die ökonomischen, ökologischen und sozialen Effekte des Tourismus in Einklang zu bringen – den Tourismus folglich nachhaltiger zu gestalten. Dabei ist es von zentraler Bedeutung, sich die Situation vor Ort anzusehen. Eine für alle Destinationen gültige Lösung ist aufgrund der stark unterschiedlichen Problemlagen nicht möglich. Wichtig ist es, gerade in Städten Lösungen zu finden, die den Besucherdruck zeitlich und räumlich entzerren. Dies kann etwa durch Regulation geschehen, in dem wie zum Beispiel in Dubrovnik nur eine begrenzte Anzahl an Kreuzfahrtschiffen pro Tag anlegen darf. Aber eine Lösung, die für Dubrovnik gut ist, muss nicht auch für Venedig, Barcelona und Berlin gelten. Es ist also davon auszugehen, dass spezifische lokale Rahmenbedingungen zu unterschiedlichen, jeweils vor Ort zu präferierenden Maßnahmen der Partizipation der Einwohner und des Managements führen. Partizipative Ansätze sind jedoch überall als Lösungsansatz anzustreben.

Der Herausgeber

Julian Reif, Dipl.-Geogr., ist seit 2012 Projektleiter im Institut für Management und Tourismus (IMT) der FH Westküste. Von 2012 bis 2015 war er an der FH Westküste zudem Dozent u. a. für Destinationsmanagement, Tourismusmarktforschung und Methodenlehre. Zuvor war er von 2009 bis 2011 als Travel Consultant tätig. Zurzeit promoviert er am Geographischen Institut der Universität Bonn zur digitalen Erfassung von touristischen Aktionsräumen.

Auch Deutschland ist ein beliebtes Reiseziel. Wie hat sich der deutsche Reisemarkt für Touristen aus dem Ausland in den letzten Jahren verändert? Wo liegen hier die Herausforderungen?

Julian Reif: Das weltweite Wachstum im Tourismus wird einerseits durch Prozesse der Globalisierung beeinflusst und gleichzeitig ist der Tourismus natürlich selbst ein Globalisierungstreiber. Diese Dynamik hat auch einen entsprechenden Einfluss auf den bundesdeutschen Tourismus, wobei der Auslandsmarkt oft als Wachstumstreiber im Deutschlandtourismus beschrieben wird. Die überdurchschnittlichen Wachstumsraten von Gästen und Übernachtungen aus dem Ausland sprechen dabei eine deutliche Sprache: So hat sich zum Beispiel das amtlich erfasste Übernachtungsvolumen aus dem Ausland in den letzten zehn Jahren um 64 Prozent gesteigert, während die Übernachtungen von Gästen aus dem Inland seit 2009 um 29 Prozent gestiegen sind.

Deutsche Destinationen für internationale Gäste fit machen

Eine bedeutende Rolle spielt hierbei auch der Geschäftstourismus. Die Bedeutung des Messeplatzes Deutschland im globalen Kontext zeigt sich bspw. dadurch, dass etwa zwei Drittel der Welt-Leitmessen in Deutschland stattfinden. Bei aller Wachstumseuphorie darf aber nicht außer Acht gelassen werden, dass der Inlandsmarkt nach wie vor mit 82 Prozent der Übernachtungen der größte Markt ist und dies auch zukünftig bleiben wird. Für die Reiseziele besteht die Herausforderung, dass die Destinationen für den internationalen Gast fit gemacht werden. Kostenfreier WLAN-Zugang, eine bargeldlose Bezahlung mit dem Smartphone, englische Sprache und Erreichbarkeit sind nur einige Schlagworte und Herausforderungen, die es hier zu bewältigen gilt.

Das Thema Nachhaltiger Tourismus war für über 30 Prozent der ITB-Fachbesucher im Jahr 2019 von Interesse, jedoch nur für 19 Prozent der Privatbesucher. Das Thema gewann im laufenden Jahr durch die FFF-Bewegung sowie das Klimapaket der Bundesregierung weitere Bedeutung. Wie relevant ist das Thema für das tatsächliche Reiseverhalten der Menschen?

Julian Reif: Wir wissen zum Beispiel, dass ein hohes Interesse bei der Nachfrage besteht, den Urlaub nachhaltig zu gestalten. Für das Jahr 2019 sagen 61 Prozent der deutschsprachigen Bevölkerung über 14 Jahre, dass ihre Urlaubsreise möglichst sozial verträglich, ressourcenschonend und/oder umweltfreundlich sein soll. Allerdings liegen Wunsch und Wirklichkeit stark auseinander. So wissen wir auch, dass bei lediglich 4 Prozent der Urlaubsreisen und 8 Prozent der Kurz-Urlaubsreisen im Jahr 2018 die Nachhaltigkeit einen Ausschlag bei der Buchung bei sonst gleichwertigen Angeboten gegeben hat und 2019 nur bei 3 Prozent der Urlaubsreisen für die An- oder Abreise eine CO2-Kompensation entrichtet wurde. In der Wissenschaft wird dieses Phänomen als „Attitude Behavior Gap“ bezeichnet, also die Diskrepanz zwischen der Einstellung und dem tatsächlichen Verhalten.

Geschäftsreisende reisen eher nachhaltig als Privatreisende

Interessanterweise zeigen unsere Forschungsergebnisse zu den Geschäftsreisen der Deutschen, dass das Thema bei Business-Reisen offenbar eine andere Rolle spielt. Hier liegen diese Werte deutlich höher: Bei 12 Prozent der Geschäftsreisen hat Nachhaltigkeit eine entscheidende Rolle gespielt. Unsere Hypothese ist, dass wenn die Reise nicht selbst bezahlt werden muss, die Bereitschaft höher ist, auch nachhaltige Angebote zu nutzen. Um diesem Problem, dass die Menschen zwar nachhaltig reisen möchten, dies aber nicht umsetzen, zu begegnen, muss in der Kommunikation etwas geändert werden, zum Beispiel durch gezielte Ansprache der Kunden und Profilierung. Der Kollege Edgar Kreilkamp hat hierzu in unserem Buch „Tourismus und Gesellschaft“ einen interessanten Artikel geschrieben.

Lesen Sie den zweiten Teil des Interviews auf ConsultingBay.

Tourismus und Gesellschaft

Herausgegeben von: Julian Reif, Prof. Dr. Bernd Eisenstein

Tourismus ist immer auch ein Spiegel der Gesellschaft. Politische, wirtschaftliche, ökologische oder technische Einflüsse führen zu fortwährenden Veränderungen von Reisemotivationen, Reiseverhalten, Erwartungen und Bewertungsmaßstäben.

Die vielgestaltigen Interdependenzen zwischen Tourismus und Gesellschaft betrachtet dieser interdisziplinäre Band von Julian Reif und Bernd Eisenstein auf drei ineinandergreifenden Ebenen:

  • Kontakte und Interaktionen zwischen touristischen Akteuren, die durch Mobilität und Digitalisierung vielseitiger, konkreter und schneller werden
  • Konflikte, z. B. durch soziale Übernutzung von Lebens- und Tourismusräumen
  • Konzepte für ein strategisches Destinationsmanagement, das Tourismusangebote nachhaltig, raum- und kultursensibel ausgestaltet

Ein facettenreiches Kaleidoskop, das aktuelle sozial-, wirtschafts- und tourismuswissenschaftliche Entwicklungen und Lösungsansätze multiperspektivisch aufbereitet und analysiert.


(ESV, uw)

Programmbereich: Management und Wirtschaft