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Belegen mit ihrem Sammelband die Bedeutung Frankreichs für die internationale Filmgeschichte: Christian Wehr, Christian von Tschilschke und Ralf Junkerjürgen (v. l. n. r.) (Foto: Privat)
Nachgefragt bei Prof. Dr. Ralf Junkerjürgen, Prof. Dr. Christian von Tschilschke und Prof. Dr. Christian Wehr

Kino als „Ort des kollektiven Erlebens“

ESV-Redaktion Philologie
24.09.2021
Eine diachrone Betrachtung der französischen Filmgeschichte von der Stummfilmzeit bis ins 21. Jahrhundert offenbart nicht nur technische Fortschritte. Sie bietet ebenso einen Einblick in die sozialgeschichtliche Entwicklung eines Landes, das Kino, wie wir es heute kennen, erst ermöglicht hat. Im Erich Schmidt Verlag erscheint nun ein Sammelband, in dem sich 35 Autorinnen und Autoren mit den „Klassikern des französischen Kinos in Einzeldarstellungen“ auseinandersetzen. Wir haben mit den Herausgebern Prof. Dr. Ralf Junkerjürgen, Prof. Dr. Christian von Tschilschke und Prof. Dr. Christian Wehr gesprochen.
Lieber Herr Junkerjürgen, lieber Herr von Tschilschke, lieber Herr Wehr, Sie haben mit Ihrem Band die erste Überblicksdarstellung des französischen Kinos in deutscher Sprache überhaupt veröffentlicht. Eines Ihrer Ziele war es dabei, die Filme im internationalen Kontext zu verorten. Welche Sonderstellung nimmt Frankreich hierbei ein?

Ralf Junkerjürgen, Christian von Tschilschke und Christian Wehr: Die herausragende – vermutlich kann man auch sagen einzigartige – Bedeutung der Filmnation Frankreich für die Geschichte des Kinos lässt sich an verschiedenen Aspekten festmachen. Zum einen beginnt mit den Gebrüdern Lumière die technische Reproduktion und öffentliche Vorführung bewegter Bilder überhaupt. Weiterhin stammen noch aus der Stummfilmzeit durch Regisseure wie Georges Méliès eine Reihe technischer Erfindungen und Innovationen, welche die Kinogeschichte über Jahre und Jahrzehnte prägten. Nachfolgende Epochen des Tonfilms wie der Poetische Realismus oder die Nouvelle Vague waren in ästhetischer wie inhaltlicher Hinsicht stilprägend und sind es bis heute. Insofern ist eine Grundkenntnis des französischen Kinos unverzichtbar, um auch neuere und neueste Tendenzen des internationalen Filmes besser zu verstehen. Der besondere Rang und die anhaltend hohe Qualität hat sicher auch mit dem einzigartigen Produktions- und Förderungssystem sowie der exzellenten Ausbildung der Schauspielerinnen und Schauspieler zu tun. Nicht zuletzt ist hervorzuheben, dass in Frankreich maßgebliche Beiträge zur Filmtheorie und -philosophie entstanden, die in den Beiträgen des Bandes immer wieder zur Sprache kommen.

Die Pionierarbeit des französischen Kinos prägt die Filmlandschaft bis heute. Nach welchen Kriterien haben Sie die Wahl der besprochenen Werke getroffen?

Ralf Junkerjürgen, Christian von Tschilschke und Christian Wehr: Die Auswahl der einzelnen Filme ist sicher der heikelste Punkt des ganzen Unternehmens. Das Ergebnis ist immer ein Kompromiss und bis zu einem gewissen Grad diskutabel. Einige Leserinnen und Leser werden zweifellos den einen Regisseur oder die andere Regisseurin vermissen oder hätten vielleicht statt des jeweils ausgewählten Films einen anderen bevorzugt. Natürlich war für uns die filmhistorische Bedeutung der einzelnen Werke entscheidend, also die Frage, wie repräsentativ sie für eine bestimmte Epoche, einen Stil, eine Gattung, eine Ästhetik oder auch das Gesamtwerk einer Filmemacherin/eines Filmemachers sind. Aber auch kulturelle Aspekte, die bisher weniger Einfluss auf die Kanonbildung hatten, sollten berücksichtigt werden. Wir wollten auf keinen Fall nur eine weitere Anthologie des Autorenfilms zusammenstellen, sondern zum Beispiel auch der Bedeutung des populären Films wie der Komödie und bestimmten prägenden Schauspielerpersönlichkeiten wie Louis de Funès oder Jean-Paul Belmondo gerecht werden. Die chronologische Anordnung der einzelnen Beiträge soll es schließlich ermöglichen, den Band auch als eine fortlaufende Geschichte des französischen Kinos zu lesen. Dazu trägt sicher der Umstand bei, dass die einzelnen Filme nie isoliert betrachtet werden, sondern immer im Hinblick auf ihren Kontext und das übrige Werk des betreffenden Regisseurs/der Regisseurin.

Mit welchen Filmen beschäftigen sich die Beiträgerinnen und Beiträger in Ihrem Sammelband? Worauf dürfen sich die Leserinnen und Leser freuen?

Ralf Junkerjürgen, Christian von Tschilschke und Christian Wehr: Der Band beginnt mit den Brüdern Lumière und Georges Méliès. Anders als bei den späteren Filmschaffenden, aus deren Werken sich leicht ein Titel auswählen lässt, tendieren diese Beiträge eher zu Werkdarstellungen und berücksichtigen die besonderen Bedingungen am Anfang der Filmgeschichte. Es folgen die Hauptvertreter des starken französischen Kanons wie Renoir, Godard, Truffaut, Rivette, Chabrol oder Rohmer, um nur einige zu nennen.
Es war uns, wie gesagt, jedoch wichtig, diese Perspektive durch einen Blick auf das populäre Kino zu ergänzen, das zu seiner Zeit oft geringgeschätzt wurde, dessen kulturelle Bedeutung heute jedoch außer Frage steht. Mitunter prägen Schauspielerinnen und Schauspieler Filme so stark, dass sie quasi eigene Genres bilden und die Regie in den Hintergrund treten lassen. Denken Sie an den faszinierenden Fall von Jean-Paul Belmondo: Er ist zunächst ein prägendes Gesicht der Nouvelle Vague und entwickelt sich dann zu dem Actionfilmstar Frankreichs, der es in seinen erfolgreichsten Jahren mit Hollywood aufnehmen konnte. Diesem Aspekt seiner Karriere widmet sich ein Beitrag zu dem stilbildenden Film L’Homme de Rio (deutsch: Abenteuer in Rio). Neben solchen international bekannten Beispielen, zu denen auch Le fabuleux destin d'Amélie Poulain (deutsch: Die fabelhafte Welt der Amélie) gehört, gibt es Filme zu entdecken, die innerhalb Frankreichs einen Kultstatus haben wie etwa Les Trois frères des Komikertrios Les Inconnus.
Berücksichtigt werden auch innovative technische Aspekte. Hier ist unter anderem der geniale Michel Gondry zu nennen, der in seinen Spielfilmen und seinen Musik- und Werbeclips zahlreiche neue Verfahren entwickelt hat, wie etwa die Bullet Time, die anschließend durch The Matrix weltbekannt wurde.
Alle Artikel führen einen intensiven Dialog mit dem aktuellen Forschungsstand und stellen daher trotz ihres einführenden Charakters selbst kleine Forschungsbeiträge dar. In diesem Zusammenhang war uns auch die Rolle von Bildern wichtig. Jeder Beitrag enthält visuelle Eindrücke aus den Filmen, die eng mit der jeweiligen Interpretation verwoben sind und weit über eine illustrative Funktion hinausgehen – gemäß der Überzeugung, dass eine Filminterpretation, die nur aus Text besteht, einen wesentlichen Aspekt des Mediums übergeht.

Auszug aus: „Klassiker des französischen Kinos in Einzeldarstellungen“ 22.09.2021
Der reziproke Zusammenhang zwischen Fiktion und Realität
Mit „Klassiker des französischen Kinos in Einzeldarstellungen“ erscheint im Erich Schmidt Verlag ein Sammelband, dessen 36 Beiträge einen diachronen Querschnitt der französischen Filmgeschichte von der Stummfilmzeit bis ins 21. Jahrhundert bieten. Diese erstmalige Überblicksdarstellung des französischen Kinos in deutscher Sprache betont die substanzielle Bedeutung der französischen Pionierarbeit für die internationale Kinoentwicklung. mehr …

Die Beiträge zeigen die bewegte Geschichte des französischen Kinos vom 19. bis ins 21. Jahrhundert. Können Sie einen Wandel in Hinblick auf behandelte Filmthematiken feststellen?

Ralf Junkerjürgen, Christian von Tschilschke und Christian Wehr: Wenn man einen großen historischen Überblick wagen möchte, dann lässt sich wohl sagen, dass der Wandel der Thematiken seit den Anfängen immer schon eine gewisse Konstanz aufweist, die sich in einer oftmals politischen und zumindest gesellschaftskritischen Prägung des französischen Kinos zeigt. Der Poetische Realismus und der Gangsterfilm der 1930er bis 50er Jahre verraten viel über den sozialen Wandel in den Zeiten während und nach den großen Kriegen und die Zeit der Okkupation, die Nouvelle Vague viel über die 1968er Ära und ihre Folgen. Überhaupt sind die meisten Autorenfilmer der Nouvelle Vague außerordentlich politisch, und selbst in den heutigen Komödien lassen sich oftmals einschlägige Bezüge zu aktuellen gesellschaftlichen und politischen Tendenzen erkennen. Zu nennen wären hier koloniale und postkoloniale Themen, die sozialen Brennpunkte der Vorstädte, der wachsende Rassismus oder die Erstarkung der radikalen Rechten in der politischen Landschaft. Insofern erzählt die französische Filmgeschichte zugleich eine Sozialgeschichte des Landes aus verschiedenen ästhetischen, stilistischen und ideologischen Blickwinkeln.

Der Film im letzten Beitrag in Ihrem Band stammt aus dem Jahr 2013. Ab wann ist ein Film ein Klassiker?

Ralf Junkerjürgen, Christian von Tschilschke und Christian Wehr: Wenn man davon ausgeht, dass ein Klassiker ein künstlerisches Werk von überzeitlicher Bedeutung ist, bzw. – um eine berühmte Formulierung des Philosophen Hans-Georg Gadamer zu zitieren – ein Werk, bei dem „die Fortdauer der unmittelbaren Sagkraft […] grundsätzlich unbegrenzt ist“, dann lässt sich natürlich bei jüngeren Filmen, die, sagen wir, erst zehn, zwölf Jahre alt sind, diese ‚Haltbarkeitsprobe‘ noch nicht verlässlich vornehmen. Da fehlt einfach der zeitliche Abstand. Überhaupt ist ja interessant, dass Filme allein aufgrund ihres besonderen medialen Charakters, das heißt wegen ihrer Bildhaftigkeit generell viel stärker im zeitlichen Kontext ihrer Entstehung verankert sind als etwa literarische Texte. Aber auch das hindert sie nicht daran, zu Klassikern zu werden, wenn es ihnen, wie etwa Jean Renoirs La Règle du jeu (1939) oder François Truffauts Les Quatre Cents Coups (1959) gelingt, den Zeitgeist auf eine Weise einzufangen und zu kondensieren, die sie im Nachhinein zu Emblemen einer Epoche macht.
Doch sind es natürlich nicht allein inhaltliche Aspekte, die einem Film zum Klassikerstatus verhelfen. Vielfach kommt auch ein ästhetisches Moment dazu, eine andere, bisher nie dagewesene Art, die Welt zu sehen, die im Nachhinein als der Ausgangspunkt von etwas Neuem erkannt wird, auf das man sich dann immer wieder bezieht. Im Hinblick etwa auf Jean-Pierre Jeunets Film Le fabuleux destin d’Amélie Poulain (2001) kann man das mit Sicherheit behaupten. Bei anderen, jüngeren Filmen fällt die Prognose schwieriger aus. Selbst wenn sich der eine oder andere Film in Zukunft nicht als Klassiker erweist, bleiben die Werke immer noch repräsentativ für eine bestimmte Phase des französischen Kinos.

Abschließend, vor welchen Herausforderungen stehen Ihrer Meinung nach Filmschaffende in Zukunft?

Ralf Junkerjürgen, Christian von Tschilschke und Christian Wehr: Über hundert Jahre lang ist es dem Kino gelungen, das sich ausdifferenzierende mediale Angebot an Techniken und Formaten kreativ zu nutzen, sei es durch die Aufnahme von Elementen aus Comics oder Music-Clips. Auch wenn der Anteil des traditionellen Kinos an der Mediennutzung seit den 1960er Jahren rückläufig ist, konnte sich der Film der Dynamik dieser Konvergenzkultur bisher gut anpassen.
Dieser Herausforderung wird er auch weiterhin standhalten müssen. Wir erleben seit einigen Jahren eine deutliche mediale Verschiebung hin zu Serienformaten und zu Computerspielen. Wurden die Generationen vor den 1990er Jahren medial noch weitgehend durch Filme sozialisiert, so gilt dies kaum noch für die Jüngeren, die mit dem klassischen Filmformat – eine Geschichte von 90 bis 120 Minuten Länge – oft wenig anfangen können. Sie ziehen häufig die kürzeren Aufmerksamkeitsspannen von Serien vor und tauchen in interaktive Spielwelten ein. Innovative Technik wird hier eine zentrale Rolle spielen. Sollten VR-Brillen in Zukunft einem breiten Publikum ein neues mediales Erleben ermöglichen, wird das Kino einen Weg finden müssen, dies kreativ für sich zu nutzen. Allerdings hat das Kino einen Trumpf: In einer Gesellschaft der Singularitäten bietet es einen Ort des kollektiven Erlebens an, der zum Dialog einlädt und den Zusammenhalt fördert. Damit steht es quer zur weitgehend isoliert-individuellen Mediennutzung der Streamingplattformen. Das Kino ist zu einem alternativen Raum geworden, der hoffentlich erhalten bleibt.
Gerade Frankreich hat in dieser Hinsicht einen Vorbildcharakter. Das Kino ist dort tief in das kulturelle Selbstverständnis eingebettet und verfügt über ein solides Fundament, das politisch seit vielen Jahrzehnten unterstützt wird. Das sollten wir uns auch im deutschsprachigen Raum zu Herzen nehmen.

Herzlichen Dank für Ihre Antworten!

Die Herausgeber
Ralf Junkerjürgen ist Professor für romanische Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören die französische Kultur seit dem 19. Jahrhundert sowie die Literatur- und Filmgeschichte.
Christian von Tschilschke ist Professor für romanische Literaturwissenschaft an der Universität Münster. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören die französische Literatur und Kultur vom 18.–21. Jahrhundert sowie die Filmgeschichte.
Christian Wehr ist Professor für romanische Literaturwissenschaft  an der Universität Würzburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die französische Literatur und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts sowie die Filmgeschichte.

Klassiker des französischen Kinos in Einzeldarstellungen
Herausgegeben von: Prof. Dr. Ralf Junkerjürgen, Prof. Dr. Christian von Tschilschke, Prof. Dr. Christian Wehr

Frankreich, wo die Filmtechnik erfunden wurde, ist in historischer wie aktueller Perspektive die bedeutendste europäische Filmnation. Dennoch liegt bis heute keine Anthologie des französischen Kinos in deutscher Sprache vor. Diese Lücke füllt der vorliegende Band, indem er mit über dreißig Einzeldarstellungen herausragender Werke ein kompaktes und umfassendes Panorama der französischen Filmgeschichte vermittelt.
Dabei werden neben den Pionieren des Kinos aus der Stummfilmzeit die wichtigsten Repräsentanten des Poetischen Realismus, der Nouvelle Vague sowie des neueren Autorenfilmes behandelt. Über die emblematischen Titel hinaus finden auch große Erfolge des populären Kinos Eingang und werden in ihrer kulturhistorischen Bedeutung erschlossen
Die einzelnen Beiträge wurden durchgehend von ausgewiesenen Spezialisten und Spezialistinnen verfasst. Sie liefern über die Einzelinterpretation hinaus auch eine Einführung in das Werk des jeweiligen Regisseurs bzw. der jeweiligen Regisseurin, gehen auf die aktuelle Forschung ein und eröffnen über Literaturhinweise die Möglichkeit zur weiteren wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Insgesamt richtet sich der Band an Cineasten, Studierende, Schüler und Schülerinnen sowie Dozentinnen und Dozenten, die einen direkten Zugang zum thematischen, formalen und ästhetischen Reichtum des französischen Kinos suchen. Den Originalzitaten werden deutsche Übersetzungen hinzugefügt, sodass für die Lektüre keine Französischkenntnisse nötig sind.

Programmbereich: Romanistik