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Silke Segler-Meßner ist Professorin für französische und italienische Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg (Foto: privat).
Nachgefragt bei: Prof. Dr. Silke Segler-Meßner

„Kulturwissenschaftliche Forschung mit literaturwissenschaftlicher Textanalyse verbinden“

ESV-Redaktion Philologie
03.11.2020
Was machte aus Sicht der Menschen im Mittelalter eine Gemeinschaft aus? Wie hat sich unser Bild von biologischem und sozialem Geschlecht verändert – seit dem 12. Jahrhundert, seit der Entstehung von Molières Theaterstücken, seit Simone de Beauvoirs Lebzeiten? Mit dem Buch „Einführung in die französische Kulturwissenschaft“ begeben Sie sich auf eine Reise durch die kulturellen Prägungen, die seit dem Mittelalter bis in unsere Gegenwart hinein die Vorstellungen von Nationalität, Alterität, Geschlechtern und Migration maßgeblich beeinflussen.
Prof. Dr. Silke Segler-Meßner stellt in ihrer Einführung eine Textauswahl zusammen, welche den Wandel von Ansichten und Werten im französischsprachigen Kulturraum beleuchtet.
Wir haben sie im Interview gefragt, von welchen Kriterien sie sich bei der Auswahl der Texte und Themen hat leiten lassen und worauf man sich bei der Lektüre des Buches freuen darf.

Liebe Frau Segler-Meßner, in Ihrem Vorwort schreiben Sie, dass die „Einführung in die französische Kulturwissenschaft“ sich mit Themenfeldern auseinandersetzt, die Sie bereits seit Ihrem eigenen Studium begleiten und inzwischen eine zentrale Rolle Ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit innehaben. Im Band benennen Sie diese Felder anhand der Kapitel Geschlechter, Gemeinschaften und Mobilitäten. Was zeichnet diese Themen aus Ihrer Sicht aus – vielleicht auch in Abgrenzung zu anderen möglichen Schwerpunkten?

Silke Segler-Meßner: Hier handelt es sich um intersektionale Forschungsfelder, innerhalb derer ich das Selbstverständnis des französischen Kulturraums auf der Basis von close readings exemplarischer Texte beleuchte. Diese übergeordneten Kategorien Geschlechter, Gemeinschaften und Mobilitäten ermöglichen eine rein epochenzentrierte Perspektive aufzubrechen und kulturwissenschaftliche Forschung mit literaturwissenschaftlicher Textanalyse zu verbinden.

Wie sind Sie bei der Auswahl der einzelnen Texte vorgegangen? Es finden sich dort ja nicht nur solche, die klar den ‚Stempel Kulturwissenschaft‘ tragen, sondern auch solche, die zumeist eher für ihre literarischen bzw. lyrischen Qualitäten bekannt sind. Hatten Sie bestimmte Kriterien im Kopf, nach denen Sie sich für oder gegen bestimmte Texte entschieden haben? Haben Genrezuordnungen dabei eine Rolle gespielt?

Segler-Meßner: Die Auswahlkriterien der Texte spiegeln deutlich die Perspektive einer Literaturwissenschaftlerin. Mein Forschungsgegenstand ist die französischsprachige Literatur in ihrer gattungs- und epochenspezifischen Vielfalt. Bei den Textbeispielen habe ich darauf geachtet, dass Autorinnen und Autoren ebenso vertreten sind wie Epik, Dramatik, Lyrik und Narrativik. Alle Werke verhandeln Vorstellungen, Ideen und Werte des französischsprachigen Kulturraums und gehören ebenso zur Kulturwissenschaft wie die soziologischen und philosophischen Theorien und Konzepte, die ich im ersten Teil vorstelle.

Auszug aus: Einführung in die französische Kulturwissenschaft 25.09.2020
Texte von Bricolage bis Zola und vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert
Kultur – darunter lassen sich „Lebensformen und Verhaltensweisen ebenso [fassen] wie kanonische und populäre Artefakte“ (Segler-Meßner). In diesem weiten Feld strebt die Kulturwissenschaft an, zentrale Setzungen und Codes zu identifizieren und befragt sie auf ihre Bedeutung hin. Für die französische Kulturwissenschaft haben sich dabei vielfältige Texte als bedeutsame Bausteine erwiesen, um den kulturgeschichtlichen Wandel vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert nachzuvollziehen. mehr …

Ihr Band möchte kanonische Texte der Kulturwissenschaft ebenso wie neuere Wege der Forschung auf verständliche Weise analysieren und dabei Anknüpfungspunkte zwischen Theorie und der Lebenswirklichkeit der Leser*innen aufzeigen, gerade auch, wenn diese noch am Anfang ihres Studiums stehen. Können Sie uns dafür ein Beispiel geben?

Segler-Meßner: Ein prägnantes Beispiel liefert Montaignes Essay Des Cannibales, der den Teil Mobilitäten eröffnet.  Im Zentrum steht die eurozentrische Entdeckung des Fremden, die der Renaissance-Autor kritisch reflektiert. Die Studierenden sehen sich in diesem Text mit einer Erfahrung konfrontiert, die unser multikulturelles Zusammenleben auch heute beeinflusst. Migration und Flucht sind wiederkehrende historische Phänomene und prägen Europa als Lebensraum. Im Zentrum des Essays steht letztlich die Frage, was Fremdsein überhaupt bedeutet und welche Zuschreibungen wir durch bestimmte Bezeichnungen vornehmen. Montaigne kritisiert den Gebrauch des Begriffs „sauvage“ für die brasilianische Bevölkerung, aktuell soll der biologistische Begriff „Rasse“ aus dem Grundgesetz gestrichen werden.

Durch das chronologische Aufeinanderfolgen der Texte aus verschiedenen Epochen möchten Sie kulturelle Wandlungen aufzeigen. Gibt es aus Ihrer Sicht ein Themenfeld, in welchem sich besonders deutliche Entwicklungen oder Veränderungen abzeichnen?

Segler-Meßner: Der Teil Gemeinschaften dokumentiert sehr deutlich den Wandel kollektiver Vorstellungen von Zugehörigkeit zur französischen Kultur. Spielt im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit die religiöse Identität eine große Rolle, so markiert die Französische Revolution einen historischen Wendepunkt, der gleiche Rechte unabhängig von Religion, Rasse und Geschlecht für die gesamte Bevölkerung garantiert. Die Dreyfus-Affäre zeigt deutlich, dass Diskriminierung und Ausgrenzung jüdischer Mitbürger/innen sowohl im Militär als auch in weiten Teilen der Bevölkerung noch präsent sind. Die Glorifizierung der Résistance nach dem Zweiten Weltkrieg verdeckt die Kollaboration des Vichy-Regimes mit den deutschen Nationalsozialisten und die französische Beteiligung an der Verfolgung und Deportation der Jüdinnen und Juden. Léonora Miano deckt schließlich in ihren Essays und Texten die Hautfarbe als Differenzkriterium auf, das in der französischen Republik zu Ausschluss und Diskriminierung afropäischer Französinnen und Franzosen führt.

Wir gehen meist ja davon aus, dass mit dem Fortschreiten der Zeit und den neuen Entwicklungen auch ein qualitativer Fortschritt einhergeht, eine Verbesserung oder eine Ausweitung der Möglichkeiten. Auch das Inhaltsverzeichnis Ihres Bandes impliziert, dass Kultur vom Ausgangspunkt Mittelalter (der freilich nicht den absoluten ‚Startpunkt‘ darstellt) über weitere Stationen bis ins gegenwärtige 21. Jahrhundert fortschreitet. Bestätigt sich dieser Eindruck in den Texten oder kommt es auch zu einer Rückbesinnung auf Früheres, das dem jeweiligen Zeitgenössischen als überlegen (wieder-)entdeckt wird?

Segler-Meßner: In allen Teilen der Einführung zeigt sich, dass bestimmte Vorstellungen und Ideen ebenso zyklisch wieder auftauchen, wie bestimmte Darstellungsweisen eine Aktualisierung erfahren. Die Frage nationaler Zugehörigkeit beispielsweise radikalisiert sich in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krisenzeiten, wie Emile Zolas J’accuse (1898) zeigt. Zugleich ist der Brief bereits im 18. Jahrhundert ein populäres Medium literarischer Darstellung, da er die Fiktionsschwelle senkt und Authentizität garantiert. Léonora Mianos Sammlung von Monologen Écrits pour la parole (2012) ebenso wie Claudine Galéas Au bord (2010) knüpfen an Traditionen des französischen Theaters an und schreiben sie zugleich fort. Beide Autorinnen problematisieren Gender-Vorstellungen und suchen Stereotypisierungen zu unterlaufen, wie es bereits in Molières Travestie-Komödie Le Dépit amoureux (1656) der Fall war.

Zuletzt noch eine persönliche Frage: Gibt es unter den von Ihnen untersuchten Texten einen Lieblingstext? Und wenn ja, warum ist dieser Ihnen besonders nah – aus literarischen, stilistischen, inhaltlichen oder anderen Gründen?

Segler-Meßner: Einer meiner Lieblingstexte ist Maryam Madjidis Marx et la poupée (2017), den ich im Wintersemester 2018/19 gemeinsam mit meinen Studierenden gelesen und diskutiert habe. Die Autorin erzählt die Fluchtgeschichte ihrer Familie aus dem Iran und beschreibt zugleich sehr eindringlich die Problematik von Migrant/innen, die Französisch lernen müssen und sich ihrer Herkunftskultur entfremden. Sie erzählt von dem Leben im Exil in einem assoziativ anmutenden Modus und springt zwischen unterschiedlichen Erzählinstanzen hin und her. Dabei verwendet sie den Begriff „Geburt“, um ihre Erzählung zu strukturieren. Gleichzeitig dokumentiert dieser Roman sehr eindrücklich den Wandel des französischen Literaturkanons, der durch die „littérature migrante“ eine Dezentrierung erfährt – ein Weiten des Blicks, der mich auch persönlich als Literaturwissenschaftlerin seit langem begleitet und antreibt.

Haben Sie vielen Dank für das Interview!

Zur Autorin
Dr. Silke Segler-Meßner ist seit 2010 Professorin für französische und italienische Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg. Ihre Publikationen mit den Schwerpunkten Gender und Erinnerungskulturen weisen sie als Expertin kulturwissenschaftlicher Forschung in der Romanistik aus. Die Entwicklung forschungs- und anwendungsorientierter Lehrformate ist für sie von zentraler Bedeutung.

Einführung in die französische Kulturwissenschaft
von Prof. Dr. Silke Segler-Meßner

Diese Einführung liefert das methodische Instrumentarium für eine kulturwissenschaftliche Textanalyse. Außerdem umreißt sie anhand ausgewählter Beispiele den kulturgeschichtlichen Wandel der Geschlechterbeziehungen, des nationalen Selbstverständnisses und der Wahrnehmung von Migration und Alterität in französischsprachigen Texten vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert.
Die Textauswahl von Michel de Montaigne über Victor Segalen und Aimé Césaire bis zu Maryam Madjidi und Claudine Galéa deckt eine Vielfalt ab, die weit über den literarischen Kanon hinausweist.
Eine klare Sprache, viele Erklärungen von Fachbegriffen sowie die Anknüpfung an Themen, die auch in aktuellen politischen und kulturellen Debatten verhandelt werden, erhöhen die Lesbarkeit für ein nicht spezialisiertes Publikum.

(MD)

Programmbereich: Romanistik