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Professor Dr. Ludger Lieb, ein Experte der Hartmann von Aue-Forschung (Foto: Ute von Figura/SFB 933)
Nachgefragt bei: Professor Dr. Ludger Lieb

Lieb: „Jeder Lektüre eines Textes wohnt etwas Neues inne“

ESV-Redaktion Philologie
17.03.2020
Von der Freundschaft mit einem echten Löwen und übergriffigen Pseudo-Rittern: Hartmann von Aue zählt zu den Klassikern des Germanistik-Studiums. Fast jede/r Studierende der germanistischen Mediävistik beschäftigt sich im Laufe des Studiums mit einem seiner Text, mit den Artusromanen „Erec“ und „Iwein“ oder mit den Erzählungen „Gregorius“ bzw. „Armer Heinrich“.
Kein Wunder, denn diese Texte zählen auch heute noch zu den besten, die die mittelhochdeutsche Literatur zu bieten hat.
Zu dem Werk Hartmanns ist eine schier unübersichtliche Menge an Forschungsliteratur erschienen. Der neue Einführungsband von Professor Dr. Ludger Lieb versammelt ausgewählte Informationen zu den vier wichtigsten Werken und präsentiert in übersichtlicher und konziser Weise neue Lektüren. Lesen Sie hier ein Interview mit dem Autor.

Lieber Herr Lieb, noch ein Buch zu Hartmann von Aue, werden manche unserer Leser vielleicht denken. Daher zu Beginn unseres Interviews die (rhetorische) Frage: Gibt es der Lektüre dieses „Klassikers der mittelhochdeutschen Literatur“ noch Neues hinzuzufügen?

Ludger Lieb: Jeder Lektüre eines Textes wohnt etwas Neues inne. Das gilt zumindest für den einzelnen Leser und für die Wirkung des Textes in dieser einen Lektüre. Inwieweit dieses Neue für andere Leser tatsächlich neu und interessant ist und dann auch noch veröffentlicht werden muss, ist eine ganz andere Frage. Ich biete in meinem Buch erstens einige Sichtweisen und Interpretationen von Hartmanns Erzählungen an, die hoffentlich neu und interessant sind. Ich versuche aber zweitens auch darzulegen, wie andere bisher diese Texte gelesen haben. Drittens hoffe ich, jeden Nutzer des Buches zu eigenständiger ‚neuer‘ Lektüre zu ermutigen und zu inspirieren.

Fast alle Studierenden der Germanistik haben irgendwann im Laufe ihres Studiums mit einem der Texte Hartmanns zu tun. Gibt es eine Erklärung dafür, dass Hartmann von Aue nach wie so präsent im germanistischen Studium ist?

Ludger Lieb: Dafür gibt es pragmatische und inhaltliche Gründe. Die Texte sind gut zugänglich und nicht allzu lang. Das Mittelhochdeutsch ist weder zu schwer noch zu leicht. Inhaltlich bieten die zwei Artusromane und die zwei höfischen Legenden vielfältige Einblicke in die höfische Kultur und Vorstellungswelt des Hohen Mittelalters. Sie sind teilweise spannend, teilweise auch ziemlich überraschend, man denke nur an Erecs Entscheidung, seine Frau Räubern und übergriffigen Pseudo-Rittern auszusetzen, an Iweins Freundschaft mit einem echten Löwen, an die sexuellen Beziehungen zwischen engsten Blutsverwandten im ‚Gregorius‘ oder den Wunsch einer Bauerntochter, sich für den Armen Heinrich töten zu lassen. Nicht zuletzt würde ich als Grund anführen, dass Hartmann einfach ziemlich gut dichten und schön erzählen kann.

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Wie ist Ihr Buch aufgebaut, welchen Zugang haben Sie zu diesen berühmten Werken gewählt?

Ludger Lieb: Jedem der vier Erzähltexte Hartmanns ist ein eigenes, in sich abgeschlossenes Kapitel gewidmet. Der Aufbau dieser Kapitel ist im Wesentlichen gleich: Nach einer kurzen Inhaltsangabe und Gliederung des jeweiligen Textes folgt meine ‚perspektivische Lektüre‘. Diese orientiert sich am inhaltlichen Verlauf der Erzählungen. Für den ‚Erec‘ habe ich die Perspektive der Wiederholung gewählt, für den ‚Iwein‘ die der Verbindung. Den ‚Gregorius‘ lese ich unter dem Aspekt der Verdichtung und den ‚Armen Heinrich‘ unter dem der Verkehrung. Sodann folgen jeweils ein Vergleich mit den altfranzösischen Vorlagen, Basisinformationen zu Datierung, Überlieferung, Edition und Rezeption der Werke und ein Abschnitt zu Themen der Forschung. Im Anhang jedes Kapitels findet sich eine detaillierte und strukturierte Inhaltsangabe.

Haben die Texte Hartmanns auch den heutigen Studierenden noch etwas zu sagen, welche der angesprochenen Themen sind auch heute noch „aktuell“?

Ludger Lieb: Hartmann hat ein besonderes Gespür für allgemein menschliche Problemlagen. „Wer bin ich?“ steht gewissermaßen als Frage über allen seinen Werken, und diese Frage wird dann in all ihren Facetten durchgespielt: Was erwarten die anderen von mir, meine Lehrer und Chefs (Artus!), meine Eltern, meine peer group, mein Partner, mein Freundeskreis, die Moral, das Über-Ich, Gott? Was ist meine Veranlagung, was sind meine individuellen Fähigkeiten? Was will ich eigentlich? Kann ich meine Unzulänglichkeiten und Fehler annehmen? Die Konfrontation jedes Einzelnen mit kaum zu vereinbarenden Selbst- und Fremdansprüchen ist – in mittelalterlichem ‚Gewand‘ – ebenso Hartmanns Thema wie die Spannung zwischen Leistungsgesellschaft und Selbstverwirklichung oder das Problem (religiös) fundamentalistischer Argumentationen. Hartmanns Werke strahlen dabei einen Optimismus aus, der nicht in der Verleugnung von allem Negativem gründet, sondern gerade darin, Schicksalsschläge, Versäumnisse und eigenes Fehlverhalten anzuerkennen, ihnen konstruktiv zu begegnen und sie als Nährboden für die Entstehung des Guten zu begreifen.

Welcher der vier in Ihrem Buch behandelten Texte liegt Ihnen besonders am Herzen?

Ludger Lieb: Zu jedem Text habe ich eine eigene intensive Beziehung entwickelt, was dazu führt, dass mir jeder der vier Texte je nach Stimmung und Situation besonders wichtig ist. Dennoch nimmt für mich der ‚Erec‘ eine Sonderstellung ein, weil ich diesen Artusroman im ersten Semester meines Studiums lesen musste und ich ihn damals überhaupt nicht mochte. 15 Jahre später war es gerade dieser ungeliebte ‚Erec‘, der mir auf meine Forschungsfragen nach Formen und Funktionen der Wiederholung die allerbesten und vielfältigsten Antworten gab. Daher liegt der ‚Erec‘ mir tatsächlich besonders am Herzen.


Zum Autor
Ludger Lieb studierte Germanistik und Philosophie in München. Nach der Promotion (1995) habilitierte er 2003 in Dresden mit einer Arbeit zur Wiederholung in Hartmanns ‚Erec‘. Seit 2010 ist er Professor für Ältere Deutsche Philologie an der Universität Heidelberg und leitet dort den Sonderforschungsbereich 933 ‚Materiale Textkulturen'.

Hartmann von AueErce – Iwein – Gregorius – Armer Heinrich

Von Professor Dr. Ludger Lieb

Hartmann von Aue ist der bedeutendste deutsche Autor des späten 12. Jahrhunderts und einer der ersten herausragenden Vertreter der mittelhochdeutschen Klassik. Seine beiden Artusromane ‚Erec‘ und ‚Iwein‘ begründen die Gattung des Artusromans in deutscher Sprache und waren bereits im Mittelalter Klassiker. ‚Gregorius‘ und ‚Der arme Heinrich‘ umspielen auf faszinierende Weise die Grenze zwischen weltlichem und religiös-legendarischem Erzählen. Allen vier Werken wird in der germanistischen Forschung und Lehre seit Jahrzehnten eine kaum zu überbietende Aufmerksamkeit zuteil.

Vor dem Hintergrund der weitläufigen Forschungslandschaft zu Hartmann von Aue versammelt die vorliegende Einführung die wichtigsten Daten zu diesen Werken und präsentiert neue, inspirierende Lektüren.

 

(ESV/Ln)

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik