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Frank Witzels und Ingo Schulzes Werke stehen im Dialog (Foto: OlgaStrelnikova - stock.adobe.com)
Auszug aus „Werke im Dialog“, Sonderheft der Zeitschrift für deutsche Philologie, 142. Band

Literarische Begegnungen: Ingo Schulze und Frank Witzel

ESV-Redaktion Philologie
26.09.2023
Seit vier Jahrzehnten versammelt die „Paderborner Gastdozentur“ renommierte Schriftstellerinnen und Schriftsteller an der Universität Paderborn und stellt sie dort in den Dialog untereinander und mit den Studierenden. Anlässlich dieses Jubiläums erscheint ein Sonderheft der „Zeitschrift für deutsche Philologie“, das sich aus unterschiedlichsten Perspektiven mit den Werken dieser Autorinnen und Autoren auseinandersetzt.
Im Zentrum stehen zunächst die beiden Inhaber der 40. Gastdozentur: Ingo Schulze und Frank Witzel, deren Werke  in einen Dialog gebracht werden. Sie liefern gemeinsam mit den anderen Inhaberinnen und Inhabern der Gastdozentur der letzten 40 Jahre Stoff für spannende Untersuchungen zu Faustnarrativen und irrwitzigen Kunstbetrachtungen bis hin zu Fußballliteratur und Darstellungen der Apokalypse.

Im Folgenden lesen Sie einen Auszug aus David-Christopher Assmanns Beitrag „Elemente zu einer praxeologischen Semiotik des Titels“:

Die Texte von Ingo Schulze und Frank Witzel haben (mit Ausnahmen) Titel. Das ist nicht ungewöhnlich. Titel sind nicht irgendein, sie sind, folgt man Gérard Genette, ein „obligatorisch[es]“ Element des doing literature. Fehlen sie, fällt das auf, und zwar sowohl beim Kauf in der Buchhandlung oder auf Amazon als auch während der Lektüre in der S-Bahn, auf dem Sofa oder beim literaturwissenschaftlichen Bibliographieren. Aber auch der Umstand, dass Titel zumindest in ihrer rudimentären Form nun einmal ‚obligatorisch‘ sind, kann zu Irritationen eingefahrener Formen des Umgangs mit Literatur führen. Die wesentlichen Funktionen des modernen Titels – also Bezeichnung, Beschreibung und Präsentation des Referenztextes – basieren auf Einschränkungen, an denen sich die mit Literatur hantierenden Akteure stoßen können.

Da ist zunächst die Begrenzung der Autonomie derjenigen, die ein literarisches Werk hervorbringen. Als paratextuelles Element ist der Titel auf der Schwelle zwischen dem ,eigentlichen‘ Text und dessen Publikum verortet. Seit dem 18. Jahrhundert dient er dazu, je spezifisch als Form die Anschlussfähigkeit einer Publikation auf dem sich ausdifferenzierenden „Markt für Jedermannslektüre“ wahrscheinlicher zu machen. Die damit einhergehende Einengung kann man semiotisch als Verkürzung des Titels zu einem heteronomen „Blickfang“ verstehen. In dieser Perspektive gängelt die im Entstehen begriffene Aufmerksamkeitsökonomie die Schreibenden und drängt sie, bei der Titelwahl auf „kurze[], aber prägnante[] Namen“ zu setzen, weil diese von der „mit Reizwörtern operierende[n] Unterhaltungsindustrie“ begünstigt werden.
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Briefe aus dem Exil
Nachdem Theodor Storm sich immer wieder gegen die dänische Herrschaft in Schleswig-Holstein engagiert hatte, verweigern ihm die dänischen Behörden die Zulassung als Rechtsanwalt in Husum. Im Jahr 1853 geht er mit seiner Frau Constanze und den gemeinsamen Kindern ins Exil nach Preußen. mehr …

Die Titel der Texte von Schulze und von Witzel werden im literarischen und literaturwissenschaftlichen Feld immer wieder thematisch. Nicht nur geben sich die Autoren in Interviews, Gesprächen und programmatischen Texten recht auskunftsfreudig, wenn es um die Titel ihrer eigenen Texte oder die anderer geht. Auch in der Rezeption spielt die Form ihrer peritextuellen Rahmung wiederholt eine Rolle. Im Fall von Schulze ist beispielsweise schon in Lutz Hagestedts Besprechung der 1998 erschienenen „Simple Storys“ von einer „einfach genialen Titelei“ die Rede. Mit Thomas Steinfeld lässt sich das ,Geniale‘ des Peritextes zunächst als Anzeige einer spezifischen Verarbeitung der Short Story näher bestimmen. An den amerikanischen Gattungsvorgaben knüpft der „Roman aus der ostdeutschen Provinz“ Steinfeld zufolge nämlich zwar an. „Ingo Schulze aber bricht den Import der Form auf halber Strecke ab, und der Plural ,Storys‘ ist mit Absicht falsch – und das heißt: deutsch – gewählt.“

So gut wie keine feuilletonistische oder literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit den „Simple Storys“ kommt in der Folge umhin, auf den „orthografisch bewusst falsch gebildete[n]“, mithin „absichtlich falsche[n] neudeutsch-englische[n] Plural“ hinzuweisen – oftmals schon allein, so scheint es, um dem Verlag kein unsauberes Lektorat zu unterstellen oder sich selbst nicht den unberechtigten Vorwurf einer falschen Zitation einzuhandeln. Hält man sich an Steinfeld, hat die spezifische, weil „bewusst“ eingesetzte Pluralform eine  lektürelenkende, ja poetologische Relevanz. Der Titel ist, so schlussfolgert Moritz Baßler mit Bezug auf den Literaturkritiker, „nicht englisch, sondern sächsisch auszusprechen, und die Einheit des Ortes stiftet nicht L.A., sondern die Spielkartenstadt Altenburg.“ Der peritextuelle Plural bindet den Roman, so auch Paul Cooke, „to its specific German context“, so dass sich eine „ostensible dichotomy between the title and subtitle“ einstellt. Andernorts dient der peritextuell markierte Gegensatz von „Simple Storys“ und „Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz“ mitunter als Motiv, um sich mit Schulzes Text auseinanderzusetzen.

So untersucht Hannelore Poethe „Simple Storys“ überhaupt nur, weil das Zusammenspiel von „Titel und Untertitel […] Erwartungen weckt und weitergehende Assoziationen auslöst.“ Letztere lassen sich in ähnlicher Weise auch Norbert Niemanns Lektüre des Titels von „Neue Leben“ entnehmen, erhalten dort allerdings wiederum eine poetologische Schlagseite. Niemann zufolge ist im Fall des 2005 erschienenen Romans, der als „eine Art Fortsetzung“ der „Simple Storys“ verstanden werden kann, nämlich „bereits am vollständigen Titel abzulesen“, dass „Neue Leben“ sich an romantischen Formvorgaben orientiert. Mit seinem Untertitel „Die Jugend Enrico Türmers in Briefen und Prosa“ betont Schulzes „monumental angeschwollene[r] Wälzer“ demzufolge,  dass er vor der Folie von E.T.A. Hoffmanns „Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern“ gelesen werden möchte. Tatsächlich konstituiert sich „Neue Leben“ wie Hoffmanns Roman über  Verfahren der Kommentierung, der Herausgeberfiktion und der Makulatur. Das an der „Traditionslinie des Romans der Romantik“ geschulte Verfahren, „tradierte Textstrategien der Subjektkonstitution, der Verhandlung von und des Spiels mit Identitäten“ aufzugreifen und zu dekonstruieren, beginnt im Fall von Schulzes Roman wie bei Hoffmann bereits mit dem Titel. Dieser bietet nicht nur, um eine Unterscheidung von Dietrich Rolle aufzugreifen, eine „rein orientierende Sachinformation“, sondern bildet „eine notwendige Ergänzung, die Bestandteil des Gesamtsinnes ist“. Der Untertitel „Die Jugend Enrico Türmers in Briefen und Prosa“ ist Teil eines fiktional-faktualen Ganzen, das er benennt. [...]


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Die Herausgeber des Sonderheftes
Prof. Dr. Norbert Otto Eke hat seit 2006 eine Professur für Neuere deutsche Literaturwissenschaft mit den Schwerpunkten Literaturtheorie, Theater und deutsch-jüdische Literatur an der Universität Paderborn; Forschungsaufenthalte u.a. in den USA und China sowie Gastprofessuren in Ungarn (Budapest), USA (Athens/Georgia), Kuba (Havanna) und Japan (Tokyo). Forschungsschwerpunkte sind Literaturtheorie und Ästhetik an der Schnittstelle von Philologie, Theater-, Kultur- und Medienwissenschaft mit den Schwerpunkten Literatur und Theater vom 18. bis zum 21. Jahrhundert, insbesondere dem Vormärz und der Gegenwartsliteratur sowie speziell der deutsch-jüdischen Literatur. Norbert Otto Eke ist Herausgeber der „Zeitschrift für deutsche Philologie“ und der „Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik“. An der Universität Paderborn leitet er das „Zentrum für deutschsprachige Gegenwartsliteratur“, eine interdisziplinäre Forschungseinrichtung, die sich mit den deutschsprachigen Literaturen in medialen und interkulturellen Zusammenhängen befasst.

Prof. Dr. Stefan Elit ist Akademischer Oberrat im Bereich Neuere deutsche Literatur des Instituts für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Paderborn. Promotion an der Universität Bonn mit einer Arbeit zu Klopstocks Sprachpatriotismus (2001) und Habilitation an der Universität Paderborn mit einer Arbeit zu Sozialistischen Mytho-Logiken in DDR-Prosa und DEFA-Spielfilm (2017).
Forschungsschwerpunkte: Antikerezeption und Gattungsfragen von der Frühen Neuzeit bis heute, Literaturbetrieb und literarische Institutionen, Praxis und Theorie der Gegenwartsliteratur.



Werke im Dialog
(Virtuelle) Begegnungen in 40 Jahren „Paderborner Gastdozentur für Schriftstellerinnen und Schriftsteller“

Herausgegeben von Norbert Otto Eke und Stefan Elit
Mit Beiträgen von David-Christopher Assmann, Kai Bremer, Anke Detken, Norbert Otto Eke, Stefan Elit, Gerhard Kaiser, Rita Morrien, Naser Šečerović, Mirjam Springer, Claudia Stockinger, Leonie Süwolto, Heribert Tommek

Die Paderborner Gastdozentur für Schriftstellerinnen und Schriftsteller ist eine der ältesten Poetikdozenturen in den deutschsprachigen Ländern. Zwanzig Jahre nach ihrer Gründung kamen 2002/03 im Laufe von zwei Semestern alle bis dahin nach Paderborn berufenen Poetikdozentinnen und -dozenten noch einmal zu Lesungen an die dortige Universität und traten so für das Publikum nacheinander in den Dialog.
2023, nach insgesamt 40 Jahren „Paderborner Gastdozentur für Schriftstellerinnen und Schriftsteller“, präsentieren die Veranstalter eine andere Art der Begegnung: zum einen mit den Beiträgen eines Symposiums zu den Werken Ingo Schulzes und Frank Witzels, die die 40. Paderborner Gastdozentur gemeinsam wahrgenommen und ihre Poetikvorlesungen buchstäblich im Dialog gehalten haben. Zum anderen versammelt das Sonderheft eine Reihe von Beiträgen, die jeweils zwei der in den zurückliegenden Jahren geladenen Poetikdozentinnen und -dozenten gemeinsam betrachten und deren Werke in einen spannungsvollen virtuellen Dialog eintreten lassen.

 

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik