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LSG Baden-Württemberg: Das Klettern eines Jugendlichen auf dem Dach einer Jugendherberge kann der gesetzlichen Unfallversicherung unterliegen (Foto: schulzfoto / stock.adobe.com)
Gesetzliche Unfallversicherung

LSG Baden-Württemberg zum Schutz durch gesetzliche Unfallversicherung bei Sturz vom Dach einer Jugendherberge während eines Seminars

ESV-Redaktion Recht
15.02.2022
Kann sich ein Auszubildender, der an einem Einführungsseminar in einer Jugendherberge teilnimmt, auf den gesetzlichen Unfallversicherungsschutz berufen, wenn er vom Dach stürzt, während er ein benachbartes Mädchenzimmer erklettert? Hierzu hat sich das LSG Baden-Württemberg aktuell geäußert.
In dem Streitfall begann der lernbehinderte Kläger im September 2014 eine Ausbildung zum Fachpraktiker Hauswirtschaft, die von der Bundesagentur für Arbeit gefördert wurde. Im November 2014 nahm er an einer dreitägigen Einführungsveranstaltung in einer Jugendherberge teil. Zu seiner Gruppe gehörten neben weiteren 10 Auszubildenden auch deren Betreuer. Nach Kooperationsübungen am Abend hielten sich die Teilnehmer zunächst in ihren Zimmern auf. Zeitweise besuchte der Kläger zusammen mit einem Zimmergenossen erlaubterweise die drei Mädchen im Nachbarzimmer. Dabei wurde Blödsinn gemacht und Musik gehört. Da der Kläger zwei Wodka trank, hatte er anschließend eine Blutalkoholkonzentration von 0,5 Promille.
 
Nachdem der Betreuer den Abend gegen 23 Uhr beendete, kündigte der Kläger gegenüber den Mädchen an, über das Dach in deren benachbartes Zimmer zurückzukommen. Dies hielten die Mädchen aber für einen Scherz und entgegneten, dass er dies sowieso nicht machen würde.
 
Nach einem Kontrollbesuch des Betreuers öffnete der Kläger das Fenster und kletterte auf das Dach, weil er wie angekündigt, über diesen Weg das Mädchenzimmer erklettern wollte. Dabei stürzte aus etwa acht Metern Höhe ab und zog sich Frakturen, u. a. am linken Oberarm, am Becken und an der Wirbelsäule zu. Nach einigen Operationen blieb beim Kläger eine erhebliche Bewegungseinschränkung des linken Armes zurück. 

Berufsgenossenschaft: Sturz gehört zum privaten Bereich 

Die beklagte Berufsgenossenschaft (BG) zahlte dem Kläger zunächst einen Vorschuss in Höhe von 2.600 Euro auf voraussichtlich zu gewährende Geldleistungen. Nach einer weiteren Überprüfung forderte die BG den vorgeschossenen Betrag aber zurück und lehnte die Anerkennung des Arbeitsunfalls ab. Die Begründung: Der Entschluss, durch das Fenster ins benachbarte Mädchenzimmer zu gelangen, steht in keinem Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit des Klägers. Dieser Vorgang wäre daher dem privaten Bereich zuzuordnen. Hinzu komme ein Eigenverschulden des Klägers aufgrund seiner Alkoholisierung. Die gerichtliche Ausgangsinstanz hat den ablehnenden Bescheid der BG aufgehoben und den Sturz als Arbeitsunfall anerkannt.


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LSG Baden-Württemberg: Innerer Zusammenhang mit versicherter Tätigkeit gegeben

Die Berufung der BG gegen die Entscheidung der Ausgangsinstanz blieb erfolglos. Der 9. Senat des LSG Baden-Württemberg hat das Rechtsmittel zurückgewiesen. Demnach stellt das Klettern zu dem Mädchenzimmer über das Dach der Jugendherberge mit dem Wissen, dass der Flur überwacht wurde, einen inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit her. Die weiteren Überlegungen des Senats:
 
  • Sturz als Folge altersbedingter Unreife: Den Sturz sah der Senat als Folge der Unreife des Klägers an.
  • Typischer gruppendynamischer Prozesses: Hinzu kommt ein typischer gruppendynamischer Prozesses, der auch das gemeinsame Verbringen des Abends bei Musik, Gesprächen, „Quatsch machen“ und maßvollem Alkoholgenuss mit ausgelöst wurde. Deshalb erschien es dem Senat nachvollziehbar, dass der jugendliche Kläger den Abend „verlängern“ wollte. Ebenso wäre seine Idee, einen anderen Weg zu dem Mädchenzimmer zu suchen, diesem gruppendynamischen Prozess entsprungen.
  • Kläger in besonderem Zugzwang: Vor allem die Reaktion der Mädchen, die seine Ankündigung, über das Dach zurückkommen zu wollen, der Bemerkung „das machst du sowieso nicht“ beantworteten, hätte den Kläger in Zugzwang gesetzt. Insoweit berücksichtigte der Senat, dass auch eine Betreuerin aus dem Kollegenkreis dem Kläger ein Streben nach „Coolness“ attestierte, mit dem Wunsch „Hahn im Korb“ zu sein. Nach alledem habe sich der Kläger nach der Kontrolle des Betreuers schlafend gestellt und seine Ankündigung wahrgemacht, so der Senat weiter, dem die Idee, ein Treffen mit einer Aufsichtsperson durch den Weg über das Dach zu vermeiden, naheliegend erschien.
  • Selbstüberschätzung jugendtypisch: Auch den Umstand, dass der Kläger seine Fähigkeit überschätzt hatte, werteten die Richter aus Stuttgart als jugendtypisch und zumindest unter den weiteren Umständen als nicht völlig vernunftwidrig.
  • Alkoholkonsum unschädlich: Ebenso konnte der verbotene Alkohol den Versicherungsschutz nicht aufheben. Niemand der vernommenen Zeugen hatte den Kläger als betrunken eingeschätzt. Auch das Krankenhaus hatte ihn als orientiert und nur leicht alkoholisiert wahrgenommen, so dass dem Senat zufolge keine besonderen Auswirkungen einer Alkoholisierung dokumentiert waren. 
Quelle: PM des LSG Baden-Württemberg vom 11.02.2022 zum Urteil vom 14.12.2021 – L 9 U 180/20 


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(ESV/bp)

Programmbereich: Sozialrecht und Sozialversicherung