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Die Verbindung von Magie und Literatur ist im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit sehr präsent (Foto: Prostock-studio – stock.adobe.com)
Nachgefragt bei Prof. Dr. Andreas Hammer, Prof. Dr. Wilhelm Heizmann und Prof. Dr. Norbert Kössinger

„Magie ist, ähnlich wie im Märchen, ein selbstverständlicher Teil der Erzählwelt“

ESV-Redaktion Philologie
29.03.2022
Zaubertränke, Tarnmäntel, magische Ringe, Runen, Talismane sowie Totenzauber, Orakelspruch, und Teufelspakt: dabei denken die meisten wohl zuerst an „Harry Potter“ oder den „Herrn der Ringe“. Im Mittelalter aber waren magische Handlungen allgegenwärtig: es kursierten Anleitungen und Handbücher für Zaubersprüche und die Kirche hatte ihre liebe Not damit, christliche Wunder von schwarzer Magie abzugrenzen.
Den Stellenwert magischer Handlungen innerhalb literarischer Texte des europäischen Mittelalters und der Frühen Neuzeit nimmt nun erstmals ein neuer Sammelband in den Blick. Der Band Magie und Literatur. Erzählkulturelle Funktionalisierung magischer Praktiken in Mittelalter und Früher Neuzeit stellt dabei unterschiedliche kulturelle Kontexte sowie literarische Gattungen vergleichend einander gegenüber. Wir haben mit den Herausgebern Prof. Dr. Andreas Hammer, Prof. Dr. Wilhelm Heizmann und Prof. Dr. Norbert Kössinger gesprochen.

Welche Bedeutung haben Magie und magische Praktiken innerhalb der Kultur des europäischen Mittelalters und der Frühen Neuzeit?


Wilhelm Heizmann: Magie ist zeitlos und universell. In den westlichen Teilen unserer modernen Welt mag sie zwar weitgehend von der Oberfläche unserer Kultur verschwunden sein, doch führt sie auch hier nach wie vor eine gleichsam subkutane Existenz, nicht zuletzt in esoterischen Zirkeln. Schon mit wenigen Schritten zurück in der Zeit tritt Magie als omnipräsentes Phänomen in allen Bereichen der menschlichen Existenz zutage. Den Unwägbarkeiten des Lebens hat der Mensch früherer Epochen im Grunde nur zwei Strategien entgegenzusetzen: den Glauben an höhere Mächte, von denen mittels Gebet und Opfer Hilfe und Schutz erfleht werden kann sowie den Glauben an die Macht der Magie. Während die höheren Mächte und selbst der monotheistische Gott sich aber als durchaus unsichere Kantonisten erweisen, weil deren Wohlwollen letztlich immer ein unberechenbares bleibt, bietet Magie die vermeintliche Sicherheit einer unbedingten und ausnahmslosen Wirksamkeit. Dem Zwang der Magie vermag sich nichts und niemand zu entziehen, nicht Ding und Mensch, nicht einmal Gott und Schicksal. Alles hängt am richtigen Wort, am korrekt durchgeführten Ritual, die unabhängig von moralischen Voraussetzungen erlernt werden können. Das Versagen von Magie beruht allein auf mangelhaftem Wissen. Beide Strategien sind in der Lebenswirklichkeit nie scharf voneinander getrennt, sondern begegnen stets in unterschiedlichen Kontaminationsformen.

In dem Sammelband soll nun die Frage nach der Bedeutung von Magie und magischem Denken für das mittelalterliche Weltverständnis speziell aus einer literaturwissenschaftlichen Perspektive beantwortet werden. Was können uns hierzu literarische Texte sagen, was historische Dokumente nicht viel besser bezeugen können?  

Norbert Kössinger: Zunächst: Historische Forschung ist ja grundsätzlich immer auf medial vermittelte Zeugnisse angewiesen, deren Analyse und Interpretation sie anstrebt, gleich ob als Geschichtswissenschaft, Ethnologie, Kunst- oder Literaturwissenschaft. Die historisch ausgerichtete Erforschung von Magie hat nun eindrucksvoll und an einer umfassenden Materialgrundlage und in breiter Differenzierung gezeigt, welche Vollzugsformen, welche konkreten Ausformungen magischer Praktiken in Mittelalter und Früher Neuzeit zum Tragen kommen. Uns war aufgefallen, dass eine solche genaue und umfassende Untersuchung für das Phänomen Magie aus einer literaturwissenschaftlichen Perspektive noch fehlt. Die Beiträge des Bandes zeigen, dass Magie in literarischen Texten anders verhandelt wird als in historischen Dokumenten: Es geht – natürlich in jeweils ziemlich verschiedenen narrativen Kontexten – darum, dass hier im Rahmen der Fiktion offensichtlich viel stärker Regeln und Verhaltensweisen von Magie erprobt, reflektiert oder sogar an ihre Grenzen geführt werden.

Andreas Hammer: Hinzu kommt: Beschreibungen über die konkrete Praxis und Anwendung von Zauber fehlen in der Regel auch in historischen Berichten, und theologische Schriften werten magische Praktiken von vornherein als Teufelswerk ab. Dagegen können literarische Texte relativ frei und problemlos über solche Dinge sprechen und in die Handlung integrieren. Natürlich können wir damit keine Aussagen zur historischen Praxis treffen – wohl aber zu der Frage, auf welche Weise Magie reflektiert wird; die Erzählungen zeigen dadurch auf, in welchem kulturellen Kontext Zauber eingebettet ist, sie können mit dem Thema spielerisch umgehen und dabei auch durchaus alltagsweltliche Vorstellungen verarbeiten. Literatur kann kulturelle Normen und Verhaltensweisen reflektieren, ihre Bedingungen hinterfragen und auf die Probe stellen. Damit bieten Erzählungen einen ganz eigenen Zugang zur Magie: als Reflexionsmedium, das kulturelle Praktiken wie Zauber und Magie stets aufs Neue verhandelt.

Auszug aus: „Magie und Literatur. Erzählkulturelle Funktionalisierung magischer Praktiken in Mittelalter und Früher Neuzeit“ 29.03.2022
Von höfischen Damen, edlen Rittern und magischen Feen
Feen gelten als übernatürliche Wesen, die dem Menschen in zahlreichen Märchen, Geschichten und Sagen helfend zur Seite stehen. In den altfranzösischen Heldenliedern des 12. und 13. Jahrhunderts tauchen sie erstmals als „fai“, „fae“ oder „fay“ auf. Diese schönen und mächtigen Figuren treten häufig als Beschützer oder Berater der ritterlichen Helden auf und machen ihnen wertvolle Geschenke wie magische Gegenstände. Auch im Artusroman des Mittelalters spielen sie eine Rolle. Die berühmte Fee Morgan le Fay beispielsweise ist hier die Schwester von König Artus. mehr …

Der Sammelband ist transdisziplinär und komparatistisch ausgelegt. Wie spiegelt sich dies in den Beiträgen wider?

Norbert Kössinger: Der transdisziplinäre und komparatistische Ansatz des Bandes wird schon aus seinen Beiträgen ersichtlich: Er umfasst neben einer Einleitung insgesamt zwölf Beiträge von ExpertInnen aus verschiedenen, vor allem literaturwissenschaftlichen Disziplinen – von der Runologie, der Altgermanistik und Altnordistik, Anglistik und Romanistik, der Mittellatinistik – und nicht zu vergessen der Finnougristik. Das komparatistische Moment des Bandes kommt insbesondere dort zur Geltung, wo sich Beiträge aus verschiedenen Disziplinen einem Text widmen, den es zum Beispiel sowohl in altfranzösischer als auch in deutschsprachiger Version gibt. Zu nennen ist hier etwa der Zauberer Maugis, der Gegenstand eines romanistischen und eines germanistischen Beitrags ist.

Höfischer Roman, altnordische Sagas, alt- und mittelirische Erzählungen, mittelhochdeutsche Heldenepik – die Palette der besprochenen literarischen Gattungen ist groß. Gibt es dabei Unterschiede in der Darstellung und Bewertung von Magie?

Andreas Hammer: Es zeigen sich einerseits viele Gemeinsamkeiten: Dass Magie als Wissenschaft aufgefasst werden kann, die erlernbar ist, beispielsweise taucht in altnordischen, altfranzösischen, mhd. oder lateinischen Texten genauso auf wie in den frühen Faustbüchern und in gewisser Weise auch in den finnischen Beispielen. Für den mitteleuropäischen Erzählraum begegnet dabei immer wieder Toledo als die Stadt, in der man besonders gut Zauberei studieren kann. Auf der anderen Seite gibt es natürlich auch große Unterschiede: Während die einen Texte Magie auf diese Weise verwissenschaftlichen und damit erklärbarer machen wollen, ist sie in anderen unhinterfragt vorhanden. Das macht sie einerseits unkalkulierbar – und mit diesen Risiken spielen die Erzählungen natürlich auch – andererseits aber ist Magie, ähnlich wie im Märchen, beinahe ein selbstverständlicher Teil der Erzählwelt, mit dem man dann aber jederzeit kalkulieren muss.

Wir haben es anfangs erwähnt: Bücher bzw. Verfilmungen wie „Harry Potter“ oder „Der Herr der Ringe“ bewegen seit Generationen Leserinnen und Leser mit ihren Anderswelten. Warum sprechen magische Welten uns auch heute noch sehr an, haben Sie dafür eine Erklärung?

Andreas Hammer: Magie verleiht die Fähigkeit, etwas eigentlich Unmögliches zu schaffen, den Lauf der Dinge zu ändern, die feste Ordnung der Naturgesetze auf den Kopf zu stellen. Schon das ist faszinierend. Aber Harry Potter oder auch all die Kinderbücher wie „Die Schule der magischen Tiere“ zeigen noch etwas anderes: Zauber und Magie kann man nicht einfach anwenden, es gehört mehr dazu: Man muss eine Art Begabung haben, und/oder noch dazu viel lernen – wer sie anwendet, ist etwas Besonderes oder gehört zumindest zu einer besonderen Gruppe. Zauber und Magie sind exklusive Fähigkeiten, die die meisten anderen nicht vermögen und diejenigen, die sie beherrschen, selbst zu einer exklusiven Gruppe macht. Und gerade weil man sie eigentlich nur aus Geschichten kennt, waren sie seit jeher faszinierend und werden es auch weiterhin sein.

Lieber Herr Hammer, lieber Herr Heizmann, lieber Herr Kössinger, wir danken Ihnen sehr für das interessante Interview!

Die Herausgeber
Norbert Kössinger, Professor für Ältere deutsche Literatur und Kultur an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, forscht zu medien- und überlieferungsgeschichtlichen Fragestellungen sowie zum Verhältnis von Religion und Literatur.
Wilhelm Heizmann studierte Deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters, Alte Geschichte, Mittlere Geschichte, Völkerkunde, Nordische Philologie und Germanische Altertumskunde an den Universitäten München, Wien, Oxford und Kopenhagen. Er lehrt als Professor am Institut für Nordische Philologie der Universität München, ist Honorarprofessor der Universität Göttingen und Korrespondierendes Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften. Zu seinen Forschungs- und Arbeitsgebieten gehören Altnordische Mythologie und Religion, Altnordische Literatur, Runologie, medizinisch-botanische Fachliteratur, spätantike und mittelalterliche Bildüberlieferung, Brüder-Grimm.
Andreas Hammer studierte Germanistik und Geographie in Augsburg und München und ist Hochschuldozent für Deutsche Literatur und Sprache des Mittelalters an der Universität Konstanz. Seine Forschungsgebiete liegen in der mittelalterlichen Hagiographie, dem Verhältnis von Mythos und Erzählung und der Medien- und Überlieferungsgeschichte des Mittelalters.

Magie und Literatur. Erzählkulturelle Funktionalisierung magischer Praktiken in Mittelalter und Früher Neuzeit
Herausgegeben von: Prof. Dr. Andreas Hammer, Prof. Dr. Wilhelm Heizmann, Prof. Dr. Norbert Kössinger
 
Magie und magisches Denken besitzen für mittelalterliche Gesellschaften einen herausragenden Stellenwert, wie die historische Forschung eindrücklich herausgearbeitet hat. Der vorliegende Band nähert sich dem Faszinationsbereich aus einer dezidiert literaturwissenschaftlichen Perspektive und nimmt das Phänomen in Fallstudien vom Mittelalter bis zur Renaissance in den Blick. Methodisch grundlegender Ausgangspunkt ist der Gedanke, dass literarische Texte einen spezifischen Zugang zu Zauber und Magie bieten, da sie magische Praktiken jenseits ihres realen Geltungsanspruches verhandeln können. Dieser Ansatz ermöglicht eine vergleichende Perspektive auf unterschiedliche kulturelle und narrative Kontexte mit ihren je eigenen Genres, medialen Vermittlungsformen und differierenden Erzählkonzeptionen. Die Beiträge aus Germanistik, Skandinavistik, Romanistik, Anglistik, Keltologie und Finnougristik reflektieren das Verhältnis von Magie und Literatur in den je spezifischen Erzählkonstellationen, kulturellen Hintergründen und narrativen Figurationen.

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik