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Prof. Mayer-Ahuja zu Solidarität in der Krise (Foto: Mayer-Ahuja)
Nachgefragt bei: Prof. Dr. Nicole Mayer-Ahuja, Universität Göttingen

Mayer-Ahuja: „Die Pandemie wirft ein grelles Licht auf gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen“

ESV-Redaktion Arbeitsschutz
21.01.2021
Ob und inwiefern die Corona-Pandemie eine Chance auf eine neue Politik der Arbeit darstellt, erläutert Professorin Nicole Mayer-Ahuja im Interview mit der ESV-Redaktion Arbeitsschutz.

Um Zusammenhalt in der Pandemie und den Lockdowns zu wahren, wird ‚Solidarität‘ gefordert. Ein großes ‚Wir‘, das viele Gegensätze in allen Schichten einschließt – kann das funktionieren?

„Solidarität“ ist nicht dasselbe wie die Forderung nach einem großen „Wir“, nach allgemeinem Zusammenrücken in Zeiten der Pandemie. Zum einen beruht Solidarität, im Sinne der ArbeiterInnen-Bewegung, darauf, dass man gemeinsame Interessen hat und das auch so sieht. Konkret geht es dabei um Solidarität zwischen Menschen, deren Existenz vom Verkauf der eigenen Arbeitskraft abhängt. In der Pandemie lässt sich dreierlei lernen: Solidarität ist keineswegs selbstverständlich, wenn sich manche ins Homeoffice zurückziehen können, während andere den „Laden am Laufen“ halten müssen, fallen Interessen objektiv auseinander. Solidarität hat Grenzen: Das Interesse von Unternehmen, möglichst hohe Gewinne zu erzielen, gefährdet (nicht nur in der Pandemie) oftmals die Gesundheit von Beschäftigten, wie etwa der Skandal um die Fleischwirtschaft zeigte. Solidarität lebt nicht von moralischen Appellen – sie braucht materielle Grundlagen. In der aktuellen Krise ist das ein Problem. So wird etwa die Solidarität zwischen Jung und Alt berufen – doch nach Jahrzehnten, in denen etwa die Teilprivatisierung der Rentenversicherung damit begründet wurde, dass die ältere Generation auf Kosten der jüngeren lebe, schlägt auch jetzt Generationenegoismus durch. Ein weiteres Beispiel: Kurzarbeitergeld ist ein klassisches Instrument solidarischer Politik. Kriselnde Unternehmen erhalten Mittel der Arbeitslosenversicherung, um Beschäftigung zu sichern – ermöglicht wird dies durch Versicherungsbeiträge von anderen Unternehmen und Arbeitenden. In der Corona-Pandemie verschärft Kurzarbeit jedoch eher die Spaltung zwischen Arbeitenden: In großen Unternehmen mit starker Interessenvertretung wird Kurzarbeitergeld teilweise aufgestockt – während Beschäftigte im Niedriglohnsektor (wo inzwischen jede/r Fünfte arbeitet) es sich nicht leisten können, in Kurzarbeit zu gehen, weil man von 70/77 Prozent bzw. 80/87 Prozent eines Armutslohns nicht leben kann. Solidarität wird in Frage gestellt, weil die Politik der Prekarisierung seit den 1980er Jahren die Unterschiede zwischen Arbeitenden in Bezug auf Einkommen, rechtliche Absicherung und kollektive Interessenvertretung massiv vergrößert hat.    

Die Krise macht sichtbarer, wie wichtig gerade Beschäftigtengruppen sind, die unter prekären Arbeitsbedingungen arbeiten.

Stimmt, als „systemrelevant“ gelten (anders als 2008) nicht in erster Linie Banken und Finanzmärkte, sondern diejenigen, die für die Pflege, Versorgung oder Erziehung von Menschen verantwortlich sind, darunter sehr viele Frauen. Es ist klar geworden, dass das Wirtschaftssystem auf eine gelingende Reproduktion von Arbeitskraft und gesellschaftlichen Strukturen angewiesen ist. Die „Aufwertung“ dieser Jobs ist überfällig und wird seit Beginn der Pandemie lautstark gefordert. Bisher ist aber wenig passiert. Speziell in der Pflege herrscht Personalmangel, weil nicht genug Menschen bereit sind, dort (dauerhaft) zu arbeiten. Immerhin wurden Krankenhäuser unter immer größeren wirtschaftlichen Druck gesetzt, durch Fallpauschalen angemessene Pflege erschwert und der Arbeitsdruck massiv erhöht. Klatschen vom Balkon ist schön. Notwendig sind hingegen eine bessere Bezahlung, angemessene Personalausstattung und die Sicherstellung von humaner Krankenversorgung. Solange Krankenhäuser in erster Linie Profit machen sollen, ist das nicht möglich. Vielmehr wird sich die Erfahrung von Bergamo wiederholen: Die Ökonomisierung des Gesundheitswesens tötet.

Was bedeutet die aktuelle Pandemie für den Arbeitsschutz? Im Fall der Fleischindustrie wird ja deutlich, dass Politik zu häufig Schlupflöcher für Unternehmen lässt, Arbeitsschutz und faire Arbeitsbedingungen auszuhebeln.

Einerseits wird Arbeitsschutz derzeit großgeschrieben. Unternehmen stellen Hygienekonzepte auf, kaufen Schutzausrüstungen usw. – und viele Betriebsräte berichten von seltener Einigkeit in diesen Fragen. Andererseits wird deren Kontrolle ausgehebelt – etwa wenn Unternehmen Beschäftigte per Verordnung ins „Homeoffice“ schicken, ohne den Betriebsrat zu konsultieren, ohne ergonomische Arbeitsplätze oder auch nur eine realistische Dokumentation von Arbeitszeiten sicherzustellen. Man arbeitet am Küchentisch, solange das mit den Kindern geht, notfalls auch nachts und am Wochenende. Hinzu kommen Fälle, in denen die Pandemie ein grelles Licht auf gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen wirft – etwa in der Fleischindustrie, wo Beschäftigte aus Südost- und Osteuropa oft bei Subunternehmen tätig sind, die mit dem Job auch einen Schlafplatz in menschenunwürdigen Sammelunterkünften vermitteln. Hier sehen wir beides: den politischen Willen, regulierend einzugreifen – und die Macht der Fleischlobby, die gerade durchsetzt, dass Schlupflöcher (etwa in Form von Leiharbeit) erhalten bleiben.

Was könnte demgegenüber solidarische Politik sein? Was könnte sie fordern?

Eine solidarische Politik der Arbeit muss die riesigen Unterschiede zwischen den Lebens- und Arbeitsbedingungen von Beschäftigten zur Kenntnis nehmen und politische Reformprojekte entwickeln, die unterschiedliche Gruppen von Arbeitenden zusammenbringen. Ein solches Projekt könnte etwa die Einführung einer Erwerbstätigenversicherung sein, in die auch (Allein-)Selbständige und Beamte einzahlen. Minijobs, die stets als erstes gestrichen werden, sobald der wirtschaftliche Druck zunimmt, gehören abgeschafft – wer abhängig beschäftigt ist, muss sozialversichert sein. In der Pandemie ist deutlich geworden, dass die sozialen Grundlagen des Wirtschaftens alles andere als selbstverständlich sind. Prekäre Arbeit, Niedriglohn und Armut sind auch ein Nährboden für Corona – immerhin sind Arme besonders häufig von Vorerkrankungen betroffen und sterben viel früher. Wenn die Pandemie eines lehrt, dann dies: Wenn das Gesundheitswesen und andere öffentliche Dienste weiter ausgeblutet werden, um Renditen zu erhöhen, und immer mehr Beschäftigte in die Situation geraten, von heute auf morgen ihre Existenzgrundlage verlieren zu können, zahlen wir einen hohen Preis. Es braucht eine neue Politik der Arbeit, die dem entgegensteuert.

Vielen Dank!

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