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Kinder können sich für Ritter und Burgfräulein begeistern – warum nicht auch für deren Sprache und Literatur? (Foto: Viacheslav Iakobchuk – fotolia.com)
Auszug aus: „Freundschaftsschrift für Hans-Joachim Solms“

Mittelalter macht Schule

ESV-Redaktion Philologie
16.04.2020
Das Mittelalter war bislang im Schulunterricht wenig präsent. Dabei ist diese Epoche für Schülerinnen und Schüler von großem Interesse. Mittelalterliche Lebenswelten wie die Artusromane, die Liebe zwischen Ritter und Dame im Minnesang oder auch die Heldengeschichten aus dem Nibelungenlied: Sie alle können die wesentlichen Ziele eines modernen differenzierten, fächerübergreifenden und integrativen Deutschunterrichts einlösen.
Detlef Goller beschreibt in seinem Beitrag „Lâ mich ruowen, sîn ist zît! Überlegungen zum Einsatz von Sprachgeschichte in der Primarstufe mit einem Entwurf aus der Schulpraxis“ das Konzept von „Mittelalter macht Schule (MimaSch)“, das an der Universität Bamberg entsteht.

Lesen Sie hier einen Auszug aus dem Beitrag, der in der neu erschienenen „Freundschaftsschrift für Hans-Joachim Solms“ abgedruckt ist:

„Nach acht Monaten harter Schreibarbeit, Tag und Nacht, wendet sich eine Feder beinahe flehentlich an ihren Schreiber und bittet ihn um Ruhe: La mich ruowē ſin iſt zit (WG 12262; alle Textzitate aus dem „Welschen Gast“ sind der Transkription und Übersetzung von Holger Runow und Eva Willms im Kommentarband zur Faksimile-Ausgabe der Gothaer Handschrift entnommen, zitiert als WG). Diese Verse aus dem „Welschen Gast“ des Thomasin von Zerklaere werden oft für die Datierungsfrage und vor allem die Dauer der Abfassung des im Mittelalter sehr häufig überlieferten Textes herangezogen. Wenn zu den hier angesprochenen acht manoden (WG 12317) Schreibarbeit tatsächlich noch zwene manode (WG 12321) hinzugekommen sind, wie es der Schreiber, der für die Originalhandschrift wohl auch der Autor sein dürfte, seiner Feder in diesem Gespräch verspricht, dann bedurfte es ungefähr zehn Monate, um diese gut 14000 Verse aufs Pergament zu bringen. Mit dem Verweis auf den Winter als Zeitpunkt der Klage und der zuvor im Text gemachten Angabe, dass [e]z ſint wol acht und zwenzic iar / daz wirz verlourn·daz iſt war (WG 11756 f.), lässt sich die Entstehungszeit des Textes auf den Zeitraum von Sommer 1215 bis Winter 1216 datieren. (...)

Sprachgeschichte – (k)ein Grund zur Klage?

Hier wird ein Vorschlag präsentiert, wie und zu welchem Nutzen diese auch literaturgeschichtlich bedeutsame Textstelle im Grundschulunterricht eingesetzt werden kann. Dabei liegt der Fokus der folgenden Ausführungen auf dem mindestens für die Primarstufe ruhenden Gebiet der Sprachgeschichte. Dieser Befund scheint zumindest auch für die den Vorgaben der Rahmenrichtlinien und Bildungsstandards durchaus entgegengesetzten Schulpraxis aller weiterführenden Schulformen zu gelten, konstatiert doch z. B. Katharina Böhnert aufgrund ihrer Befragung von Deutschlehrkräften und Schülerinnen und Schülern eine auf diesem Feld „defizitäre[...] Unterrichtspraxis“. Darüber könnte tatsächlich zu klagen sein, doch bereits im „Welschen Gast“ wird dem Klagen Einhalt geboten: La din chlage· chlag niht so vil (WG 12310). Tatsächlich mehren sich in der Vergangenheit Publikationen zum Thema Sprachgeschichte in der Schule und unlängst hat Böhnert für das Gymnasium ihre im Untertitel ihrer Dissertation selbst gestellte Frage profund beantwortet, „[w]as Sprachgeschichte für den gymnasialen Deutschunterricht leisten kann“.

Mittelalter macht Schule

In diesem Beitrag wird ein inzwischen über mehrere Jahre hinweg immer weiter entwickelter Unterrichtsentwurf vorgestellt, der ursprünglich in einen größeren Unterrichtskontext eingebettet war. Im Rahmen einer mindestens einmal jährlich an Grundschulen durchgeführten Projektwoche zum Thema ‚Mittelalterliche Lebenswelten‘ erwerben die Schülerinnen und Schüler einer dritten und/oder vierten Jahrgangsstufe an den ersten vier Tagen Wissen zu den Themengebieten ‚Handwerk‘, ‚Heldengeschichten‘, ‚Ritter und Burgfräulein‘ sowie ‚Sprachdetektive‘, worin auch der hier vorgestellte Entwurf integriert ist. Gleichzeitig bereiten sie im Laufe der Woche eine Abschlussveranstaltung vor, auf der sie dann zum Abschluss der Projektwoche ihr erworbenes Wissen einem möglichst großen Publikum auch über die unmittelbare Schule hinaus präsentieren.

Beteiligt sind an einer solchen Projektwoche jeweils etwa 20 Studierende, was für ein Schulkollegium im regulären Schulbetrieb einen kaum oder nur mit sehr hohem Einsatz zu leistenden Aufwand bedeutet. Um eine schulische Umsetzung der immer wieder erfolgreich evaluierten Unterrichtsentwürfe nicht gänzlich unmöglich zu machen, können einzelne Themenbereiche aus dem größeren Kontext der Projektwoche herausgelöst und im kompetenzorientierten Deutschunterricht der Grundschule auch von einer einzelnen Lehrkraft durchgeführt werden. Dies gilt auch für den hier vorgestellten Entwurf einer Doppelstunde für eine dritte oder vierte Jahrgangsstufe, der in variabler Form im Gesamtkontext von Projektwochen bzw. Projekttagen immer wieder eingesetzt wurde. Gleichzeitig wurde dieser für verschiedene Unterrichtsversuche auch als neunzigminütige separate Unterrichtseinheit ohne weitere Vor- oder Nacharbeit mehrfach durchgeführt sowie in mehreren Lehrerfortbildungen vorgestellt und gemeinsam mit den Lehrkräften diskutiert.

Der nun folgende Abriss des Unterrichts einschließlich der Unterrichtsmaterialien versteht sich als Vorschlag für eine Doppelstunde, der sich in dieser Form in der Praxis mehrfach bewährt hat. Je nach konkreter Klassensituation und auch Präferenzen der jeweiligen Lehrkraft sind sowohl methodische als auch inhaltliche Abweichungen davon möglich, wenn nicht sogar unumgänglich. Für den tatsächlichen Einsatz des hier vorgestellten Entwurfes kann gesagt werden, dass dieser auch ohne jedwede konkrete Vor- oder Nachbereitung als singuläre Einheit zum Thema ‚Sprachgeschichte‘ erfolgen kann, auch wenn vor allem Anschlussprojekte wünschenswert wären und von den Schülerinnen und Schülern bei einem solchen Vorgehen auch immer wieder nachgefragt wurden.

Lehrerbildung anhand der (Wieder-)Belebung des Mittelalters

Eingebettet ist der hier vorgestellte Unterrichtsentwurf sowie die damit häufig durchgeführte Projektwoche in die Aktivitäten des Projektes „MimaSch“ (Mittelalter macht Schule; www.mimasch.de) des Lehrstuhles für deutsche Philologie des Mittelalters an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Grundgedanke dieses bereits in mehreren Artikeln beschriebenen Projektes ist zum einen die (Wieder-)Belebung der mittelalterlichen Sprache und Literatur für einen kompetenzorientierten Deutschunterricht und zum anderen die Verknüpfung der ersten Phase der Lehrerbildung mit der späteren Berufspraxis. Ansatzpunkt sind dabei die Studierenden der verschiedenen Lehrämter im Fach Deutsch, die in verschiedenen Seminaren dazu angeleitet werden, eigene Unterrichtsentwürfe zu diesem Thema einschließlich der dazugehörigen Unterrichtsmaterialien zu entwickeln, in kritischer gegenseitiger Reflexion zu überarbeiten und dann auch in der Schulpraxis durchzuführen. Hinter diesem Programm steht die bereits von Beginn des Projektes und inzwischen von einer Erhebung empirisch belegte Auffassung, „dass Sprachgeschichte [bzw. der Einsatz mittelalterlicher Literatur] nur dann nachhaltigen Eingang in den Unterricht finden wird, wenn sie die Lehrkräfte als gewinnbringend für weiter gefasste Lernziele erachten.“ Daraus sind inzwischen über 100 tatsächlich realisierte Schulprojekte entstanden: über 50 größere Sequenzen im Umfang von über zehn Schulstunden und mindestens genauso viele Umsetzungen von kleineren Einheiten wie Einzel- oder Doppelstunden in Schulpraktika oder bei anderen Gelegenheiten.

Unterrichtsentwurf

Die Grobstruktur des Unterrichts unterteilt sich nach einer kurzen Einstiegsphase in einen Haupterarbeitungsblock von etwa 45 Minuten, in dem eine mittelhochdeutsche Textvorlage in die Sprache der Gegenwart übersetzt werden soll, eine etwa fünfzehnminütige Vertiefung und Festigung des Inhalts der übersetzten Textstelle sowie eine abschließenden Transferaufgabe, in der ein fiktiver mittelhochdeutscher Dialog in die korrekte Reihenfolge gebracht und dann paarweise vor der Klasse vorgetragen werden soll. Als grobes Unterrichtsziel steht der Erstkontakt der Schülerinnen und Schüler mit der mittelhochdeutschen Sprachstufe verbunden mit dem Kennenlernen und Vertiefen von Schreib- und Aussprachekonventionen sowie lautlichen Entwicklungen vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen im Fokus der Doppelstunde.

Der Einstieg in die Stunde dauert maximal fünf Minuten und erfolgt über das Hörverstehen. Die Lehrkraft trägt die sogenannte Programmstrophe der Nibelungenliedhandschrift C auswendig vor und fragt nach ersten Höreindrücken der Schülerinnen und Schüler:

Uns ist in alten mæren wunders vil geseit / von helden lobebæren, von grôzer arebeit, / von fröuden, hôchgezîten, von weinen und von klagen, / von küener recken strîten muget ir nu wunder hoeren sagen

Nachdem in diesem Schritt wahrscheinlich bereits einige Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum Neuhochdeutschen auf der Laut- und Wortebene angesprochen werden, soll in einem zweiten Schritt die Strophe noch einmal laut vorgetragen werden, wobei die Lehrkraft darauf achtet, die im folgenden Arbeitsblatt auftauchenden Aussprachekonventionen besonders betont auszusprechen. Ob in dieser Phase bereits das Wort Mittelhochdeutsch fällt, ist ebenso zweitrangig wie die genaue zeitliche Verortung dieser Sprachstufe, da beides dann im nächsten Unterrichtsabschnitt auf dem ersten Arbeitsblatt thematisiert wird. In vielen Unterrichtsversuchen hat sich die Bezeichnung Sprache der Ritter und Burgfräulein als für die Schülerinnen und Schüler greifbare Annäherung an den Fachterminus ‚Mittelhochdeutsch‘ bewährt.“

Wenn wir Sie neugierig gemacht haben, lesen Sie den kompletten Beitrag im Buch „In vriuntschft als es was gedaht“. Freundschaftsschrift für Hans-Joachim Solms.
 
'In vriuntschaft als es was gedâht'

Herausgegeben von Dr. Jessica Ammer, Prof. Dr. Gerhard Meiser und Dr. Heike Link

Vom Minnesang bis zu Fragen der Genderlinguistik spannt sich der Bogen der in diesem Band versammelten Beiträge, vom Prediger Salomo bis Georg Büchner.
Sie alle eint jedoch der philologische Blickwinkel, die Freude an Texten – aber nicht ohne Blick auch auf ihre literarische und kulturgeschichtliche Aussage – sowie die Freude an der Geschichte der Sprache, die selbstverständlich ebenfalls die im Band auch kontrovers diskutierten aktuellen Entwicklungen einschließt.
Wie erklärt sich die unglaubliche Karriere, die das Wort „Schutz“ vom Mittelalter bis in unsere offenbar mehr und mehr verunsicherte Zeit genommen hat? Ist es ökonomisch vertretbar, auf Deutsch als Sprache der Wirtschaft zu verzichten? Wie gelangt eine armenische Textvorlage in eine Lübecker Chronik?

In ihrer Gesamtheit wollen die Beiträge dieser Freundschaftsschrift die weitgespannten Interessen des Hallenser Altgermanisten Hans-Joachim Solms widerspiegeln, wie er sie in Forschung und Lehre mustergültig verwirklicht.
(ESV/Ln)

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik