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Kant: Prägte das jüngere Naturrecht (Foto: Andreas Toerl, CC 2.5)
Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte

Naturrechtliches Denken gibt es seit der Antike

ESV-Redaktion Philologie
12.02.2018
Was ist der Unterschied zwischen Naturrecht und vom Menschen gesetztem Recht? Von Aristoteles bis Kant wurde diese Frage diskutiert. Das Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte gibt darüber Auskunft.
Schon Aristoteles unterschied zwischen einem natürlichen Recht, dem unabhängig von menschlicher Anordnung Gültigkeit zukommt, und einem inhaltlich ursprünglich indifferenten Recht, dessen Inhalt durch menschliche Anordnung, also durch hoheitliche Gesetzgebung festgelegt werden muss.

Von „Naturrecht“ als Grundsatz einer allgemeinen Ordnung, die unabhängig von menschlicher Zustimmung und von vom Menschen gesetztem (positivem) Recht gilt, hat vermutlich jeder schon einmal gehört. Was damit gemeint ist und und wie sich die Auffassung von „Naturrecht“ im Laufe der Jahrunderte änderte, lesen Sie im Weiteren in einem Auszug aus Jens Eisfelds Beitrag „Naturrecht“, der 2016 in der 24. Lieferung des „Handwörterbuchs zur deutschen Rechtsgeschichte“ erschienen ist:

Göttliche versus menschliche Vernunft

Generalisierende Aussagen über „das“ Naturrecht sind nur sehr eingeschränkt möglich, da sich die Geschichte des naturrechtlichen Denkens von der Antike bis in das 20. Jahrhundert hinein erstreckt und das Naturrecht in diesem Zeitraum in zahlreichen Varianten nachweisbar ist, die sich sowohl in philosophisch-systematischer Hinsicht als auch im Hinblick auf ihre jeweiligen politischen Funktionen mitunter grundlegend voneinander unterscheiden. Als Naturrecht werden meist rechtliche, also das menschliche Zusammenleben regelnde Normen bezeichnet, die überörtliche und überzeitliche Gültigkeit beanspruchen und die daher von einem hoheitlich gesetzten, positiven Recht zu unterscheiden sind.

Der vor- oder überpositive Charakter des Naturrechts hat zur Folge, dass seine Grundsätze nicht durch eine bloß sinnliche Anschauung des positiv Vorgegebenen erkannt werden, sondern durch Berufung auf eine dem empirisch Wahrnehmbaren übergeordnete normative Instanz, nämlich die göttliche oder die menschliche Vernunft. Aufgrund des mit normativer Gültigkeit stets verbundenen Wahrheitsanspruchs besteht eine weitere Eigenschaft naturrechtlichen Denkens in der Überzeugung, das Naturrecht sei wissenschaftlich erkennbar. Das Naturrecht ist somit, historisch betrachtet, eine Form der rechtswissenschaftlichen Theoriebildung und damit nicht nur ein Bestandteil der Rechtsphilosophie, sondern auch der Rechtswissenschaft.

In der Geschichte des Naturrechts lassen sich v. a. drei Epochen unterscheiden: eine klassische Periode, die von der antiken Stoa bis zur mittelalterlichen Spätscholastik reicht, eine frühneuzeitliche Periode, die das säkularisierte Naturrecht bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts umfasst, und schließlich ein jüngeres Naturrecht, das maßgeblich auf der Philosophie Kants beruht und von ca. 1790–1850 reicht.¶

Im Mittelalter bilden Sein und Sollen eine Einheit

Die klassische Periode des Naturrechts ist von der Vorstellung einer göttlichen Weltordnung, einem die empirische Wirklichkeit lenkenden, göttlich-natürlichen Gesetz geprägt, das die Stoa als Logos und die Scholastik als lex aeterna bezeichnet. Das Göttliche macht hier den Ursprung aller empirischen Gegenstände aus; es stellt ihren Wesenskern dar und bestimmt ihr Zusammenwirken in einer göttlichen Schöpfungsordnung. Der Begriff „Natur“ bezeichnet in diesem Zusammenhang einen von der göttlichen Vernunft bzw. vom göttlichen Gesetz durchwalteten Kosmos. Die Erfahrungswelt und das Göttliche sind ineinander verwoben; Sein und Sollen bilden eine Einheit.¶

Nachgefragt bei: Prof. Dr. Susanne Lepsius, Prof. Dr. Friedrich Vollhardt und Dr. Oliver Bach 13.02.2018
Lepsius: „Heute ist naturrechtliches Denken für Juristinnen von vornherein suspekt“
Gibt es Grundsätze einer allgemeinen Ordnung, die unabhängig von einem von Menschen gesetzten Recht gelten? Gibt es ein Recht, das in der ‚Natur der Sache‘ oder in einer ‚naturgegebenen Gerechtigkeit‘ schon angelegt ist? Ein Interview der ESV-Redaktion dazu mit Susanne Lepsius, Friedrich Vollhardt und Oliver Bach. mehr …

Stärkung der menschlichen Vernunft

Das säkularisierte Naturrecht der frühen Neuzeit unterscheidet sich vom christlichen Naturrechts des Mittelalters grundsätzlich darin, dass es als Erkenntnisstifterin des Naturrechts zunehmend die menschliche Vernunft an die Stelle der göttlichen setzt, obwohl Gott auch weiterhin als gültigkeitstheoretischer Urgrund des Naturrechts anerkannt bleibt. Die Ablösung Gottes als rechtserzeugende Instanz zeigt sich vor allem darin, dass die Lehre von der Teilhabe der menschlichen Vernunft an der lex aeterna aufgegeben wird. Der Mensch ist jetzt nicht mehr in die vom göttlichen (natürlichen) Gesetz durchwaltete Schöpfungsordnung eingebunden, er ist nicht mehr Bestandteil einer objektiven, also in der Erfahrungswelt vorgegebenen Teleologie, die von der lex aeterna bestimmt wird.

Bei der Erkenntnis des Naturrechts ist der Mensch nun auf sich allein gestellt; es kommt insofern zu einer Individualisierung des menschlichen Vernunftwesens. Das neuzeitliche Naturrecht ist damit nicht mehr Teil des göttlichen Rechts, sondern ein Produkt menschlicher Vernunft. Dementsprechend wird jetzt zwischen der „Natur“ des Menschen – mithin der Art und Weise seiner praktischen Erkenntnisstiftung – und der historisch vorgegebenen Wirklichkeit getrennt, oder anders ausgedrückt: Es kommt zu einer Trennung zwischen Sollen und Sein.
Die politische Bedeutung des älteren deutschen Naturrechts im 17. und 18. Jahrhundert besteht vor allem darin, dass es die unumschränkte Machtfülle des Fürsten und seiner Bürokratie sowie seine merkantilistische Reformpolitik zu legitimieren suchte. 

Unabhängigkeit der menschlichen Vernunft von jeder göttlichen Gesetzgebung

Von einschneidender Bedeutung für die Geschichte des Naturrechts ist die kritische Philosophie Kants, die von Beginn an insbesondere auf eine grundlegende Reform der praktischen Philosophie und des Naturrechts ausgerichtet ist. So strebt Kant eine konsequente Trennung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie an und damit auch eine strikte Differenzierung zwischen dem, was ist oder geschieht, und dem, was sein oder geschehen soll.

Diese Trennung zwischen Sollen und Sein führt zur Unabhängigkeit der menschlichen Vernunft von jeder göttlichen Gesetzgebung, so dass Kant den gültigkeitstheoretischen Grund des Naturrechts nicht mehr in Gott, sondern in der praktischen Vernunft des Menschen festmacht. Das göttliche Gesetz kann sich ja nur in der Erfahrungswelt offenbaren, die der Mensch jedoch – nach Kant – gerade nicht als das Produkt einer göttlichen oder weltschöpferischen Vernunft zu erkennen vermag. Die empirische Wirklichkeit ist somit für Kant ein kontingentes Faktum, ein bloßes Sein; ihr fehlt die epistemische Gültigkeit, die nur einer vernünftigen Erkenntnisstiftung zukommen kann.

Die Trennung zwischen Sollen und Sein führt dazu, dass dem menschlichen Handeln nur dann ethischer Wert zukommt, wenn es einem apriorischen Gesetz entspricht, das, als ein kategorischer Imperativ, die Handlung schlechthin gebietet. Dieses apriorische Gesetz ist, abgesehen von der Tugendlehre, das Naturrecht, dessen Grundsätze Kant in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre“ entwickelt. Die verbreitete Auffassung, Kant habe das Naturrecht abgeschafft oder abschaffen wollen, ist daher historisch unzutreffend.

Das jüngere Naturrecht gilt als liberal

Die politische Bedeutung des jüngeren Naturrechts folgt aus seinen erkenntnistheoretischen Grundlagen in der Philosophie Kants: Indem Kant den Menschen als praktischen Erkenntnisstifter der Erfahrungswelt und dem positiven Recht gegenüber für autonom erklärt, kann er das menschliche Individuum zum zentralen Schutzobjekt des Rechts erklären. Die Vertreter des jüngeren Naturrechts entwickelten im Anschluss an Kant aus einem fundamentalen „Recht der Persönlichkeit“ weitere natürliche Rechtsprinzipien in Form von Ur- oder Menschenrechten. Die Einsetzung des Individuums als zentrales Schutzobjekt des Rechts und – darauf aufbauend – die Begründung unveräußerlicher Menschenrechte rechtfertigen es, das jüngere Naturrecht als liberal einzuordnen.

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Die 27. Lieferung des HRG erscheint in Kürze und kann hier bestellt werden. Digital ist das HRG als Datenbank abrufbar: www.hrgdigital.de

 


(ESV/lp)

Programmbereich: Rechtsgeschichte