Sie haben folgende Möglichkeiten:
  1. zum Login.
  2. zur Navigation.
  3. zum Inhalt der Seite.

Unsere Experten für spanische Sprachwissenschaft: Prof. Dr. Wolf Dietrich und Prof. Dr. Volker Noll (Fotos: privat)
Nachgefragt bei: Prof. Dr. Volker Noll und Prof. em. Dr. Wolf Dietrich

Noll/Dietrich: „Sprachwandel ist letztlich nicht berechenbar.“

ESV-Redaktion Philologie
27.09.2019
Spanisch als Weltsprache mit vielen verschiedenen Einflüssen entwickelt sich unterschiedlich. Was dies für die Zukunft der Sprache erahnen lässt, lesen Sie neben einigen persönlichen Einblicken in ihre Forschung im Interview mit Herrn Prof. Dr. Volker Noll und Herrn Prof. em. Dr. Wolf Dietrich.
Sehr geehrter Herr Noll, sehr geehrter Herr Dietrich, in den nun 20 Jahren, in denen Ihre „Einführung in die spanische Sprachwissenschaft“ erscheint, hat sich das Spanische natürlich verändert. Welche Veränderungen können für die Sprache vorausgesagt werden? Wie sieht das Spanische in 50 Jahren aus?

Volker Noll / Wolf Dietrich: Sprachwandel ist letztlich nicht berechenbar. Da Sprache von menschlicher Interaktion abhängt, bestehen manchmal sogar gegensätzliche Tendenzen zur gleichen Zeit, und 50 Jahre sind außerhalb des Bereichs der Entlehnungen ein sehr kurzer Zeitraum. Man kann auf der Basis der Entwicklungen in den letzten 100 Jahren jedoch z.B. davon ausgehen, dass sich der yeísmo (calle /ʎ/ > /j/) in Spanien und der šeísmo (calle [ʒ] > [ʃ]) in Argentinien weiter ausbreiten.

Hinter den Kulissen eines Lebenswerks

Woher kommen die Motivation und der Inhalt für bereits sieben Auflagen?

Volker Noll / Wolf Dietrich: Es ist schon bei der ersten Auflage eine verlockende Herausforderung gewesen, das, was wir zwei Autoren für das Notwendige und Unabdingbare des sprachwissenschaftlichen Teils des Hispanistikstudiums erachtet haben, so auszuwählen und im Umfang so zu begrenzen, dass der Inhalt für eine einführende Lehrveranstaltung und nachbereitende, auch studienbegleitende Lektüre angemessen ist und in die vom Verlag vorgegebene Seitenzahl passt. Zu dieser grundsätzlichen Motivation kamen dann die Bedürfnisse der alle paar Jahre notwendigen Neuauflagen und der damit verbundenen Aktualisierungen, Ergänzungen und Korrekturen hinzu. Dies alles unter bewusster Entscheidung für ein Instrument der Lehre und dem Hintanstellen neuer Forschung. Grundvoraussetzung für die Erstellung und jahrelange Betreuung einer „Einführung“ ist die Beherrschung des Stoffes, d.h. eine sehr breite Auffassung von Hispanistik und Romanistik, im synchronen wie im diachronen linguistischen Bereich, aber auch in der Kulturgeschichte.

Wir glauben insgesamt, dass der Erfolg des Werkes über sieben Auflagen hin uns recht gibt in der Überzeugung, dass wir in all der vergangenen Zeit nichts Grundsätzliches an der Konzeption unseres Buches haben ändern müssen. Der Inhalt entspricht dem, was ständig in Lehrveranstaltungen gelehrt und wir natürlich auch in wissenschaftlichen Publikationen vertreten haben.

Kurioses aus der Lexik: Entlehnungen aus den amerindischen Sprachen 19.09.2019
„Ich hätte gerne den Drehtabak da und eine Tafel Schokolade“ – Amerindische Lehnwörter im Deutschen
Es vergeht kaum ein Tag, an dem man diese Wörter nicht liest oder sagt: Schokolade, Kakao und, vor allem seit den aktuellen Vorkommnissen in der Karibik und Nordamerika, Hurricane. Doch welche Sprachen sind es, denen wir diese und viele weitere Wörter zu verdanken haben? mehr …

Persönliche Lieblinge

Welches sprachliche Phänomen hat Sie bei Ihrer Forschung besonders interessiert und fasziniert?

Wolf Dietrich: Mich hat eigentlich schon immer Grammatik besonders interessiert. Seit meiner Dissertation hat mich das Verbalsystem der romanischen Sprachen fasziniert, die Suche nach einer adäquaten Beschreibung der Tempora, von Aspektfunktionen und damit zusammenhängend dann auch der Modi. Theoretische Konstrukte dazu an der Sprachwirklichkeit zu überprüfen und von der Sprachwirklichkeit zurück zu einer verbesserten Abstraktion, einer Theorie, das hat mich begeistert. Überhöht und ergänzt werden konnte das Ganze dann in einer historischen Perspektive, der in der Romanistik immer so relativ gut möglichen Frage nach der Entwicklung von Tempus, Aspekt und Modus vom Lateinischen zu den einzelnen romanischen Sprachen.

Seit fünfzig Jahren interessieren mich aber auch bestimmte indigene südamerikanische Sprachen, zu denen ich durch glückliche Umstände früh Zugang bekam. Einerseits sind dabei die zum Teil ganz anderen grammatischen und syntaktischen Strukturen faszinierend, die Aufgabe, ihr Funktionieren richtig zu erkennen und zu beschreiben. Natürlich ist es ein weites Feld, sich darüber zu streiten, was in diesem Zusammenhang „richtig“ und „falsch“ oder „weniger adäquat“ ist. Das gilt ja in der Romanistik auch. Andererseits finde ich es atemberaubend zu sehen, wie man in diesen über Jahrtausende schriftlosen Sprachen historische Dimensionen entwickeln kann, indem man die heute existierenden Sprachen einer Sprachfamilie systematisch miteinander vergleicht, regelmäßige Lautbeziehungen feststellt und alte grammatische Gemeinsamkeiten entweder beobachtet oder nicht beobachtet und daraus Schlüsse über die innere Klassifikation dieser Sprachfamilie zieht.

Volker Noll: Meine Aufmerksamkeit gilt seit Langem in besonderer Weise den regionalen, vor allem phonetischen Ausprägungen der iberoromanischen Sprachen in Übersee. Sehr interessant ist dabei nicht nur die Möglichkeit der gebietsspezifischen Zuordnung, sondern auch die Beobachtung der Wandelbarkeit von Sprache, die Existenz gebietsferner Parallelen und die historische Dimension, in die sich vieles einpassen lässt. So beobachtet man in Argentinien bei näherer Betrachtung eine von innen nach außen gestaffelte Abfolge phonetischer Innovation.

Die Herausbildung von Sprachstrukturen ist ein zweiter Schwerpunkt meiner Interessen, die Interpretation von Belegen, die z.T. zu einer Chronologie führen kann, sowie die sich inhaltlich ergänzende Zusammenführung von Synchronie und Diachronie bei Erklärungsansätzen, so z.B. bei der Herausbildung des amerikanischen Spanisch im Kontrast zu eher eindimensionalen Ansätzen wie dem Andalucismo. In Spanien hat mich immer schon das Aufeinandertreffen der romanischen und der arabischen Welt fasziniert, die ich beispielsweise in der Artikelproblematik mit al- verfolgt habe.

Eine langwierige Diskussion: Die Meinung der Autoren

Die Plurizentrik bzw. Monozentrik des Spanischen findet in Ihrem Werk keine Erwähnung. Wie stehen Sie zu dieser Diskussion?

Volker Noll / Wolf Dietrich: Das Buch beschreibt das Spanische und seine Varietäten mit dem zentralen Bezugspunkt der kastilischen Norm. Selbstverständlich ist Spanisch vor allem durch seine Verbreitung in Hispanoamerika de facto eine plurizentrische Sprache mit gewissen regionalen Standards. Ein Aspekt wäre z.B. im Zusammenhang mit dem voseo der allgemeine Gebrauch des Pronomens vos für in Argentinien, selbst in neueren Ausgaben der Bibel. Trotzdem gibt es kein „argentinisches Spanisch“, auch nicht inoffiziell. Die Plurizentrik ist gerade im Hinblick auf Hispanoamerika komplex, da gegenwärtige Landesbezüge sprachhistorisch keine Rolle spielten. Im Rahmen eines Lehrbuchs, das das amerikanische Spanisch bereits mit einem Schwerpunkt auf der Herausbildung beschreibt, war der Ausbau der speziellen Problematik nicht vorrangig geboten.

Die Gegenwart des Spanischen

Welchen sprachlichen Einflüssen ist das Spanische heutzutage ausgesetzt?

Volker Noll / Wolf Dietrich: Hier geht es vor allen um Einflüsse im Wortschatz, wobei sich bei den neueren Technologien manchmal eine geteilte Orientierung zeigt, nämlich für Spanien ggf. französische (romanische) Vorlagen, für Hispanoamerika englische (ordenador vs. computadora). Das Englische spielt auch eine wichtige Rolle in der Sprache der Hispanics in den USA. Hier haben sich abgesehen vom Wortschatz z.T. sogar morphosyntaktische Strukturen gewandelt (veo [a] mis padres; la muchacha cantando anstatt que canta/está cantando; estoy bailando en la fiesta futurisch gemeint).

Im Gegensatz zu den Verhältnissen vor z.B. 50 Jahren hat die Real Academia als Institution zur Sprachlenkung an Einfluss verloren. Für Hispanoamerika bedeutet dies, dass man sich trotz der Existenz eigener assoziierter Akademien nicht nur im alltäglichen Sprachgebrauch unabhängiger artikuliert. Dieser Umstand führt zu einer Zunahme der Plurizentrik. Trotzdem wird es auch heute in den meisten Fällen schwerfallen, einen geschriebenen Text ohne Lokalkolorit (also ohne regionales Vokabular, vos etc.) unvermittelt Spanien oder Hispanoamerika zuzuordnen.

Die Autoren
Wolf Dietrich ist emeritierter Professor für Romanische Philologie an der Universität Münster. Seine Forschungsschwerpunkte sind die synchron beschreibende Sprachwissenschaft sowie die Bereiche Sprachkontakt und Sprachgeschichte.
Volker Noll ist Professor für Romanische Sprachwissenschaft und ebenfalls an der Universität Münster tätig. Seine Schwerpunkte sind unter anderen das amerikanische Spanisch und sprachhistorische Fragestellungen.

Einführung in die spanische Sprachwissenschaft

von Wolf Dietrich und Volker Noll


Diese Einführung ermöglicht einen sicheren und gründlichen Einstieg in den sprachwissenschaftlichen Teil des Spanischstudiums, der sich sowohl für die Anforderungen des Bachelor-Studiums als auch für weitergehende Ansprüche in den Masterstudiengängen eignet.

Das Buch bietet einen Überblick über das Spanische als romanische Sprache und seine Verbreitung in der Welt, es erörtert Grundbegriffe der allgemeinen Sprachwissenschaft, verfolgt zentrale Fragestellungen in ihrer Geschichte und stellt die wichtigsten sprachlichen Phänomene des Spanischen von heute vor.

Weitere Themengebiete sind die Entwicklung des Spanischen in Europa und die Herausbildung des amerikanischen Spanisch. Zu allen Bereichen werden bibliographische Hinweise sowie Übungsanregungen zur selbständigen Bearbeitung geboten, die eine gezielte Vertiefung des Stoffes ermöglichen. Für die Neuauflage wurde der Band aktualisiert sowie inhaltlich erweitert.

Programmbereich: Romanistik