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Szenen aus Boccaccios „Decameron“ © Bibliothèque nationale de France – Giovanni Boccaccio, Le livre appellé Decameron, übers. v. Laurent de Premierfait, Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms. 5070, f. 168r
Auszug aus: Praktiken des Rechts in Boccaccios Decameron

Novellistisches Erzählen als Alternative zu juristischen Erkenntniswegen?

ESV-Redaktion Philologie
24.06.2020
Ist Recht eigentlich gerecht? Stehen am Ende juristischer Praktiken und Verfahren immer Wahrheit und Erkenntnis? Können rechtliche Normen auf alles eine Antwort geben? Und welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang literarische Ausdrucksformen?
Diese weitreichende Problematik ist Gegenstand der Habilitationsschrift „Praktiken des Rechts in Boccaccios Decameron“ von Pia Claudia Doering. Anhand ausgewählter Novellen des „Decameron“ geht Doering diesen großen Fragen auf den Grund. Dabei begibt sie sich unter anderem ins spätmittelalterliche Florenz oder folgt dem jungen Liebespaar Simona und Pasquino in den Garten mit dem Salbeistrauch, in dem beide auf wundersame Art und Weise den Tod finden (IV, 7). Lesen Sie im Folgenden einen Auszug aus dem Kapitel II.2 Die Infragestellung des Inquisitionsprinzips, das zum Hauptkapitel II Techt und Wahrheit gehört:


Auf die Frage, warum ein Mensch sterben müsse, in dessen Garten Salbei wächst, antwortet die Novelle mit dem Bild der im Erdreich, an den Wurzeln des Salbeis verborgenen Kröte. Die Annahme der Umstehenden, der Atem der Kröte habe die Pflanze vergiftet, operiert zwar mit dem Kausalitätsprinzip, die letztgültige Ursache des Todes ist damit aber nicht offengelegt. Für die Giftigkeit von Kröten lassen sich in der mittelalterlichen enzyklopädischen Literatur naturkundliche Belegstellen finden. Thomas von Cantimpré behauptet im Kapitel „De vermibus“ seines Liber de natura rerum (ca. 1225/26–1241), Kröten hätten eine Vorliebe für Salbei und würden dessen Wurzeln vergiften. Eine solch eindeutige Erklärung für den Tod des Liebespaares gibt die Novelle jedoch nicht. Die Annahme der Schaulustigen kann aus naturkundlichen Schriften hergeleitet, sie kann aber auch gänzlich anderen Ursprungs sein, gehört doch die Kröte zu den ältesten Symbolgestalten und spielt im volkstümlichen Aberglauben eine bedeutende Rolle. Nach Leviticus 11,29 f. gilt sie als Sinnbild der Unreinheit; sie ist Symbol der Sünde und des Todes; ihrer (überschätzten) Giftigkeit verdankt sie die Zuordnung zu negativem Hexenzauber. In einer päpstlichen Bulle Gregors IX. (1233) wird beschrieben, dass Ketzer bei gewissen Ritualen eine Kröte oder einen Frosch von enormer Größe aufs Maul oder Hinterteil küssten. Wie die Anwesenden die Rolle der Kröte deuten – als naturkundlich-rational erklärbaren Vorgang, als göttliche Bestrafung der Wollust oder als Einwirken der Mächte des Bösen – bleibt offen. Wie Panfilo in Novelle IV,6 keine eindeutige Erklärung für die Träume der Liebenden gibt, so verzichtet auch Emilia auf eine letztgültige Deutung der Kröte.

Rechtsgeschichte meets Mediävistik 26.03.2020
Das Engagement des Dichters für das Recht ist unverkennbar
Wenn man von Hartmann von Aue und seinen Werken hört, dann denkt man zumeist an die Ritter der Tafelrunde, an Iwein und Erec, an Ritter auf Aventiure, die wegen der Vernachlässigung von gesellschaftlichen Pflichten in Konflikte mit ihren Ehefrauen und ihrem Umfeld geraten. Dass man seine Werke aber auch als zeitgeschichtliches Dokument lesen kann, in dem man der Rechtspraxis seiner Zeit auf die Spur kommen kann, das zeigt der folgende Artikel von Professorin Ruth Schmidt-Wiegand aus dem „Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte“, den wir hier für Sie bereitgestellt haben: mehr …

Juristische und medizinische Verfahren gelangen da an ihre Grenzen, wo Wahrheitserkenntnis bzw. die Bestimmung einer letzten Ursache dem Menschen nicht möglich ist. Die Literatur dagegen ist fähig, in einem einzigen Bild, dem der Kröte am Fuße des Salbeibusches, unterschiedliche Deutungsmuster von Welt zur Anschauung zu bringen und zugleich das Unfassbare, das in der Gewalt des Todes liegt, wach zu halten.

In einem engen Zusammenspiel beleuchten die Novellen IV,6 und IV,7 Schwachstellen des als fortschrittlich erachteten Untersuchungsgrundsatzes. Sie weisen auf die Gefahr des Machtmissbrauchs durch Amtsträger, auf die auch im Inquisitionsverfahren nach wie vor relevante gesellschaftliche Stellung der Beteiligten sowie auf die Grenzen menschlicher Wahrheitserkenntnis hin. Auf Eindeutigkeit gerichtete medizinische und juristische Methoden werden dabei mit einem literarischen Blick konfrontiert, der auch eine nicht aufzulösende Uneindeutigkeit und Unerklärbarkeit zulässt.


Mehr über das Verhältnis von Recht und Literatur erfahren Sie in „Praktiken des Rechts in Boccaccios Decameron.

Zur Autorin
Pia Claudia Doering hat Romanistik, Öffentliches Recht und Philosophie studiert. Die vorliegende Studie entstand als Habilitationsschrift am Göttinger Graduiertendkolleg "Expertenkulturen des 12. bis 18. Jahrhunderts" sowie am Münsteraner Exzellenzcluster „Religion und Politik“.

Praktiken des Rechts in Boccaccios Decameron
von Dr. Pia Claudia Doering

Giovanni Boccaccio entwirft im „Decameron“ ein vielfältiges Panorama städtischen Lebens im spätmittelalterlichen Italien. Die einhundert Novellen nehmen nicht nur Kaufleute und Handwerker, Priester und Ärzte in den Blick, sondern auch Juristen und deren wachsenden Einfluss in Gesellschaft, Religion und Politik.
Boccaccio, der sechs Jahre lang Jura studiert hat, erweist sich als scharfsichtiger Beobachter des gelehrten Rechts und der Rechtspraxis. Seine Novellen, die von Ehebruch, Betrug und Mord handeln, reflektieren Methoden juristischer Wahrheits- und Urteilsfindung. Sie konstatieren einen tiefgreifenden Mentalitätswandel, der wegweisende rechtliche Neuerungen nach sich zieht, darunter die Einführung des Inquisitionsprinzips, die Verdrängung privater Rache und die Entstehung des öffentlichen Strafrechts.
Pia Claudia Doering zeigt anhand einschlägiger Novellen, dass Boccaccio gerade diese Phänomene rechtlicher Innovation thematisiert. In der narrativen Ausgestaltung von Fallgeschichten wird das Recht auf sein Potential geprüft, Gerechtigkeit zu stiften.


(ESV/LS)

Programmbereich: Romanistik